Читать книгу Alma Mata - Susanne Steinfeld - Страница 6
ОглавлениеDer Vogel
Die mächtige Birke liegt quer über dem Waldweg, eine zweite, wenn auch weniger heftige Irritation als die Scherben, die ich heute Morgen im Mülleimer unter der Spüle inspiziert habe. Frau Benrath hatte sie umsichtig in Zeitungspapier gewickelt und ein paar leuchtende Dahlien neben den Zettel mit einer Entschuldigung auf dem Küchentisch gestellt. Ohne dass sie wissen konnte, was der zerbrochene Gegenstand mir bedeutet hat.
Der Sturm heute Nacht muss den Baum gefällt haben. Rechts von mir ist die Bruchstelle, eine starre ausgefranste Wunde, die jetzt selbst verletzen kann. Von ihr aus erstreckt sich der Stamm nach links über den Weg und drückt seinen Wipfel in das Moosbett auf der anderen Seite. Satchmo ist wie immer vorausgelaufen und steht jetzt wedelnd vor dem Hindernis. Früher wäre er mühelos darüber gesprungen, aber er ist kraftlos geworden, und sein schwarzes Fell hat seinen Glanz verloren. Ich habe den Labrador von meinem Vater geerbt, zusammen mit dem Haus am See, das wir gemeinsam bewohnen.
Ich bücke mich und klopfe mit der flachen Hand auf die helle raue Rinde: Hopp! Satchmo rührt sich nicht, sondern sieht mich nur an. Also mache ich entlang der Hürde ein paar Schritte in den Wald hinein, und er läuft hinterher und dann an mir vorbei und vor mir wieder zurück auf den Pfad.
Ich erinnere mich an einen weitaus gewaltigeren Sturm, den Great Storm, in einer anderen Zeit. Allein in England hat er 15 Millionen Bäume gefällt und offiziell 18 Menschen das Leben gekostet. Ich weiß, dass es 19 waren.
Der Waldboden ist durchtränkt vom Regen, der dem Wind in der Nacht vorausgegangen ist, und einzelne Blätter der nassen Laubschicht haften sich an meine Lederstiefel. Wie ein Federschmuck. Ich finde Satchmo unter einer ausladenden Eiche wieder, den schönen alten Kopf unbeweglich nach oben gerichtet. Dort muss irgendwo ein Eichhörnchen sitzen, oder ein Vogel. Ich folge seinem Blick den Stamm entlang, kann aber nichts entdecken. Vom Wasser her kommt schwach der Ruf eines Haubentauchers. Dann ist es wieder still. Ich denke an Ingeborg Bachmanns Gedicht über die rettende Kraft des Erzählens.
Was auch geschieht: du weißt deine Zeit,
mein Vogel, nimmst deinen Schleier
und fliegst durch den Nebel zu mir.
Auch ich weiß meine Zeit.