Читать книгу Alma Mata - Susanne Steinfeld - Страница 12

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V

Am nächsten Morgen kündigte der Wetterbericht im Radio Starkregen und heftigen Wind für den Tag an – allerdings ohne die orkanartigen Ausmaße, die zu Beginn der Woche noch befürchtet worden waren. Aber da hörte Mata schon gar nicht mehr zu.

Heinrich hatte gestern Abend ihre Telefonnummer in ein kleines weinrotes Notizbuch aus Leder geschrieben und es sorgfältig wieder in seiner Jacke verstaut. Da Richard ihn noch spät in sein Arbeitszimmer gebeten hatte, hatte er sie auch diesmal nicht nach Hause bringen können, sie aber zu einem der Taxis vor dem Hotel gegenüber begleitet. Der Wagen hatte sich schon vom Bordstein gelöst, als Heinrich noch einmal Halt geboten und eilig seine Telefonnummer auf eine Ein-Pfund-Note, die er von irgendwo hervorbrachte, notiert hatte. Nur für den Notfall, wie er betonte, als er sie ihr durch das Fenster reichte - er würde sich bei Mata melden, ganz bald und ganz bestimmt. Bitte, DU da oben, lass ihn anrufen.

Der Wetterbericht behielt Recht, es regnete den ganzen Tag lang heftig, und im Verlag begannen die ersten Mitarbeiter, in ihre Taschentücher zu schnupfen. Am Abend hängte Mata ihren tropfenden Mantel über die Badewanne, bevor sie in der Küche einen Topf Milch aufsetzte, einen Esslöffel Kakaopulver hinzufügte, das Ganze umrührte und aufkochen ließ, alles im Rhythmus des neuen Mantras in ihrem Kopf: Bitte, DU da oben, lass ihn anrufen.

Aber das Telefon bleib stumm, den ganzen Abend lang.

Mata schlief schlecht in dieser Nacht. Zeitweise wusste sie nicht, ob sie wachte oder träumte, und als sie irgendwann gegen Morgen das Licht an ihrem Bett anknipste, blieb es dunkel. Also doch ein Traum. Dann fiel sie in echten Schlaf.

Beim Aufwachen, viel zu spät, brannte plötzlich die kleine Lampe neben ihr, und dennoch war die Beleuchtung im Zimmer merkwürdig matt, wie unter Wasser. Sie stieg aus dem Bett, zog die Vorhänge auf und sah, dass die große Platane im Hof gegen die Hauswand gesunken war und das Fenster verdunkelte. In der Küche schaltete sie das Radio ein - welcher Tag war überhaupt heute?

Es war Freitag, der 16. Oktober, und der Wetterbericht hatte sich geirrt: Ein Orkan war in den frühen Morgenstunden über Südengland hinweggefegt, wütete zurzeit noch an der Ostküste und hatte Schäden in bisher unerreichtem Ausmaß hinterlassen. Zwölf Tote waren bisher gezählt, der Zugverkehr unterbrochen und zum Teil ganz zum Erliegen gekommen, der Flughafen Gatwick geschlossen, die Schulen sowieso, viele Straßen unpassierbar, unzählige Haushalte ohne Strom und Telefon. Mata blickte zur Kommode. Dann nahm sie langsam den Hörer von der Gabel. Es blieb still.

Auch wenn der allgemeine Appell war, Haus oder Wohnung nicht zu verlassen, zog Mata sich an, um draußen nach einem intakten Telefon zu suchen. Sie wollte wenigstens ihren Vater anrufen, der sich vielleicht Sorgen machte. Und als sie in der Kälte draußen die Hand in ihre Manteltasche schob, knisterte auch Heinrichs Pfundnote darin verführerisch.

Der Himmel war von einem fahlen Weiß und schien keinen Regen mehr bereit zu halten, die Kings Road leergefegt - selbst vor dem Pub stand niemand und lachte. Nur die Lampen über dem Eingang, vom Sturm aus der Halterung gerissen, schepperten leise im verbliebenen Wind. Mata probierte beide Telefonzellen daneben aus, vergebens.

Sie ging weiter. Der Supermarkt hatte geöffnet, aber vor fast allen anderen Läden waren die Türgitter unten geblieben. An der Smith Street musste sie einen Bogen um Hilfskräfte machen, die verstreute Dachziegel einsammelten, und kurz vor dem Sloane Square winkte ihr ein Trupp Schaulustiger in dicken Anoraks zu. Sie versuchte es in jeder Telefonzelle auf dem Platz, auch hier ohne Erfolg.

Inzwischen war die Kälte tief in ihren unausgeschlafenen Körper gekrochen und Mata beschloss, umzukehren. Auf dem Rückweg fiel ihr Blick in der Auslage von Waterstones auf eine Taschenbuchausgabe von Sturmhöhe. Der Laden war offen, und im Innern sah zwischen den Büchertischen alles aus wie immer, als hätte es den Sturm nie gegeben. Trotzdem war sie sicher, dass der Verkäufer eine Anspielung darauf machen würde, als sie ihn bat, das Buch aus dem Schaufenster zu nehmen. Aber er kommentierte ihre Wahl mit keinem Wort.

Am Montagmorgen gab es dafür im Verlag kein anderes Gesprächsthema - jeder wollte seine Geschichte erzählen, nur Mata nicht. Neben Frannys Wohnung hatte der Sturm die Blessed Sacrament Church demontiert, ohne dass jemand verletzt worden war – quasi ein göttliches Wunder. Ihren Eltern hatte sie allerdings erst am Sonnabendnachmittag Bescheid geben können, dass alles okay bei ihr war.

Auch Matas Leitung war zu dem Zeitpunkt wiederhergestellt, und sie hatte mit ihrem Vater gesprochen. Danach war sie zu einem Spaziergang aufgebrochen, um lieber auf die Themse zu starren, die verdrossen und verlassen dahinglitt, als auf das Telefon. Später waren ihr in der einsetzenden Dunkelheit die Geschäfte an der Kings Road wie Oasen des Lichts erschienen. Sie hatte ihre Finger über die üppige Seide der Brautkleider bei David Fielden gleiten lassen und sie im Fell der Plüschtiere vergraben, die bei TigerTiger in den Regalen saßen. Natürlich waren sie während des Studiums nicht um Blakes Gedicht herumgekommen:

Tyger Tyger, burning bright,

In the forests of the night;

What immortal hand or eye,

Could frame thy fearful symmetry?

Der Professor war von Matas Übersetzungsvorschlag nicht besonders angetan gewesen war:

Tiger Tiger, feurig lacht,

in den Dickungen der Nacht,

Welch unsterbliche Gewalt,

Schuf deine furchtbare Gestalt.

Zurück in der Wohnung hatten ihre Finger nun doch der Versuchung nachgegeben, die Telefonnummer auf der Ein-Pfund-Note zu wählen. Niemand hob ab. Vielleicht lachte Heinrich ja gerade irgendwo, in den Dickungen der Nacht, über das dumme deutsche Fräulein, das seine Zähne liebte.

Als es Zeit war zum Mittagessen, ließ Mata sich von ihrer Freundin mitziehen und ignorierte deren fragende Blicke. Sie trottete stumm neben ihr her, bis sie plötzlich auf der anderen Straßenseite etwas Gelbes wahrnahm. Mata blieb stehen. Der Schal schwebte vor dem Parkgitter, löste sich und kam auf sie zu. Franny war ebenfalls stehengeblieben. Sie sagte etwas, sagte es erneut und ging dann weiter. Mata hatte es nicht verstanden. Aber Heinrichs Worte an ihrem Ohr verstand sie sehr gut: „Da bist du ja, deutsche Freundin.“

Sie gingen nicht zu den anderen in die Sandwich-Bar, sondern in ein italienisches Restaurant an der Charlotte Street und bestellten Pasta. Heinrich hatte Mata nicht anrufen können, weil er sein weinrotes Notizbuch verloren hatte, wie und wo auch immer. Aber er hatte nicht vergessen, wo sie arbeitete, und war nach seinem Schweigen nun dort in Person erschienen.

Konnte man das so sagen? Er sah sie unsicher an, und Mata musste lachen. Jetzt, da Heinrich so nah vor ihr saß, dass sie die feinen hellen Härchen an seinen Ohrläppchen erkennen konnte, musste sie über fast alles lachen: den kleinen Silberschnuller an der Kette des Kellners, das viel zu blau gemalte Meer an der Wand und auf dem Tisch die Salz- und Pfefferstreuer in Form von Pinocchio, einmal mit und einmal ohne seine lange Nase.

Heinrich hatte nicht viel Zeit. Wie Mata sicher wusste, war der Aktienmarkt dramatisch eingebrochen und die Börse stand Kopf. Er hatte praktisch das ganze Wochenende in der Bank verbracht, in dem Bemühen, den Schaden zu begrenzen.

Das Essen kam, und so wurde Mata das Geständnis erlassen, nicht das Geringste darüber zu wissen. Heinrich wickelte Spaghetti auf seine Gabel und erklärte, dass der Rothschild-Vorstand ihm zum Dank dafür seine Loge in Covent Garden überlasse, am kommenden Mittwoch, es gäbe Otello. Mata liebe doch hoffentlich die Oper und wäre an dem Abend nicht verhindert?

Nur über ihre Leiche.

Im Verlag war Marigolds Platz leer und die Tür zu Spiders Zimmer geschlossen. Dafür saß Megan auf Matas Schreibtischplatte: „Da ist sie ja wieder, unsere subversive Miss. Wir Engländerinnen pflücken vielleicht einmal eine Blume im Park, aber sie pflückt sich gleich einen Mann!“.

Mata zog ihren Mantel aus und schwieg.

Megan schlenkerte mit den Beinen. „Also immer noch sprachlos. Angeblich warst du ja vorhin schon nicht mehr ganz von dieser Welt…“.

Mata sah zu Franny herüber, die nicht aufhörte, emsig auf ihrer Schreibmaschine herumzutippen. „Schon gut, Megan“, sagte sie dann. „Das war nur ein alter deutscher Freund, der mich überraschen wollte.“

Megan schürzte die Lippen. Aber dann schwang sie sich vom Tisch und zog ihren Strickrock einen halben Zentimeter tiefer. „Na gut, belassen wir es vorerst dabei. Aber Du kannst davon ausgehen “ – die Zeigefinger wiesen auf ihre ausladende Brust – „big sister is watching you“.

Als sie fort war und Mata sich hingesetzt hatte, drehte Franny sich zu ihr um: „Sorry, ich wollte Dich nicht verraten. Aber sie haben immer wieder gefragt, wo Du steckst …“.

„Ach was, denk dir nichts. Das Ganze hat keine Bedeutung.“

Jetzt mischte sich auch in Frannys Blick ein wenig Skepsis. Doch dann wandte sie sich wieder der Schreibmaschine zu, und ihre Finger nahmen den stockenden Rhythmus wieder auf. Matas Finger aber strichen behutsam über das Herz in ihrer Schreibtischplatte. Klein wie ein Pfennigstück.

Das schmale Vordach am Royal Opera House bot keinen Schutz vor dem Regen, und Mata war froh, als sie Heinrich aus einem der Taxis steigen sah, die nach und nach am Straßenrand hielten. Er strich kurz über ihre nasse Wange und schob sie dann vor sich her in das Foyer. Irritiert von dem lauten Geräusch ihrer Absätze auf dem Marmorboden blickte Mata nach unten und entdeckte den kleinen Rattankoffer in Heinrichs Hand. „Was ist das denn?“.

„Unser Abendessen.“ Er ging ungerührt weiter.

„Wie bitte - darf man das denn?“.

„Weiß ich nicht. Aber die Mutter eines Schulfreunds hat uns früher häufig hierher eingeladen, und dabei haben wir jedes Mal riesige Kühltaschen nach oben in ihre Loge geschleppt. Die waren nicht so elegant wie dieser Korb, das kannst du mir glauben.“

Sie gingen jetzt ebenfalls die Treppe hinauf und passierten eine Reihe schmaler Türen, bis Heinrich vor einer stehenblieb. Sie führte in einen kleinen Raum, der nach vorne hin offen war und fünf samtbezogene Stühle beherbergte.

„Wer kommt denn noch?“, flüsterte Mata.

„Niemand“. Heinrich stellte den Picknickkoffer auf den Boden und nahm ihr das Cape ab. „Und Du musst nicht flüstern. Zumindest noch nicht.“

Sie setzte sich an die ebenfalls mit rotem Samt bespannte Brüstung und sah hinauf in die hohe weißgoldene Kuppel über dem Zuschauerraum im Parkett. Aus dem Orchestergraben stieg das dissonante Krächzen der Instrumente, und sie wandte sich wieder Heinrich zu und deutete auf den Korbkoffer. Er ging in die Knie, löste die Lederriemen daran und klappte ihn auf. Auf der Rückseite des Deckels waren Teller, Besteck und ein Korkenzieher befestigt, und im Korb selbst lagen, eingebettet in Stoffservietten, zwei Gläser, eine kleine Flasche Rotwein und eine Kunststoffbox.

„Huhnsalat“, sagte er stolz. „Aber den gibt es erst in der Pause.“ Er ließ den Korb wieder zufallen und setzte sich neben sie. Mata wollte protestieren, aber jetzt drückte Heinrich seinen Zeigefinger auf ihre Lippen und wies nach links zur Bühne, wo sich der Vorhang hob.

Im Unterschied zu Shakespeares Othello setzte die Handlung der Oper später ein, mit dem Sturm auf Zypern. Mata hatte das Theaterstück letztes Jahr mit ihrem Vater in München gesehen, danach eine seiner Belehrungen über sich ergehen lassen, kaum hatten sie bei Boettners die gestärkten Stoffservietten über ihren Schoß gebreitet. Der Name Desdemona leite sich von der griechischen Wortquelle ´dysdaimon` her - andauernd musste er sein Altgriechisch hervorkehren – was so viel bedeute wie Unheil und bereits auf den tragischen Ausgang verweise. Desdemona bewundere zwar in Othello den militärischen Helden, ihre eigentliche Liebe aber gelte dem sanftmütigen Menschen, der sich dahinter verbarg und als gesellschaftlicher Außenseiter zu ewiger Verunsicherung verdammt sei. Und genau diese Schwäche Othellos mache sich Jago zunutze, um Rache zu nehmen für die eigene empfundene Erniedrigung. Daher sei er der überlegene Charakter des Schauspiels und sein unbeugsamer Wille das beeindruckendste Element darin.

Mata sah dabei zu, wie der Vater den Weißwein probierte und absegnete, bevor sie widersprach. Sie verstand die tief verankerten Zweifel Othellos und seine daraus resultierende Eifersucht. Auch wenn er scheiterte, scheitern musste in einer Tragödie, verkörpere er das Gute und sei der eigentliche Held. Schließlich hieße das Stück ja auch nicht ´Jago`, sondern ´Othello`. Zufrieden mit sich begann sie die Hummercremesuppe zu löffeln, die der Kellner soeben mit einer gekonnt knappen Bewegung vor ihr abgestellt hatte.

Aber der Vater schüttelte den Kopf. Eifersucht sei ausnahmslos dumm und grundsätzlich nutzlos. Und das Gute an sich – was immer das sei – auch oft wenig hilfreich. Matas Weltsicht sei nach wie vor eine naive, und sie müsse endlich lernen, mit beiden Beinen auf der oft harten Erde zu stehen.

So weich ihre Suppe war, es bildete sich ein Kloß in Matas Hals. Wäre ihre Mutter jetzt hier, hätte sie den Vater bestimmt mit einer kleinen Geste zu mehr Nachsicht bewogen. So aber zerlegte er nur schweigend den Fisch auf seinem Teller.

Hier, neben Heinrich, sorgten jetzt die Lichteffekte auf der Bühne dafür, dass die Sonne im zyprischen Meer versank, während Otello und Desdemona sich im Liebesduett fanden. Die kunstfertige Akustik trug ihre sehnsuchtsvollen Stimmen in das Parkett und dann über die Köpfe der Zuschauer hinweg zu Mata hinauf in die Loge und wider Erwarten direkt in ihr Herz.

Am Freitagabend erzählte Mata ihren neuen Freundinnen nun doch von Heinrich. Sie wisse noch nicht, ob es Liebe sei, aber sie wolle auf keinen Fall, dass es aufhöre, schloss sie effektvoll ihren Bericht. Franny drückte unablässig ihren Arm, und Cecilia machte den Vorschlag, sich doch bald einmal mit Barry zu viert zu treffen. Mata ließ beide gewähren. Und Megan hatte ausnahmsweise einmal keine zynische Bemerkung parat.

Alma Mata

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