Читать книгу Adresse unbekannt - Susin Nielsen - Страница 16
ОглавлениеAstrid hatte recht gehabt. Den ganzen August lang im Bus zu wohnen, war der Hammer, sobald ich die erste Enttäuschung überwunden hatte, dass wir nicht weit würden fahren können. Das wurde Astrid klar, als wir zum ersten Mal tanken mussten. Es kostete, wie sie sagte, ein Vermögen. »Tut mir leid, Böna.« Das ist ein anderer Kosename für mich, auf Schwedisch bedeutet er ›Bohne‹. »Aber denk an all die schönen Orte, die wir in und um Vancouver besuchen können! Grouse Mountain, Stanley Park, Wreck Beach …«
»Nicht Wreck Beach!« Wreck Beach ist bekannt dafür, dass Kleidung ›kein Muss‹ ist. Astrid nahm mich immer mit dorthin, als ich klein war. Mit fünf war das noch in Ordnung, aber nun, da ich zwölfeinhalb war, für kein Geld der Welt.
»Na gut. Zimperliese. Ich sag ja bloß, es gibt viele schöne Orte.« Und das stimmte. Wir wohnten im Stanley Park. Wir gönnten uns eine Fahrt den Highway 99 hinauf und bezahlten am Alice Lake fürs Campen. Wir wohnten im Lighthouse Park. Niemand störte uns. Es war wirklich wie ein langer Sommerurlaub in unserer eigenen Stadt. Wir verbrachten die Tage mit Schwimmen, Wandern und Lesen. Selten waren wir weit von einer Bibliothek entfernt. Ich las Bücher wie Eine kurze Geschichte des Fortschritts und Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser und Klassiker wie Große Erwartungen. Astrid stellte ihre Staffelei draußen auf und malte. Die Nächte waren warm und wir hakten das Moskitonetz an der Rückseite des Busses ein, um Luft, aber keine Mücken reinzulassen. Durch die Dachluke konnte ich von meiner Schlafkoje in die Sterne gucken.
Obwohl der einzige Abschluss, den Astrid je gemacht hat, vom Ontario College of Art and Design stammt, ist sie hochgebildet; bevor sie am OCAD landete, war sie fünf Jahre lang auf der Universität und wechselte drei Mal ihr Hauptfach. Wie sie es ausdrückt, weiß sie »ein bisschen über vieles«. Sie hat mir beigebracht, wie man die Sternzeichen am Himmel findet. Sie hat mir Geschichten aus der römischen, griechischen und nordischen Mythologie erzählt. Ich erfuhr von Odin und Thor und Venus und Neptun und Zeus und Apollo.
Kein Abelard. Kein wütender Vermieter. Keine Schule. Keine Marsha.
Es war wunderbar.
Darf ich sagen, dass es sogar ein bisschen magisch war?
Weil es so magisch war, verschoben wir immer wieder die Gedanken an die Zukunft. Astrid schickte ihren Lebenslauf an viele Firmen, um einen neuen Bürojob zu finden, und sie kontaktierte Emily Carr, aber niemand stellte gerade Arbeitskräfte ein. Sie schien sich keine Sorgen zu machen; wir hatten Ersparnisse, genug, um uns eine Weile über Wasser zu halten. Wir schauten uns ein paar Wohnungen an, aber die meisten Vermieter wollten eine aktuelle Lohnabrechnung sehen.
Ein Vermieter warf Astrid anzügliche Blicke zu und sagte, sie bräuchte keine Lohnabrechnung oder Referenzen. Aber die Kellerwohnung war ebenso unheimlich wie er.
»Ich ziehe den Bus vor«, sagte sie.
»Ich auch«, stimmte ich zu.
Aber als der August sich dem Ende zuneigte und die Tage kürzer wurden, mussten wir Entscheidungen treffen.
»Felix«, sagte sie eines Abends, als wir draußen unser Trivial Pursuit aufbauten, »vielleicht müssen wir es noch ein bisschen im Bus aushalten, nur noch einen Monat. Bis ich einen Job habe.«
»Ist okay.« Und wirklich, zu dem Zeitpunkt war es das auch.
»Weißt du, was toll daran ist?«
»Was?«
»Für die siebte Klasse kannst du dich an jeder öffentlichen Schule anmelden, die du willst.« Das waren gute Neuigkeiten. Meine letzten beiden Schulen waren nicht furchtbar gewesen, aber auch nicht super. Ich hatte mich fortwährend unterschwellig einsam gefühlt.
»Wie wär’s mit Blenheim? Die haben ein Französisch-Intensivprogramm, das in der siebten Klasse beginnt. Ich wollte schon immer Französisch lernen.« Ich fügte nicht hinzu, dass das zum Teil auch mit meinem Dad zusammenhing. »Und es ist in Kitsilano.« Meine liebsten Erinnerungen an die Schule stammten aus unserer Zeit in Kits.
Astrids Augen leuchteten auf. »Das wäre perfekt für dich. Et nous pouvons parler français ensemble.« Astrid konnte auch Französisch; ein weiteres Fach, das sie an der Universität studiert hatte.
Doch dann erinnerte ich mich an etwas, das mein alter Freund Dylan mir gesagt hatte. »Blenheim ist die einzige Schule auf der West Side, die ein Französisch-Intensivprogramm anbietet«, sagte ich.
»Und?«
»Und es ist größtenteils eine englischsprachige Schule. Sie haben nur zwei Räume für die Französischklassen. Das heißt, Platz für ungefähr sechzig Kinder. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Dylans Schwester ist reingekommen, aber sie hat sich schon Monate vorher beworben.«
Astrid dachte einen Augenblick nach. »Nicht verzagen. Wir gehen da morgen hin. Und, Felix?« Sie sah mir in die Augen. »Lass mich das Reden übernehmen.«