Читать книгу Alma Mata - Susanne Steinfeld - Страница 9
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Ihre Barhocker waren sofort von dem Kopftuch-Mann und seinen Freunden eingenommen worden, und nun war es an Mata, sich wieder einen Platz an der Bar zu erobern. Als sie endlich bezahlt hatte, übertönte ein Satz in hart geschliffenem Englisch das weiche Schottisch um sie herum: „Could we have another two, please.“
Sie drehte sich um und stand direkt vor dem gelben Schal. Die Augen darüber musterten sie ernst, und der Mund sprach nun aktzentfrei deutsch. „Der eine wäre für Sie, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Sehr nett, aber danke, nein.“ Sie hatte schon schönere Männer gesehen, und ganz jung schien er auch nicht mehr zu sein.
Sein Blick blieb beharrlich.
„Ich bin hier fertig“, fügte sie hinzu, aber er wich nicht zur Seite: „Sie sind fertig? Wie kann das sein, nachdem Sie ihren Freundinnen gerade noch eine weitere Runde vorgeschlagen haben?“.
„Und Sie haben gelauscht!“. Sie versuchte, sich an dem Fremden vorbeizuschlängeln.
„Sagen wir einmal so – ich konnte nicht umhin, zu hören.“ Er schien zu schmunzeln. „Und ich muss zugeben, dass es äußerst unterhaltsam war.“
Mata hielt in ihrer Bewegung inne und überlegte, wann sie den Mann zum ersten Mal bemerkt hatte. Die Vorstellung, dass er Zeuge ihrer eigenen Erzählung geworden war, war beschämend. Sie zwang sich, ihn anzusehen. Seine Augen waren hellgrau, und auf seiner Wange entstand ein Grübchen, als er jetzt sagte: „Jetzt machen Sie doch nicht so ein Gesicht. Sie haben die absurde Geschichte doch nicht erzählt!“.
Mata atmete aus und ließ zu, dass er sie am Arm nahm und zu seinem Platz mit der aufgeschlagenen Zeitung führte.
„Oder sind Sie etwa böse, weil ich ihren Akzent erkannt habe? Dabei würde ich mich einfach so gern einmal wieder in meiner Muttersprache unterhalten.“ Er klopfte einladend auf seinen Barhocker.
Mata gehorchte und setzte sich. Der Mann rollte die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche seines Nadelstreifenanzugs. Dann hielt er ihr eines der Gläser hin, die Tom zu ihnen herübergebracht hatte, und jetzt wurde ihr auch noch eine Schale mit Nüsschen hingeschoben. Mata bediente sich und betrachtete ihr Gegenüber, während sie kaute. Dann tippte sie mit dem Zeigefinger gegen das perfekt anliegende Revers seiner Anzugjacke: „Na gut, wer sind Sie also? Und für wen arbeiten Sie? Sieben Null - oder wie heißt das da bei James Bond? Da belauschen sie doch auch Leute und tragen solche Outfits.“
„Null Null Sieben. Mein Beruf ist leider nicht ganz so aufregend, obwohl ich annehme, dass auch der Alltag eines Geheimagenten überaus öde sein kann. Ich bin im Finanzwesen tätig, genauer gesagt arbeite ich für die Rothschild Bank, Abteilung Private Banking & Trust.“ Er schlug andeutungsweise die Hacken zusammen. „Mein Name ist übrigens Heinrich.“
„Na prima“. Mata lehnte sich zurück. „Und wie sind Sie in so einem Anzug hier gelandet?“.
Er war in Hannover aufgewachsen, wo sein Vater einen Lehrstuhl an der Technischen Universität innehabt hatte, mit seinem zwei Jahre jüngerem Bruder, bevor sie mit jeweils elf Jahren auf Internatsschulen geschickt worden waren, erst in Deutschland, dann in England. Hier war er sozusagen hängengeblieben, hatte Wirtschaft studiert und später an einem Institut bei Paris einen zusätzlichen Abschluss gemacht. Dort hatte ihn die Bank dann abgeworben.
Die Sätze waren so schnell aus ihm herausgesprudelt, dass Mata nicht hatte unterbrechen können. „Schön und gut“, sagte sie jetzt, „aber das hatte ich nicht gemeint. Ich wollte nicht wissen, wie Sie generell in so einem Anzug gelandet sind, sondern wie sie darin hier gelandet sind, in diesem Pub!“
Er schien verwirrt. „Wieso denn das?“.
Sie ließ ihren Blick ostentativ über die anderen Gäste wandern, und er tat es ihr nach. „Achso. Sie meinen, nur weil ich einen Maßanzug trage, sollte ich lieber in die Bar vom Claridge´s gehen. Ist das nicht ein bisschen kleinlich? Ich wollte einfach irgendwo ein dezentes Bier trinken, und das kann man hier doch wohl.“
Gerade noch war Mata sich dumm vorgekommen, aber nun konnte sie wieder auftrumpfen: „Ein dezentes Bier, was soll das denn sein? Eines, das unaufdringlich schmeckt? Oder eines, das unauffällig getrunken wird?“.
„Einfach ein gutes Bier!“.
„Verstehe“, sagte sie lachend. „´A decent beer`!. Aber das kann man auf Deutsch so nicht sagen.“
„Tut mir leid, Fräulein Lehrerin.“ Er strich sich das dunkelblonde Haar aus der Stirn. „Dann erzählen Sie doch mal, wo Sie herkommen. Und ich meine nicht heute Abend.“
„Na gut. Ich heiße Mata“, begann sie, „und mein Elternhaus ist in Hamburg, unweit der Elbe - “
„Ach, und ich soll der Spion sein!“, vernahm sie ihn. „Obwohl - eine gewisse Ähnlichkeit ist ja sogar vorhanden, soweit ich mich an Bilder von Mata Hari… “.
Eigentlich hieß sie Martina, und von ihrem Zimmer aus konnte sie nachts die Schiffe tuten hören. Sie liebte dieses Geräusch, denn sie hatte Angst vor der Stille, und noch mehr vor der Dunkelheit. Und vor schlechten Träumen. Als sie klein war, hatte sich ihre Großmutter manchmal vor dem Einschlafen an ihr Bett gesetzt und nach dem Abendgebet erzählt, wovon sie heute Nacht selbst gern träumen würde – einem Körbchen mit Katzenbabys, die kleinen Mädchen mit einer rosa und die Katerchen mit einer hellblauen Schleife um den Hals. Mata hatte es ihr geglaubt, und manchmal hatte es sogar geholfen.
Sie wohnte mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Paul im Dachgeschoß, wo es neben den beiden Kinderzimmern nur noch ein Bad und ein meist leerstehendes Gästezimmer gab. Manchmal wachte Mata nachts auf, grundlos, mit klopfendem Herzen. Wenn sie dann nach jemandem rief, konnte nur Paul sie hören, und er verstand es bald, ihre Schwäche zu nutzen und in ihrem Zimmer Dinge zu arrangieren, nachdem sie eingeschlafen war: Ein Fußball mit einem drapierten Handtuch darunter auf dem Sessel an ihrem Bett, oder zwei Glasmurmeln auf der Fensterbank, in denen sich das Licht fing, das von der Straßenlaterne unter dem Rollo hereinglitt: Geisteraugen.
„Hallo? Ground Control to Major Tom!“.
Mata blickte Heinrich erstaunt an, und dann Tom, der mit einer beschwichtigenden Handbewegung zu ihnen herüberkam. Heinrich lachte: so sorry, er sei nicht gemeint gewesen! Und nun skizzierte Mata tatsächlich die wenigen Stationen ihres bisherigen Lebens: Kindheit in Hamburg, Au-Pair-Zeit in Paris, Studium in München, Englisch und Französisch. Sie hatte tatsächlich Lehrerin werden wollen. Heinrich lachte noch einmal. Er hatte wunderschöne Zähne. Aber dann hatte sie plötzlich die Vorstellung geschreckt, in einem überfüllten Lehrerzimmer zwischen strickenden Kollegen ihr Pausenbrot auszupacken. Und so war die Idee mit dem Buchverlag entstanden, und sie war hier bei C&W gelandet. Voilà.
„Schön und gut“, sagte Heinrich. Dann wandte er schweigend den Blick ab und betrachtete die Flaschen auf dem Regal hinter der Theke. Mata trank einen Schluck Bloody Mary. Sie aß noch ein paar Nüsschen. Sie öffnete die Handtasche auf ihrem Schoss, sah hinein und schloss sie wieder. Sie öffnete sie erneut und nahm eine Zigarette heraus. Als sie jetzt Heinrichs Blick im Spiegel über den Flaschen begegnete, lag ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.
„Little Bastard.“ Sie stieß ihm den Ellbogen in die Seite. „Aber ich gebe zu, es war auch nicht nett, mein ´schön und gut` vorhin. Vor allem war es ja vielleicht gar nicht so schön und so gut – so jung auf ein Internat zu müssen?“.
„Stimmt, das war es nicht.“ Er nahm ihr das Feuerzeug aus der Hand, und Mata beugte sich mit ihrer Zigarette über die Flamme. „Aber gleichzeitig war ich froh darüber, nicht mehr zuhause zu sein. Mein Vater ist ein sehr unnachsichtiger Mensch.“
„Ist? Lebt er denn noch?“.
Er zog eine Augenbraue hoch. „So alt bin ich nun auch wieder nicht! Jawohl, er lebt noch. Meine Mutter ist allerdings bereits seit längerem tot.
„Meine ist gestorben, als ich zehn war“, platzte es aus Mata heraus.
Heinrich verzichtete auf eine Mitleidsfloskel, und das tat gut. Auch der Anblick seiner Hände, die jetzt sein Glas umfassten, tat gut. Er trug keinen Ring.
„War sie krank?“, fragte er nur.
Nein, es war ein Skiunfall gewesen, in den Osterferien. Es passierte am letzten Tag ihrer Reise, am Abend wollten sie von Chur aus den Schlafwagen nach Hause nehmen. Ihre Mutter hatte deshalb gar nicht mehr mit auf den Berg kommen wollen, sich dann aber doch überreden lassen. Bei der Abfahrt ins Tal nahm sie wie immer allein den Ziehweg durch den Wald, weil ihr der letzte Hang zu steil war. Es begann zu schneien, als sie unten am Rand der Skipiste auf sie warteten. Mata sah den feinen Kristallformationen zu, die sich auf dem Ärmel ihres hellblauen Anoraks auflösten, wieder und wieder. Ihre Mutter kam nicht, sie kam nie mehr. Sie war vom Weg abgekommen, warum auch immer, und bei dem Sturz hinab in den Wald mit ihrer rotweißen Skimütze auf einen Baumstamm geschlagen.
Die Schotten neben ihnen brachen jetzt lärmend auf, und Heinrich angelte sich mit dem Fuß einen frei gewordenen Barhocker und setzte sich neben sie. Es hieße immer, die Zeit lasse irgendwann alles vergessen. Aber waren unsere Erinnerungen nicht das Kostbarste, was wir hatten? Selbst die schmerzlichsten? Machten sie uns nicht aus?
Mata hatte keine Antwort darauf, und Heinrich drehte das Glas in seinen Fingern. „Aber reden wir doch lieber von den schönen. Nennen Sie mir doch einmal – sagen wir fünf – Dinge aus der Zeit, als ihre Mutter noch da war.“
Schon wieder so ein Spielchen. Aber Mata zählte auf, was ihr spontan einfiel: Die Butterbrottasche aus rotem Leder, mit der sie in den Kindergarten ging. Das Malbuch mit den Märchenmotiven. Ihr Goldhamster Karlsson. Das Puppenhaus, das die Mutter selbst tapeziert und eingerichtet hatte. Schnee.
„Schnee? Dennoch?“. Heinrich legte für einen Augenblick seine Hand auf ihre. Mata nickte, und ihr Herz schlug so schnell wie früher das von Karlsson, wenn sie ihn aus seinem Käfig holte. Sie versuchte, unbekümmert zu klingen: „Gut. Jetzt sind Sie dran!“
Er stutzte: „Womit?“
„Na, die fünf Sachen. Oder war Ihre Kindheit dafür zu unglücklich?“
„Nein, natürlich nicht.“ Heinrichs rechter Daumen begann, über den Nagel des linken zu reiben, als müsste er ihn polieren. „Mal sehen: Unser Baumhaus. Das Bilderbuch vom ´Glücklichen Löwen`. Mein grünes Fahrrad. Und natürlich mein Bruder, Theo. Vielleicht noch Königsberger Klopse.“
„Mit Kapern?“.
„Absolut. Unser Hausmädchen Ida hat sie gekocht, wenn sie Heimweh hatte.“
Mata schüttelte sich. - „Aber sollten wir nicht eigentlich für die Gegenwart leben – oder, noch besser, für die Zukunft?“.
„Gegen die Gegenwart habe ich gerade nichts einzuwenden.“ Heinrich sah sie an. Unter seinem linken Auge war ein kleiner Leberfleck. „Was ich von der Zukunft halten soll, weiß ich nicht so genau. Sie kommt, unablässig, ob wir es wollen oder nicht. So wie auch jetzt. Ich muss leider gehen, ich habe noch eine Verabredung.“
Er winkte Tom zu sich heran und bezahlte die Rechnung, während Mata sich langsam vom Barhocker gleiten ließ. Auf ihrem Weg zum Ausgang konnte sie seine Frage nach einem ´Übermantel` erst nicht verstehen, doch dann deutete sie stumm auf ihr neues Cape, das jetzt allein an einem der Wandhaken hing. Heinrich nahm es herunter und legte es ihr um die Schultern. Sie drehte den Kopf zur Seite, um seinen Geruch noch einmal einzufangen. Zitrone und warmes Holz.
„Auf Wiedersehen, deutsche Freundin“, sagte er draußen vor der Tür. „Ich hoffe, ich kann Sie von hier ab sich selbst überlassen.“
Mata gelang ein Lächeln: „Natürlich, das wäre ja auch sonst so gewesen – nur vielleicht nicht so spät.“
Heinrich wickelte sich den gelben Schal fester um den Hals. „Stimmt. Haben Sie also vielen Dank für die schöne Unterhaltung.“ Er streckte ihr seine Hand hin, und sie hielt sie für einen Moment in ihrer. Dann drehte er sich um und ging davon. Sein Haarwirbel zeigte am Hinterkopf eine kahle Stelle, klein wie ein Pfennigstück. Groß wie das Herz, das irgendwann irgendjemand in Matas Schreibtischplatte geritzt hatte. Er entfernte sich schnellen Schrittes, und sie nahm an, dass er das Parkhaus oben an der Brewer Street ansteuern würde. Aber er bog nach links ab und entzog sich ihrem Blick.
Hinter ihr stürmte eine Gruppe von Gästen aus dem Pub, und Mata war kurz in deren Mitte gefangen, bevor sie lärmend auseinandergingen. Auf ihrem Weg zur Shaftesbury Avenue stolperte sie beinahe über die ausgestreckten Beine einer Bettlerin, die an eine Hauswand gelehnt schlief. Sie fand ein 50-Pence-Stück in der Tasche ihres Capes und legte es der Frau in den Schoß.
Auf dem Oberdeck des Busses war sie allein, bis am Green Park ein älterer Herr die Wendeltreppe erklomm und sich zwei Reihen vor sie setzte. Sein dunkelblauer Wollmantel war sicher einmal teuer gewesen, aber jetzt konnte man sehen, dass der Kragen sich hinten aufzulösen begann. Der Mann lehnte seinen grauen Haarkranz an die Fensterscheibe und brummte im Singsang vor sich hin. Mata erkannte die Melodie von My Way. Vielleicht machte das Lied sie heute Abend deshalb so traurig, weil London in seiner ganzen Pracht um sie herum leuchtete.
Am Montag wurde Mata im Verlag so etwas wie eine Beförderung zuteil, und dabei war ihr Glück direkt an das Unglück der schwangeren Rosalind gekoppelt. Sie wurde von Rupert, dem Cheflektor, in sein Zimmer bestellt und ohne weitere Erklärung über eine unerwartete Vakanz im Lektorat informiert. Davon waren auch die deutschsprachigen Titel betroffen, die dem Verlag angeboten wurden und die nun Mata einer ersten Prüfung unterziehen sollte.
Rosalind war also doch entlassen worden, allerdings nicht ohne eine Abfindung, wie sie später erfuhren. Und auf Matas Schreibtisch lag jetzt neben Marigolds Kritzeleien regelmäßig deutsche Gegenwartsliteratur, die sie anstelle der englischen Romantiker vor dem Einschlafen las. Tags darauf brachte sie im Verlag ihre Kurzgutachten zu Papier, oft über die reguläre Arbeitszeit hinaus. Nur freitags zog sie pünktlich die graue Schutzhülle über die Tastatur ihrer Schreibmaschine. Mata hatte ihren neuen Freundinnen nichts von Heinrich erzählt, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz jedes Mal schneller schlug, wenn ihre Augen im Pub auf etwas Gelbes stießen. Ein Strauß künstlicher Sonnenblumen auf der Fensterbank. Ein Teller mit Zitronen hinter dem Tresen. Ein Wimpel von Leeds United, den jemand an die Wand genagelt hatte. Ein Schal war es nie.