Читать книгу Im Palast der sieben Sünden - Susanne Scheibler - Страница 9

5. Kapitel

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Es war eine verhangene Nacht. Wolkenfetzen trieben über den Himmel und gaben ab und und zu eine schmale Mondsichel frei, die schief und bleich am Firmament hing.

Am Vortag hatte es geregnet, die Luft roch nach Erde und nassem Gras, und der Boden war ein wenig glitschig.

Eine erste wolfsgraue Dämmerung zeigte sich im Osten, als Boris mit seinen Sekundanten und dem Arzt eintraf. Leonid Soklow war bereits da. In seiner Begleitung befand sich ein dürres, schwarz gekleidetes Männchen, das sich als Doktor Prelubow vorstellte. Jeder der vier Sekundanten hatte Fackeln mitgebracht.

»Gehen wir hinein«, sagte Soklow und öffnete das schmiedeeiserne Tor. »Auf der Fontanka-Seite ist ein freier Platz. Dort kann die Chose stattfinden.«

Er gab sich betont lässig, legte seinem Sekundanten Prinz Katjubin, einem gelbgesichtigen schwarzhaarigen Mann mit scharfer Hakennase, den Arm um die Schultern und lachte übertrieben laut über eine Bemerkung von ihm.

Die Glocken der Erlöserkirche verkündeten die sechste Morgenstunde, als die Sekundanten den Duellplatz, der zwischen der maisgelben Rückfront des Sommerpalastes und einem bezaubernd verspielten Pavillon gelegen war, mit ihren Schritten abmaßen.

Der weitläufige Park lag still da. Ab und zu schimmerte das Weiß einer Statue durch das noch frühlingsfrische Laub der Hecken und Bäume.

Boris Petrowitsch war wortkarg und bleich. Er war keiner, der Händel Süchte, und hatte sich noch nie duelliert, im Gegensatz zu Soklow, dem man etliche Zweikämpfe nachsagte, bei denen er entweder unbedeutend oder gar nicht verletzt worden war. Allerdings hatte er auch noch keinen Duellgegner erschossen.

Trotzdem war Boris sich darüber klar, daß er sterben konnte. Soklow würde nicht in die Luft schießen oder ihm nur einen geringfügigen Kratzer beibringen. Er hatte ihn, Boris, bewußt provoziert, um sich mit ihm zu duellieren, und als er seine Forderung aussprach, hatte kalter, tödlicher Haß in den Augen des Fürsten gelegen.

Prinz Katjubin hatte die Duellpistolen mitgebracht. Er klappte die lederne, mit schweren Metallbeschlägen versehen Schatulle auf. Im allmählich heller werdenden Morgenlicht erkannte Boris zwei langläufige Pistolen, auf weinroten Samt gebettet.

Leichter Nebel stand über dem Wasser der Fontanka, da und dort erhoben sich die ersten zaghaften Vogelstimmen, übertönt vom Geschrei der Krähen, die stets abends die letzten und morgens die ersten waren. Als Boris in den Himmel blickte, sah er die Vögel in Schwärmen zum Newakai hinüberflattern.

Jurij Lasarow und Pjotr Martaschenko führten Soklow und Boris auf den freien Platz. Noch einmal zählen sie mit gewissenhaften Schritten die Distanz zwischen ihnen ab. Im Osten kündigte ein rotgoldener Streifen den nahen Sonnenaufgang an.

Jurij drückte dem Freund die Pistole in die Finger. Boris spürte das kalte Metall und schauderte unwillkürlich zusammen.

Wie es Vorschrift war, unternahmen Jurij Lasarow und Prinz Katjubin einen letzten Versöhnungsversuch, aber sowohl Soklow als auch Boris lehnten ihn ab.

Swetlana, dachte Boris, während er die Waffe entsicherte. Ich wünsche mir so sehr, mit dir zu leben. Gott im Himmel, laß mich nicht sterben! Auf einmal empfand er alles um sich herum mit einer sonderbaren Intensität – die Vogelstimmen, das Rauschen des Wassers, den roten Himmel.

Die Sonne stieg höher, und dann schoben sich ihre ersten Strahlen über den Horizont wie glühende Speere und ließen die goldene Nadel auf dem Kirchturm der Peter-und-Paul-Festung aufblitzen.

»Sind Sie soweit?« fragte Martaschenko, und Boris nickte stumm.

»Ja«, sagte Soklow laut und wog die Waffe in seiner Hand.

Katjubin begann zu zählen. »Eins ... zwei ... drei ...«

Fast gleichzeitig peitschten die beiden Schüsse auf. Boris hatte nur einen Sekundenbruchteil später abgedrückt. Er sah, daß Soklow unverletzt war. Auch er selbst war nicht getroffen worden.

Die beiden Duellanten senkten die Waffen. »Wiederholen wir’s«, sagte Soklow. Seine Stimme klang so unbewegt, als gäbe er einem Diener Anweisung, sein Pferd in den Stall zu führen. »Wir schießen, bis einer von uns am Boden liegt.«

Die Waffen wurden neu geladen. Überlaut erschien Boris das Knacken der Abzugshähne. Noch immer schimmerte die goldene Nadel der Festung im Sonnenlicht. Er sah es, als er einmal flüchtig zur Seite blickte.

Wieder zählte Katjubin. Dieses Mal war Boris ein wenig schneller. Sein Schuß traf Soklow in den linken Oberarm. Sie hatten nur zehn Schritte Distanz, und Boris konnte sehen, wie der Fürst zischend den Atem einsog, während er abdrückte. Die Kugel riß Boris die Gurgel auf und zerschmetterte ihm den Unterkiefer.

Beinahe erstaunt registrierte er, daß er kaum einen Schmerz verspürte. Es war, als hätte ihn lediglich etwas Brennheißes gestreift. Er wollte tief und zitternd Atem holen, doch im selben Augenblick brach ein Blutstrom aus der Schußwunde. Boris fiel nach vorn in das nasse Gras. Luft, dachte er, Luft ... Seine Hände krallten sich ins Erdreich, er bäumte sich noch einmal hoch, während seine Füße unkontrolliert zuckten. Er hatte die Augen weit aufgerissen, und die Sonne erschien ihm wie ein glühender roter Feuerball, der näher und näher kam, riesig groß wurde und sich auf ihn senkte.

Dann zerplatzte das Feuer in einem unbeschreiblichen Funkenregen. Schwärze umfing Boris, erstickte ihn und löschte ihn aus.

Swetlana schrie, als ihr Bruder ihr und ihren Eltern die Nachricht von Boris’ Tod überbracht. »Nein!« schrie sie. Und immer wieder: »Nein! Nein! Nein!«

Sie verstummte erst, als Jurij sie in die Arme nahm und ihren Kopf gegen seine Brust drückte. Er spürte, daß sie am ganzen Körper zitterte, aber sie konnte nicht weinen. Dafür war ihr Entsetzen zu groß.

Boris war tot! Dieser liebe, strahlende Junge, der so gern gelebt hatte! Und er war den sinnlosesten Tod gestorben, den man sich denken konnte. »Warum?« fragte Swetlana nach einer ganzen Weile, in der Jurij sie fest an sich gepreßt hielt. »Warum hat er sich mit Soklow duelliert?«

Ihr Bruder zögerte. Konnte er ihr die Wahrheit sagen? Andererseits würde Swetlana sie früher oder später doch erfahren, denn der Streit im ›Europa‹ hatte Zeugen gehabt. Die Angelegenheit würde also in allen Petersburger Salons die Runde machen.

»Es war deinetwegen«, antwortete Jurij darum stockend. »Soklow, Gott strafe ihn dafür, hat etwas sehr Übles von dir behauptet, woraufhin Boris ihn geohrfeigt hat. Danach war es ganz selbstverständlich, daß der Fürst ihn gefordert hat.«

Sie wich zurück und starrte ihn voller Panik an. »Was hat Soklow gesagt?«

Wieder wollte er nicht mit der Sprache heraus, doch sein Vater verlangte nun ebenfalls die ganze Wahrheit zu wissen.

Graf Lasarow war tief schockiert über Boris’ Tod, aber mindestens genauso über die Tatsache, daß seine Tochter der Anlaß für dieses unglückselige Duell war.

»Du erzählst uns jetzt auf der Stelle, was es im ›Europa‹ gegeben hat, Jurij«, befahl Pawel Konstantinowitsch und schob seine schluchzende Frau, die sich an seinen Arm gehängt hatte, mit einer brüsken Bewegung von sich.

Sein Sohn senkte den Kopf. »Ich mag es nicht aussprechen. Es ist so widerwärtig – und natürlich von Anfang bis Ende erlogen. Soklow hat ... nun ja, er hat angedeutet, daß Swetlana irgendeine Affäre hätte, von der Boris nichts wüßte. Spätestens in der Hochzeitsnacht würde er es merken.« Er schluckte. »Wenn Boris ihn nicht geohrfeigt hätte, hätte ich es getan. Er ist mir nur zuvorgekommen. Aber ich werde diese Schweinerei trotzdem nicht auf meiner Schwester sitzenlassen. Dieses Mal werde ich den Fürsten fordern.«

Wera Karlowna schrie auf. »Nein, Jurij, um aller Heiligen willen, tu das nicht! Willst du auch sterben?« Sie sank auf ein Sofa. »Dieser Skandal ... O Gott, ich überlebe das nicht!«

»Halten Sie den Mund!« fuhr ihr Mann sie an. »Ihr Gezeter ändert auch nichts mehr an den schrecklichen Ereignissen.« Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

Soklow war wie er Mitglied des Reichsrates, und Graf Lasarow hatte insgeheim immer ein wenig bedauert, daß Swetlana nicht dem Fürsten, sondern Boris Barschewskij den Vorzug gegeben hatte.

Pawel Konstantinowitsch zog seinen seidenen Morgenmantel glatt, denn die Hiobsnachricht hatte ihn und seine Frau aus dem Bett geholt. »Ich werde zu Leonid Iwanowitsch fahren und ihn um rückhaltlose Aufklärung bitten. Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie er solche Dinge von meiner Tochter behaupten kann.«

»Weil er ein dreckiger Lügner ist!« fuhr Jurij auf. »Und so wahr ich Swetlanas Bruder und Boris’ Freund bin, werde ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Sie, Vater, werden mich nicht daran hindern!«

Er wollte zur Tür stürzen, doch Swetlanas Aufschrei hielt ihn an der Schwelle zurück, »Bleib, Jurij! Ist es nicht genug, daß Boris erschossen worden ist?« Sie lief auf ihn zu und umklammerte ihn. Sie war kreideweiß, und in ihren Augen stand eine herzzerreißende Angst. »Bitte, Jurij, hör auf mich! Ich will nicht, daß du dich mit ihm schießt. Er ist es nicht wert, und ich ... bin es auch nicht. Niemand ist es wert, daß jemand sein Leben aufs Spiel setzt, nur um eine Beleidigung zu ahnden. Ohnehin wird sie dadurch nicht rückgängig gemacht.«

Graf Lasarow hatte nach dem Diener geläutet. Als er eintrat, befahl er ihm, den Wagen vorfahren zu lassen. Dann wandte er sich Jurij zu.

»Du bleibst hier, bis ich von Leonid Iwanowitsch zurück bin. Kümmere dich um deine Schwester. Du siehst doch, daß sie völlig außer sich ist. Aber sie hat recht: Niemandem ist damit gedient, daß du dich auch noch duellierst. Ich denke, ich kann erreichen, daß der Fürst seine Behauptungen mit dem Ausdruck größten Bedauerns zurücknimmt. Damit ist der Sache Genüge getan.«

Jurij biß die Zähne zusammen. »Nur zu, fahren Sie! Es kommt auf eines heraus, ob ich Soklow heute vormittag oder erst am Abend meine Sekundanten schicke. Aber ich werde ihn fordern, und ich werde besser zielen als Boris.«

Graf Lasarow kehrte eine gute Stunde später nach Hause zurück. Schon in der Halle schrie er nach Swetlana, und seine Frau kam aus dem Salon gestürzt.

»Sie hat sich ein wenig niedergelegt. Ich bitte Sie, Pawel Konstantinowitsch, lassen Sie das arme Kind in Frieden. Es grämt sich so sehr.«

Wieder schob er sie wie eine lästige Katze beiseite und stürmte die Treppe hinauf. Swetlana lag auf dem Bett, als er die Tür ihres Zimmers aufriß. Xenia war bei ihr.

Gleich nachdem ihr Vater das Haus verlassen hatte, hatte Swetlana einen Brief an den Großfürsten geschrieben, ihm die Ereignisse berichtet und hinzugefügt:

Ich bitte Dich, hilf mir. Du bist der einzige, der es kann. Soklow muß uns beobachtet haben. Auf jeden Fall hat er die Wahrheit gesagt und wird sie vor meinem Vater wiederholen. Ich weiß nicht, was werden soll, und noch weniger, wie ich mit der Erkenntnis jemals fertig werden kann, an Boris Petrowitschs Tod schuld zu sein.

Xenia hatte den Brief einem Droschkenkutscher mitgegeben, der ihn sogleich dem Großfürsten Georg Alexandrowitsch bringen sollte.

»Aber du darfst ihn Seiner Kaiserlichen Hoheit nur persönlich aushändigen. Onkelchen«, hatte sie dem bärtigen Mann eingeschärft und ihm einen Goldrubel in die Hand gedrückt. »Sag den Palastwachen, du hättest eine wichtige Nachricht vom ... vom Marquis de Montebello, dem französischen Botschafter, die ganz allein für den Großfürsten bestimmt ist.«

Seitdem hofften sie und Swetlana, daß Georg den Brief erhalten hatte und etwas unternahm. Was, das wußten die beiden Mädchen in ihrer Angst freilich auch nicht.

Graf Lasarow starrte auf seine älteste Tochter hinunter die sich bei seinem Eintritt halb aufgerichtet hatte. Er rang nach Atem. »Den Namen ...«, stieß er hervor. »Ich will den Namen wissen! Wer ist der Kerl, dessen Hure du geworden bist? Fürst Soklow wollte ihn nicht preisgeben, auch wenn er mir sein Ehrenwort verpfändet hat, daß jede seiner Behauptungen wahr ist. Aber du wirst mir den Namen nennen, und wenn ich ihn aus dir herausprügeln muß. Los, mach dein verdammtes Maul auf!«

Swetlana schwieg. Sie legte nur schützend die Hände über den Kopf, als ihr Vater mit erhobenen Fäusten auf sie losging und auf sie einzuschlagen begann.

Wera Karlowna, gefolgt von Jurij, tauchte in der Tür auf. »Um Gottes willen, Pawel Konstantinowitsch, was tun Sie! Wollen Sie sie umbringen?«

»Ja!« keuchte er. »Sie hat es verdient, das dreckige Miststück. O Gott, ich kann keinem Menschen in St. Petersburg mehr in die Augen sehen.«

Dabei traktierte er Swetlana weiterhin mit Schlägen, wohin er traf. »Wer ist es, mit dem du im Bett gelegen hast? Los, sag’s, oder ich drehe dir den Hals um!«

Sie wehrte sich nicht, denn sie wünschte sich in diesem Augenblick tatsächlich nichts sehnlicher, als zu sterben. Ihr Vater riß ihr die Hände vom Gesicht. »Den Namen!« brüllte er wieder. »Spuck ihn endlich aus, du Dreckstück!«

»Es ist der Großfürst Georg Alexandrowitsch«, sagte Xenia in diesem Augenblick, und ihr Vater ließ von Swetlana ab und fuhr zu ihr herum.

»Woher willst du das wissen?«

»Weil sie es mir gesagt hat. Also hören Sie auf, sie zu prügeln, Papa. Es könnte sein, daß Seine Kaiserliche Hoheit Ihnen das sehr übel ankreidet. Immerhin ist er der Bruder des Zaren und vielleicht eines Tages auch noch sein Nachfolger auf dem Thron. Wollen Sie in Ungnade fallen?«

Graf Lasarow starrte erst Xenia, dann Swetlana an, bevor er zu einem Sessel am Fenster wankte und sich schwer hineinfallen ließ. »Ist das wahr?« fragte er tonlos, und Swetlana begann zu weinen.

»Ja.«

»Dann bist du schuld an Boris’ Tod«, sagte Jurij dumpf. »Dann ist er ganz umsonst gestorben. O mein Gott ...« Seine Stimme erstickte, und er drehte sich auf dem Absatz um und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Dem Kutscher war es tatsächlich gelungen, bis zu Georg vorzudringen und ihm Swetlanas Brief auszuhändigen. Aber der Großfürst wußte zu diesem Zeitpunkt bereits, was geschehen war. Einer seiner Adjutanten hatte im Hotel ›Europa‹ diniert und von einem Streit zwischen Boris Barschewskij und Leonid Soklow erfahren. Auch der Ausgang des Duells hatte sich rasch herumgesprochen.

Georg war tief betroffen über Boris’ Tod. Gleichzeitig war ihm allerdings klar, daß zunächst die Lebenden – in diesem Fall Swetlana – vor den Folgen eines Skandals geschützt werden mußten.

Georg hatte die Flucht nach vorn angetreten und sogleich seinen Bruder aufgesucht, der sich wegen der bevorstehenden Festlichkeiten zu seinem Geburtstag am 6. Mai in St. Petersburg aufhielt.

Rückhaltlos hatte Georg sich nun dem Zaren anvertraut. Nikolaus II. war, seiner Art entsprechend, anfangs ziemlich schockiert gewesen, und seine Hauptsorge hatte sich darum gedreht, wie er diese delikate Angelegenheit ›seiner lieben Alix‹ beibringen sollte. »Das ist mir egal!« hatte Georg ziemlich grob erwidert. »Ich liebe Swetlana Pawlowna, und ich werde nicht zulassen, daß ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird. Ich wünsche nichts sehnlicher, als mich vor aller Welt zu ihr bekennen zu dürfen, und ich werde es tun, sobald Alix den Thronfolger geboren hat.«

Das Argument Liebe hatte den Zaren weicher gestimmt. Im Grunde seines Herzens war er romantisch veranlagt, und da er seine Frau ebenfalls zärtlich liebte, verstand er seinen jüngeren Bruder und wünschte sehr, ihm helfen zu können.

Nikolaus setzte sich in den Sessel hinter seinem von Schriftstücken und Familienbildern übersäten Schreibtisch. Nachdenklich strich er sich über seinen sorgfältig gestutzten Backenbart, während er eine Miniatur seiner Frau betrachtete, die in einem brillantenbesetzten Rahmen neben einer kostbaren chinesischen Vase stand.

»Gutheißen kann ich die Affäre mit der Lasarowa natürlich nicht«, sagte er und richtete seinen Blick wieder auf Georg. »Schließlich ist sie ... war sie verlobt. Was hast du dir bloß dabei gedacht, dich zwischen sie und Rittmeister Barschewskij zu drängen?«

»Ich habe nicht gedacht«, erwiderte Georg mit einem halben Lächeln. »Ich liebe ...« Er stockte und preßte ein Tuch gegen seinen Mund, weil er husten mußte.

Sofort war Nikolaus voller Sorge. »Was ist? Hast du etwa wieder mit ... mit dieser alten Geschichte zu kämpfen?«

Georg antwortete nicht sofort. Er wartete, bis der Husten abklang, und steckte das Taschentuch hastig in die Tasche seines Uniformrocks. »Ich hab’ mich nur verschluckt«, erwiderte er leichthin. »Sieh mich nicht so an, Nicky, ich bin ganz in Ordnung. Kein Fieber, keine nächtlichen Schweißausbrüche – nichts. Alles, was mir Sorge macht, ist Swetlanas Schicksal.«

»Du bist also entschlossen, mit ihr zusammenzubleiben?«

Der Großfürst nickte. Ein warmes Leuchten stand in seinen blauen Augen, die denen seines Bruders so ähnlich waren. »Ja, solange es das Schicksal uns erlaubt.«

Der Zar seufzte. »Dann werde ich mir überlegen müssen, wie man einen Skandal verhindert. Es wird nicht leicht sein, denn immerhin hat ein Duell stattgefunden, bei dem Rittmeister Barschewskij getötet wurde. Eine Tragödie, wenn man es richtig bedenkt! Diese Duelle sind ein Wahnsinn, den ich nur allzugern ausrotten würde. Aber offenbar ist das unmöglich.«

Er klingelte nach einer Ordonnanz, und gleich darauf trat ein junger Ulanenleutnant ein. »Lassen Sie zu Graf Lasarow schicken. Er möchte mich unverzüglich aufsuchen, ebenso Fürst Soklow. Das heißt, den Fürsten möchte ich zuerst sprechen. Graf Lasarow mag eine halbe Stunde später kommen.«

Der Leutnant salutierte. »Zu Befehl, Kaiserliche Majestät.«

»Ich danke dir«, sagte Georg herzlich, nachdem er mit seinem Bruder wieder allein war, und drückte ihm die Hand. »Manchmal ist es doch sehr nützlich, der Zarenbruder zu sein.«

Nikolaus erwiderte sein Lächeln nicht. »Ein kleiner Ausgleich für die Schwierigkeiten, die du gar nicht erst hättest, wenn du ein einfacher Iwan Iwanowitsch wärst! Aber was sollen wir tun? Gott legt uns die Lasten auf, und wir müssen sie tragen.«

Der Großfürst erfuhr nicht im einzelnen, auf welche Weise es dem Zaren gelungen war, die wirklichen Hintergründe des Duells nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Auf jeden Fall erreichte er, daß Swetlanas Name nicht in Zusammenhang damit gebracht wurde. Fürst Soklow und Boris Barschewskij hatten sich duelliert – warum, wußte man nicht, denn die Beteiligten sowie alle Augen- und Ohrenzeugen des vorangegangenen Streites berichteten lediglich, es sei eine Auseinandersetzung zwischen zwei Betrunkenen gewesen, in deren Verlauf Boris Petrowitsch den Fürsten geohrfeigt habe, so daß diesem gar nichts anderes übriggeblieben sei, als ihn zu fordern.

Das allgemeine Mitleid galt Boris’ Vater und Swetlana, die kurz vor der Hochzeit ihren Bräutigam auf so tragische Weise verloren hatte. Natürlich sah man sie nicht mehr in der Öffentlichkeit, und ihr Vater erzählte, sie sei für einige Zeit mit ihrer Mutter und ihren Schwestern nach Kowistowo, dem Landgut der Familie, zurückgekehrt.

Graf Pawel Lasarow hatte darauf bestanden, daß Swetlana vorerst nicht mehr mit dem Großfürsten zusammentraf, dies übrigens im Einverständnis mit dem Zaren, um zu verhindern, daß die Affäre bekannt wurde. Außerdem hoffte Nikolaus, eine längere Trennung werde die Gefühle der beiden füreinander abkühlen, so daß man Georg eines Tages vielleicht doch noch seinem Rang entsprechend verheiraten konnte.

Auch die Zarin hatte diese Trennung verlangt. Zwar war sie ihrem Schwager herzlich zugetan, und da sie auch Swetlana ganz reizend fand, begriff sie, daß er sich Hals über Kopf in die hübscheste Debütantin des letzten Winters verliebt hatte.

Andererseits widerstrebte es ihrem sittenstrengen Wesen, ein Verhältnis zu goutieren, das in ihren Augen ›sündig‹ war, und sie hätte es lieber heute als morgen beendet gesehen.

Es waren triste Wochen, die Swetlana in Kowistowo verbrachte. Ihre jüngste Schwester Irina sehnte sich nach den Petersburger Vergnügungen und ihren Freundinnen zurück, Xenia versuchte zwar, ihrer ältesten Schwester beizustehen, so gut sie es vermochte, doch auch sie fand es höchst ärgerlich, daß sie gezwungen war, ihre Schulausbildung in der Hauptstadt zu unterbrechen und wieder von Miss Sheldon und ihrem früheren Hauslehrer Maurice Selbmann unterrichtet zu werden.

Swetlana durchlebte die Zeit nach Boris’ Tod in einer Art dumpfer Betäubung. Sie fühlte sich schuldig, und da sie ihn aufrichtig gern gehabt hatte, kam sie nur schwer darüber hinweg.

»Hätte ich nur rechtzeitig mit ihm gesprochen und ihm die Wahrheit gesagt«, klagte sie sich immer wieder an. »Dann hätte dieses Duell nie stattgefunden.«

Xenia, die Praktische, Nüchterne, widersprach. »Unsinn! Soklow hatte es darauf angelegt, sich mit ihm zu schießen. So oder so hätte er Boris herausgefordert. Mach dir keine Vorwürfe, Männer sind in solchen Dingen absolut unbegreiflich. Sie ziehen mit Gesang und strahlenden Augen in den Krieg, und sie duellieren sich mit der gleichen Begeisterung, als wäre es ein heldenhaftes Vergnügen, totgeschossen zu werden. Ich werde so etwas nie verstehen.«

Aber ihre Worte richteten nichts bei Swetlana aus. »Boris würde noch leben, wenn es mich nicht gäbe – oder wenn ich ihm treu geblieben wäre«, beharrte sie. »Er wird mir nie vergeben!«

Und sie vergab es sich auch nicht. Es war ihre selbstauferlegte Buße, immer wieder daran zu denken und sich ihre Schuld vor Augen zu führen. Ihre Mutter machte es um nichts leichter, weil sie wie der personifizierte Vorwurf herumlief und täglich von dem ›armen, lieben Boris‹ sprach, der ein so guter Mensch gewesen sei und dieses grausame Schicksal nicht verdient hatte.

Und dann kam eines Tages Georg nach Kiew. Er reiste inkognito und war unter dem Namen ›Graf Blomquist‹ im Grand Hotel abgestiegen, wie er Swetlana in einem hastig hingekritzelten Billett mitteilte.

Ich habe es nicht mehr ausgehalten, ich muß Dich sehen, mein Herz. Bitte, komm zu mir. Wenn man Dich nicht fortläßt, werde ich morgen bei Dir in Kowistowo sein!

Wera Karlowna hatte den Boten abgefangen und ließ Swetlana rufen. »Der Großfürst ist in Kiew. Er will dich sprechen«, sagte sie nervös.

Dies war eine Situation, die sie überforderte. Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte, und ihr Gatte, den sie hätte um Rat fragen können, war in St. Petersburg.

Sie reichte Swetlana den Brief mit spitzen Fingern, als sei es schon verdammenswert, ihn zu berühren. Aus bereits wieder tränenfeuchten Augen sah sie Swetlana an, während diese die wenigen Zeilen las.

Ihre Tochter – die Mätresse des Zarewitsch! Was für eine entsetzliche Situation! Jeden anderen Mann könnte sie kraft ihrer mütterlichen Autorität zurückweisen, ihm das Verderbliche seines Tuns vor Augen halten, aber doch nicht dem Thronfolger und Zarenbruder!

Der Zar ist allmächtig, Gott allein zur Rechenschaft verpflichtet, und wir sind Untertanen seines Willens. Er kann uns erheben, wenn es ihm gefällt, oder mit seinem Fuß zermalmen. Dies war Wera Karlownas zweites Glaubensbekenntnis, in dem sie erzogen worden war, und ihr Mann dachte nicht anders. Was also sollte sie nun tun?

Swetlana enthob sie zunächst einer Entscheidung, denn sie erklärte: »Ich kann ihn nicht sehen. Ich darf es nicht.« Dann begann sie zu weinen.

»Aber er wird herkommen«, hielt Wera Karlowna ihr vor. »Und was soll ich ihm sagen, wenn du dich weigerst, mit ihm zu sprechen?«

»Die Wahrheit«, erwiderte Swetlana. »Ich habe Boris Petrowitsch großes Unrecht zugerügt, und ich kann nur versuchen, es wiedergutzumachen, indem ich Georg nicht mehr treffe.«

Sie war tatsächlich fest dazu entschlossen. Doch am nächsten Morgen kam Georg wie angekündigt nach Kowistowo, und Swetlana sah ihn vom Fenster ihres Zimmers aus, wie er von dem leichten Landauer stieg, den er selbst lenkte.

Er trug Zivil, einen hellen karierten Anzug und einen weichen Filzhut mit gebogener Krempe, unter dem sein blondes Haar in der Frühsommersonne leuchtete, und Swetlanas Herz flog ihm entgegen.

Die Liebe zu ihm, die sie so gern in sich niedergekämpft hätte, erfüllte sie mit Trauer und Glück und einer jähen, zitternden Erwartung.

So wie sie war, in ihrem mauvefarbenen Morgenkleid aus mit dunkelvioletten Streublümchen bestickten Musselin, lief sie die Treppe hinunter in die Halle, wo gerade ihre Mutter erschien und in einer tiefen Verneigung vor Gregor versank.

»Kaiserliche Hoheit«, stammelte Wera Karlowna, »welch eine Ehre, daß Sie unser bescheidenes Heim ...«

Georg reichte ihr die Hand und zog sie hoch. »Nicht doch. Teuerste. Lediglich Graf Blomquist stattet Ihnen einen Besuch ab. Da ich in Kiew war, wollte ich keinesfalls versäumen ...« Er verstummte, weil Swetlana auftauchte, und umfing ihre Gestalt mit einem Blick voll unbeschreiblicher Zärtlichkeit.

Ein, zwei Sekunden standen sie, durch die Breite der Halle getrennt, voreinander und sahen sich an. Dann machte Georg einen Schritt auf Swetlana zu, und sie flog, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, an seine Brust.

»Nicht weinen«, bat er leise, als er sah, daß ihr die hellen Tränen über die Wangen liefen. »Bitte, mein Liebes ...«

Sie sah zu ihm hoch. »Es ist nur, weil ich mich so freue und weil ... Ach, Georg, daß du gekommen bist! Und ich war so dumm, mir einzubilden, ich dürfte dich nicht sehen.«

Er wischte ihr die Tränen ab. »Ich weiß – und ich verstehe. Ich wünschte, ich könnte diese Tragödie ungeschehen machen. Aber wir beide, Swetlana, wir leben, und es nützt niemandem, wenn wir auf das bißchen Glück verzichten wollen, das uns das Schicksal schenken kann.«

Wera Karlowna räusperte sich. »Darf ich Eurer Kaiserlichen ... Verzeihung, darf ich Ihnen eine Erfrischung servieren lassen, Graf Blomquist?«

Er schüttelte den Kopf und legte Swetlana den Arm um die Schultern. »Nein, vielen Dank. Ich bitte nur um die Erlaubnis, mit Swetlana Pawlowna eine Spazierfahrt unternehmen zu dürfen. Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich sie am Nachmittag wieder zurück.«

»Aber ...«, setzte die Lasarowa an, und er schüttelte mit seinem charmantesten Lächeln den Kopf.

»Sie werden doch nicht daran zweifeln, daß Ihre Tochter bei mir in vollkommener Sicherheit ist?«

»Nein ... ja ... das heißt ...« Wera war tödlich verlegen und wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Bestand sie darauf, daß die beiden nicht allein miteinander blieben, sondern in ihrer oder Miss Sheldons Begleitung ausfuhren, zog sie sich den Unwillen des Großfürsten zu. Andererseits war es höchst unschicklich, Swetlana mit ihm allein zu lassen.

Georg nahm ihr die Entscheidung ab, indem er auf sie zutrat und ihr die Hand küßte. »Ich danke Ihnen, meine teuerste Gräfin. Bis zum Nachmittag also.«

Damit nahm er Swetlanas Arm und zog sie nach draußen zu seinem Wagen.

Als er sie auf den Kutschbock hob, brach sie in Lachen aus. Es war das erste Mal seit Boris’ Tod, daß sie wieder so von Herzen lachen konnte. »O Georg, mein Liebster!« rief sie. »Du schaffst es sogar, meine Mutter um den Finger zu wickeln. Ihr Gesicht war zum Malen schön!«

Er schwang sich neben sie auf den Sitz und ergriff die Pferdezügel. »Oh, ich hatte mindestens ebensoviel Angst vor ihr wie sie vor mir. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn sie mir nicht erlaubt hätte, dich allein zu sehen. Ich dachte, ich müßte sie einfach überrumpeln.«

Sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter, während er das Pferd die Birkenallee zur Straße hinunter lenkte. »Bist du wirklich nur meinetwegen hergekommen?«

Er nickte, mit einemmal völlig ernst. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten ohne dich. Der Zar weiß, daß ich hier bin. Übermorgen muß ich wieder nach Petersburg zurück. Wir haben also nur zwei Tage, Swetlana. Wirst du sie mir schenken?«

Sie liebte ihn so sehr, daß es fast körperlich weh tat. »Ja«, sagte sie und schloß für einen Moment die Augen, als könnte sie auf diese Weise alles aussperren, was zwischen ihnen stand.

›Das bißchen Glück, das uns das Schicksal schenken kann‹, hatte Georg gesagt, aber Swetlana kam es in diesen beiden Tagen so vor, daß es mehr, viel mehr war. Es war ein Rausch, von dem sie davongetragen wurde, ein Geben und Nehmen, ein Einssein in allem, das ihre ganze Seele ausfüllte.

Sie fuhren zum Essen in ein Restaurant am Dnjepr, ein paar Werst vor Kiew gelegen, wo sie unter schattigen Bäumen im Freien saßen und auf den Fluß blickten, der sich träge durch die flache Uferlandschaft wälzte.

Swetlana wußte kaum, was sie aß und trank. Sie mußte immer nur Georg ansehen, und ihm erging es nicht anders.

»Ich bin so froh, daß du da bist«, sagte er, und sie griff nach seiner Hand.

»Ich auch. Manchmal habe ich gedacht, ich hätte dich verloren. Es ist so vieles geschehen.«

»Nichts davon ist so entscheidend, daß es uns auseinanderbringen könnte.«

»Glaubst du das wirklich?« fragte sie, und er umfaßte ihr schmal gewordenes Gesicht.

»Ich weiß es. Hab keine Angst. Es wird alles gut.«

Später gingen sie Hand in Hand zum Flußufer hinunter, zwischen Binsen und hohem Schilfgras. Es war ein warmer, heller Frühsommertag. Oberhalb des Uferwegs wuchsen wilde Kirschbäume und Birken. Ein paar Schwalben schossen schrill kreischend über das Wasser. In das Gras mischten sich blaue Glockenblumen und Margeriten. Die Luft roch nach sonnenwarmer Erde, und Georg streifte sein Sakko ab und breitete es über ein paar dicke Grasbüschel. Dann zog er Swetlana neben sich.

Sie kam in seine Arme, als sei dies der einzige Platz auf der Welt, wo sie hingehöre. Sie küßten sich lange, waren einander vertraut wie eh und je und entdeckten sich doch gleichzeitig wieder neu.

Swetlana stöhnte leise, als Georg ihr Mieder öffnete. »Ja«, flüsterte sie, »ja, ja, ja!«

Sie bog sich ihm entgegen, um nackt vor ihm zu liegen, und öffnete dann mit bebenden Fingern sein Hemd. Als sie seine warme Haut spürte, drängte sie sich enger an ihn. Sie sah zu ihm hoch, und seine Augen waren blauer als der Himmel, als sie begann, sich unruhig unter ihm zu bewegen.

Nie, dachte sie, nie mehr kann ich ohne ihn sein. Sie umklammerte ihn und schrie auf, als er ganz zu ihr kam. Ihr Haar, das sie am Morgen aufgesteckt hatte, hatte sich gelöst und lag wie ein heller Fächer um ihren Kopf.

Georg mußte sie immerzu ansehen. Sie war so schön, und er liebte sie so sehr. Er liebte die Wildheit in ihrem Gesicht, die Art, wie sie sich selbst aufgab, um mit ihm zu verschmelzen, die Lust in ihren Augen.

Sie kam rasch zum Höhepunkt, aber sie hielt Georg noch weiter umschlungen und flehte: »Hör nicht auf. Ich bitte dich, hör nicht auf!« und preßte ihren Mund auf seine Schulter.

Dieses Mal wollte er sich Zeit lassen, sie langsam und zärtlich lieben, sie fast bis zum Gipfel führten und dann eine lange köstliche Weile auf dem schmalen Grat zwischen Verlangen und Erlösung verharren lassen, aber er konnte es nicht. Zu sehr hatte auch er sie entbehrt.

Er flüsterte ihren Namen, spürte ihren Atem, ihre Lippen und Zähne, die sich in seine Haut gruben, und warf sich mit ihr herum. Halb aufgerichtet lag sie nun über ihm. Er sah ihre nackten Brüste, den immer noch mädchenhaft schmalen Körper, der sich im Rhythmus der Liebe hob und senkte, und es war, als schlüge eine Feuerwoge über ihm zusammen, die ihn und Swetlana mit sich riß, immer höher hinauf – bis in das Gleißen der Sonne.

»Wie sehe ich aus?« fragte Swetlana später, nachdem sie sich wieder angezogen und das Haar notdürftig gerichtet hatte.

Georg lag noch im Gras und blickte zu ihr hoch. »Wie eine Frau, die gerade geliebt worden ist«, sagte er lächelnd. »Wunderschön.«

Sie wurde ein wenig rot. »Du meinst, man sieht es mir an?«

»Hmmm ...« Er nickte und wollte sie wieder zu sich hinunterziehen, doch sie wehrte sich und sprang auf.

»Nicht, Liebster. Ich muß heim.« Sie nahm die Nadeln noch einmal aus dem Haar, schüttelte es aus und steckte es neu auf. »Ist es jetzt besser?«

Er richtete sich auf und umfaßte ihre Beine. »Wie können Sie nur so prosaisch sein, Swetlana Pawlowna«, sagte er lachend. »Ich knie vor Ihnen, hingerissen von Ihrem Liebreiz, und Sie fragen, ob Ihre Frisur in Ordnung ist.«

»Ach, mein Liebster!« Sie beugte sich noch einmal hinunter und gab ihm einen raschen Kuß. »Ich will doch nur nicht in Verlegenheit geraten, wenn ich heimkomme. Mama und Xenia – und ich fürchte, auch schon Irina – haben scharfe Augen.«

»Und was ist dabei?« fragte er neckend. Statt einer Antwort versuchte sie, ihn hochzuziehen, aber er hielt ihre Hände fest, und im nächsten Augenblick lag sie wieder im Gras und in seinen Armen.

»Ein paar Minuten noch«, bat er und rieb seine Lippen an ihrer Wange. »Ich verspreche dir auch, deine Frisur nicht zu ruinieren.«

Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Rückweg nach Kowistowo. Bevor das Gut in Sicht kam, zügelte Georg das Pferd und hielt im Schatten eines Faulbaums.

»Morgen vormittag komme ich dich wieder abholen. Was glaubst du? Kannst du es einrichten, daß wir bis zum Abend zusammenbleiben? Übermorgen früh muß ich ja schon wieder nach Petersburg zurück.«

Sie nickte. »Ich werde es meiner Mutter sagen. Sie wird zwar entsetzlich lamentieren, aber das ist mir egal.«

Er lehnte seine Stirn gegen ihr Haar. »Weißt du, was ich mir am meisten wünsche? Einmal eine ganze Nacht mit dir zu verbringen. Du sollst in meinen Armen einschlafen, ich will deinen Atem hören und morgens neben dir erwachen.«

Sie zögerte ein paar Sekunden. Dann sagte sie entschlossen: »Hol mich heute abend ab. Ich bleibe bei dir, bis du wieder abreist.«

Seine Augen leuchteten auf. »Denkst du, daß das möglich ist?«

Swetlana nickte. »Ich lasse es mir nicht verbieten. Ich liebe dich, und es ist nicht unsere Schuld, daß wir nicht, heiraten können. Dann wäre alles anders.«

»Vielleicht können wir es eines Tages. Für dich würde ich auf alle Thronansprüche verzichten.« Er zog sie an sich. »Sobald ich wieder in Zarskoje Selo bin, werde ich meinen Bruder bitten, er möge dich nach Petersburg zurückholen. Dein Vater wird nicht anders können, als seine Zustimmung zu geben, wenn der Zar das wünscht. Wir werden uns nie mehr trennen.«

»Ja«, flüsterte sie an seinem Hals. »Nie mehr.«

Zum erstenmal seit Boris’ Tod empfand sie wieder ein wenig Zuversicht.

Sie bat Georg, sie an der Auffahrt zum Gut abzusetzen. »Komm so gegen acht Uhr wieder. Ich werde hier auf dich warten.«

»Soll ich nicht lieber mit deiner Mutter sprechen?« bot er an, doch sie schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht nötig. Ich regle das allein.«

Als sie das Herrenhaus erreichte, hörte sie die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Schwestern von der Terrasse hinter dem Haus. Swetlana überlegte, ob sie sie zuerst begrüßen sollte, verwarf dann den Gedanken wieder und lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Eilig begann sie, ein paar Sachen in eine große bestickte Tasche zu packen.

Wenig später erschien Wera Karlowna in der Tür. »Miss Sheldon sagte mir, daß du zurück bist. Sie hat dich gehört. Aber warum ist der Großfürst nicht hier? Ich dachte, er nähme den Tee mit uns.«

Swetlana warf ihre Haarbürste und andere Toilettenutensilien in die Tasche. »Er hatte noch etwas in Kiew zu erledigen. Aber er holt mich heute abend ab. Ich werde bis übermorgen früh bei ihm bleiben.«

Wera Karlowna starrte sie entgeistert an. »Du ... du willst ... Aber das geht doch nicht! Wie soll ich deinem Vater jemals wieder unter die Augen treten, wenn ich das gestatte?«

»Sie werden es müssen, Mama«, sagte Swetlana. Dabei war sie keineswegs so mutig, wie sie sich gab. »Seine Kaiserliche Hoheit hat es befohlen.«

Wera Karlowna brach wieder einmal in Tränen aus. »Oh, diese Schande! Du wirst nie mehr einen anständigen Mann bekommen. Alle werden mit Fingern auf uns zeigen. Denkst du denn gar nicht an deine armen Schwestern? Auch sie werden geächtet werden, und kein Mann aus gutem Hause wird mehr etwas mit ihnen zu tun haben wollen.«

Swetlana schloß ihre Tasche. »Sie irren, Mama! In der Provinz mögen solche Befürchtungen vielleicht zutreffen, aber nicht in St. Petersburg oder Moskau. Dort würde man uns hofieren, weil man sich Vorteile von meiner Beziehung zur Zarenfamilie verspricht. Aber ich habe nicht die Absicht, diese Tatsache auf den Märkten ausrufen zu lassen. Das ist etwas, das nur den Großfürsten und mich angeht.«

»Man wird es auf die Dauer nicht geheimhalten können ...«

»Dann wird Seine Kaiserliche Hoheit Mittel und Wege finden, um die Schwätzer stumm zu machen«, erwiderte Swetlana. Sie kam zu ihrer Mutter. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Mama, und sorgen Sie sich nicht. Es wird alles gut werden.«

»Aber wie denn?« fragte die Lasarowa verzagt, und Swetlana wich ihrem Blick aus.

Ja, wie? Sie wußte es selbst nicht. Sie wußte nur, daß sie Georg liebte und alles tun würde, was er von ihr erbat.

»Gott wird uns helfen«, sagte sie leise.

Im Palast der sieben Sünden

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