Читать книгу Adresse unbekannt - Susin Nielsen - Страница 20
ОглавлениеAn meinem ersten Tag in Blenheim war ich so nervös, dass meine Verdauung zur Höchstgeschwindigkeit auflief, was in den besten Zeiten schon nicht gut ist, und wirklich gar nicht gut, wenn man in einem Bus wohnt.
Zum Glück hatten wir in dieser Nacht ein paar Straßen von der Schule entfernt geparkt, gegenüber dem örtlichen Gemeindezentrum. Astrid hatte es so geplant, damit wir eine Möglichkeit hatten, uns morgens frisch zu machen. Innerhalb von einer halben Stunde flitzte ich drei Mal hinüber, um das Klo zu benutzen.
Am Vortag waren wir zu Soleils Haus gefahren, um noch ein paar von unseren Sachen zu holen; dickere Pullis, wärmere Jacken, Schuhe und die Schulsachen, die ich noch vom letzten Jahr hatte.
Als wir ankamen, war die Einfahrt leer und alle Jalousien heruntergelassen.
»Ich glaube, es ist keiner zu Hause«, sagte ich.
»Kein Problem.« Astrid fuhr los. Ich dachte, wir würden wegfahren. Stattdessen bog sie zweimal rechts ab und hielt in einer Gasse hinter Soleils Grundstück.
Meine Eingeweide verkrampften sich. »Was machst du?«
»Reingehen.«
»Mom«, sagte ich. Sie sah mich scharf an; sie mag es nicht, wenn ich sie so nenne. »Wir brechen nicht ein.«
»Wer hat denn was von Einbrechen gesagt?« Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche.
»Soleil hat dir einen Schlüssel gegeben?«, fragte ich, als wir aus dem Bus stiegen.
Astrid öffnete das hintere Tor. »Ja und nein. Sie hat ihn mir für die Dauer unseres Aufenthaltes gegeben. Ich habe ihn nachmachen lassen, bevor ich ihn ihr zurückgegeben habe.«
Meine Eingeweide verkrampften sich erneut. »Dann brechen wir ein.«
Sie steckte den Schlüssel ins Türschloss. »Nicht, wenn wir nur unsere Sachen mitnehmen.«
Ich fing an zu hicksen. Das passiert immer, wenn ich Angst bekomme. »Und wenn sie nach Hause kommen?«
»Werden sie nicht. Sie sind im Urlaub. Ich hab meine Hausaufgaben gemacht.«
»Also hast du es so geplant. Hicks!«
Astrid drückte die Tür auf. Wir wurden von einem schrillen Fiepton begrüßt.
Eine Alarmanlage. Meine Eingeweide erschlafften.
Aber Astrid gab nur einen Code in das Bedienfeld ein und der schrille Ton verstummte. »Böna, alles gut. Soleil wird nie erfahren, dass wir hier waren.«
Schlussendlich verbrachten wir den gesamten Nachmittag dort. Astrid wusch unsere Wäsche. Dann ließ sie im Gästebad ein Schaumbad für mich ein. Mein Widerwillen schmolz dahin, als ich in die Wanne stieg. Es war herrlich. Während ich einweichte und mich abseifte, ließ sie für sich den Whirlpool im Badezimmer volllaufen.
Ich schäme mich ein bisschen, das zuzugeben, aber wir plünderten auch ihre Gefriertruhe. Eine tiefgekühlte Lasagne rief förmlich nach uns. Also wärmten wir sie auf und aßen sie. Astrid entdeckte eine Plastikdose in einer von Soleils Schubladen und tat die Reste hinein, damit ich sie als Mittagessen mitnehmen konnte.
Es war schon ziemlich toll, zum ersten Mal seit einem Monat in einem richtigen Haus zu sein. Also gingen wir nach dem Abendessen immer noch nicht. Wir saßen im Wohnzimmer und guckten Fernsehen, einschließlich meiner Lieblingssendung Wer, Was, Wo, Wann, was wie Jeopardy! auf Steroiden ist. Im Unterschied zu Alex Trebek fuchtelt Horatio Blass, der Moderator von Wer, Was, Wo, Wann, mit den Armen, spricht mit dröhnender Stimme und macht dauernd: »Wuuuuu-huuuuu!«
Ich rief die Antworten, bevor die Kandidaten den Mund aufmachten. Fast immer hatte ich recht. Ich will nicht angeben; es ist einfach so, dass ich ein komisches Talent habe, Fakten abzuspeichern. Und da meine Mom alles von Anthropologie bis Weltgeschichte und obendrein noch englische Literatur studiert hat, habe ich über die Jahre eine LKW-Ladung Fakten aufgeschnappt. »Du bist wie ein Schwamm«, sagte ein Lehrer mal zu mir, nachdem ich aus dem Gedächtnis Martin Luther Kings Rede Ich habe einen Traum rezitiert hatte.
Während wir fernsahen, schweifte mein Blick zu einem riesigen schwarz-weißen Familienporträt, das über dem Kamin hing. Soleil, ihr Ehemann und ihre Zwillingssöhne trugen beinahe identische Kleidung: cremeweißer Pullover mit Rundhalsausschnitt und eine dunkle Hose.
Ich will nicht leugnen, dass ich ein neidisches Ziepen verspürte. Sie sahen so glücklich aus. So reich.
Wir wollten keine Aufmerksamkeit erregen, indem wir Licht anmachten, also hauten wir ab, als es langsam dunkel wurde. Ich möchte betonen, dass wir den Ort makellos hinterließen.
Vielleicht sogar sauberer, als er bei unserer Ankunft gewesen war. Und wir nahmen nur die Lasagne. Und die Plastikdose. Und ein Bier für Astrid und eine Limo für mich.
Ich bin ziemlich sicher, es war bloß ein seltsamer Zufall, dass meine Mutter eine Woche später einen Pullover trug, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Cremeweiß. Rundhalsausschnitt.
Bevor ich zur Schule losging, nahm Astrid mich noch einmal in Augenschein. Wie immer waren meine Haare ein gewaltiger Bausch aus Blond, seidig sauber, und dufteten wunderbar. Ich trug eine Jeans aus dem Secondhandladen – wieso jemand woanders einkauft, ist mir schleierhaft – und mein Lieblings-T-Shirt mit der kanadischen Flagge und dem Spruch MEMBER OF THE EH-TEAM darauf.
»Du siehst klasse aus«, sagte Astrid. »Ich hoffe, es wird ein wundervoller Tag.«
»Ebenfalls.« Sie wollte auf Jobsuche gehen. Sie trug eine graue Stoffhose, Ballerinas und eine ihrer hübschen Blusen. Astrid weiß, wie man einen guten ersten Eindruck macht. Mit den späteren Eindrücken wird es manchmal problematisch.
Ich lief die paar Blocks bis Blenheim. Es war ein herrlicher Tag. Kastanienbäume standen zu beiden Seiten der Straße und ihre Blätter raschelten im Wind. Mein Magen gluckste, weil ich zum Frühstück nur eine Banane gegessen hatte; für mehr war ich zu aufgeregt.
Als ich durch die Eingangstür des alten gelben Backsteinbaus trat, versuchte ich ein Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, das ich nicht verspürte.
Unwillkürlich fiel mein Blick auf einen Jungen ein Stück weiter hinten im Flur. Er sah aus, als wäre er erst fünf Minuten zuvor aufgestanden. Sein gestreiftes T-Shirt und seine Jeans waren zerknittert, seine Haare waren ein krasser Fall von ›eben aus dem Bett gefallen‹ und er hatte versehentlich sein Hemd in seine Unterhose gesteckt.
Ich erkannte ihn sofort.
Es war Dylan Brinkerhoff, mein alter bester Freund.
»Dylan, hallo«, sagte ich mit rauer Stimme.
Er drehte sich um und guckte mich einen Augenblick lang ausdruckslos an. Mir rutschte das Herz in die Hose. Dann öffneten sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen und enthüllten einen Mund voller Metall. »Felix!« Er umschlang mich mit beiden Armen und drückte mich. »Bist du wegen des Französisch-Intensivprogramms hier?« Er sprach mit einem leichten Lispeln, wegen der Zahnspange, als würde sie an seiner Zunge ziehen.
»Ja. Bitte sag mir, du auch.«
»Ich auch! Heißt das, du wohnst jetzt wieder hier in der Gegend?«
»Das heißt es, genau.«
»Das ist so cool! Wo wohnst du?«
Ich blinzelte hektisch. So früh hatte ich die Frage nicht erwartet.
»Auf der West Side, aber gerade noch so. Lange Busfahrt.« Ich sagte mir, dass es sich hier um eine Unsichtbare Lüge handelte.
»Wer ist dein Lehrer?«, fragte er.
»Monsieur Thibault.«
»Meiner auch. Was für ein Zufall!«
Eben wollte ich sagen, dass der Zufall gar nicht so riesig war, da es lediglich zwei Intensivkurse gab, aber ich ließ es sein. »O Mann, das ist so cool!«
Wir hätten uns nicht einiger sein können.
Dylan und ich fanden zwei Sitzplätze in der Mitte der Klasse. Für den Anfang schien das eine sichere Sache zu sein. Ich zählte achtundzwanzig Kinder, die gleiche Anzahl Jungs wie Mädchen. Das übliche Erster-Schultag-Geplapper gab es nicht, die meisten von uns kamen von anderen Schulen, also waren wir alle neu, was ehrlich gesagt eine Erleichterung darstellte.
Ein Mann betrat den Raum. Er wirkte wie ungefähr fünfundzwanzig, hatte dicke, muskulöse Arme und eine breite Brust. Er trug einen schwarzen Bart und einen sorgfältig getrimmten Schnauzer. Und er hatte Tattoos. Jede Menge Tattoos. »Bonjour, je m’appelle Monsieur Thibault. Hallo, ich heiße Mister Thibault.«
Dylan und ich guckten uns an. Monsieur Thibault sah mehr aus wie ein Hells Angel als wie ein Lehrer.
Auf Englisch erzählte er uns, dass er in Québec City geboren und aufgewachsen war und neun – neun! – Brüder und Schwestern hatte. Er erinnerte uns daran, dass wir alle im selben Boot saßen, es also keinen Grund gab, nervös zu sein. Mein S.H.I.T. sagte mir, dass er toll war. »Heute und nur heute werden wir Englisch miteinander sprechen. Ab morgen ist dann alles en français. So, dann stellen wir uns nun nacheinander vor. Erzählt uns, warum ihr diesen Kurs gewählt habt.«
Er fing ganz hinten an und arbeitete sich nach vorn durch. Dann war Dylan an der Reihe. »Ich bin Dylan Brinkerhoff. Meine älteren Schwestern, Cricket und Alberta, waren schon in diesem Kurs. Sie haben gesagt, ich soll ihn auch machen. Ich schätze, deshalb bin ich hier.«
Ich war der Nächste.
»Ich bin Felix Knutsson. Ich bin halb schwedisch, aber ich habe nie richtig Schwedisch gelernt, und ich bin zu je einem Viertel haitianisch und französisch, aber ich kann weder Kreolisch noch Französisch. Und ich mag Sprachen und fordere mich gern selbst, also … hier bin ich.«
Die meisten stellten sich vor wie wir, kurz und bündig und auf Englisch. Dann kam Monsieur Thibault zur letzten Schülerin, die (im Rückblick betrachtet vorhersehbar) in der ersten Reihe saß.
Winnie Wu.
Winnies lange, schwarze Haare waren zu einem französischen Zopf geflochten, mit Absicht, wie mir erst später auffiel. (Französischer Zopf. Kapiert?) Sie trug eine weiße Bluse und einen karierten Rock mit roten Kniestrümpfen und schwarzen Lederschuhen. Um den Hals hatte sie eine goldene Kette mit zwei Anhängern; ein Herz aus Jade und ein kleines goldenes Kreuz. Auf ihrem Kopf saß, kunstvoll drapiert, eine rote Baskenmütze.
»Je suis ici parce-que j’aime beaucoup tous les choses françaises. J’ai acheté les ›listening tapes‹ pour étudier.«
Stille. Die meisten von uns konnten kaum auf Französisch bis zehn zählen; wir hatten keine Ahnung, was sie gerade gesagt hatte. Aber auf Monsieur Thibaults Gesicht leuchtete ein entzücktes Grinsen auf. »Hervorragend, Winnie …«
Winnie war noch nicht fertig. »Mes parents m’ont emmenée à Las Vegas l’hiver passé et j’ai vu la Tour Eiffel, et vraiment, c’était l’amour au premier regard! Maintenant j’aime tous les choses françaises – la cuisine, la culture, le cinéma. Quand nous aurons assez d’argent nous irons visiter le vrai Paris. Et, un jour, je veux vivre en France.«
Monsieur Thibault gab uns die gekürzte Version: »Winnie wurde zu einer begeisterten Frankreich-Liebhaberin, als sie den Eiffelturm gesehen hatte.« Dann hüstelte er. »In Las Vegas.«
Und es war, als wären keine zwei Jahre vergangen, seit ich Dylan das letzte Mal gesehen hatte, denn wir guckten uns an und schmissen uns weg vor Lachen, allerdings auf unsere spezielle Art, die nur wir hören konnten.
Den Rest des Tages machten wir Spiele, um einander kennenzulernen.
Als es zum letzten Mal klingelte, fragte Dylan: »Willst du mit zu mir kommen?«
Ich wollte unbedingt. Aber ich war so gespannt zu erfahren, wie es bei meiner Mutter gelaufen war. »Heute kann ich nicht. Wie wär’s mit morgen?«
»Klar.«
Wir gingen zusammen zu unseren Schließfächern. »Hey, habt ihr immer noch euren Poltergeist?«
Als ich Dylan kennengelernt hatte, war er überzeugt gewesen, dass es in ihrem Haus einen freundlichen, aber oft auch zu Scherzen aufgelegten Poltergeist namens Bernard gab, denn ständig verschwanden seine Sachen.
»Ja! Ich bin ziemlich sicher, dass er erst heute Morgen eine Socke geklaut hat!«
Ich grinste. Ich fand es klasse, dass Dylan immer noch an Bernard glaubte.
Wir verabschiedeten uns. Ich lief zurück zum Bus und klopfte das Geheimsignal. Astrid schob die Tür auf. »Wie war dein erster Tag?«
Ich berichtete ihr von der neuen Schule und von Dylan.
»Das ist toll, Felix.«
»Wie war’s bei dir?«
Sie lächelte. »Ich hab einen Job gefunden. In einem Café in Kerrisdale. Ich habe gesagt, ich hätte sehr viel Erfahrung im Servieren von Kaffee, was im Grunde wahr ist; ich serviere mir selbst jeden Morgen Kaffee.«
Wir klatschten ab. »Astrid, das ist fantastisch.«
»Die Bezahlung ist nicht supertoll, aber ich kann viele Schichten arbeiten und das ganze Trinkgeld behalten. Das ist erst mal okay, bis was Besseres kommt, und in der Zwischenzeit können wir uns nach einer Wohnung umschauen. In ein paar Wochen kann ich einen Arbeitsnachweis abgeben und meine Lohnabrechnung zeigen.«
Wir feierten. Astrid wärmte zwei Dosen vegetarisches Chili auf dem Kocher auf. Ich gab Horatio eine Extraportion Salat. Wir bauten unsere Faltstühle im Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und aßen unser Chili al fresco zusammen mit ein paar rohen Möhren und Gurke. Zum Nachtisch gab es Äpfel und selbst gekaufte Kekse.
Gegen zehn Uhr lagen wir in den Betten und lasen mit unseren Stirnlampen, als es an der Tür des Busses klopfte.
Astrid saß sofort kerzengerade im Bett. »Wer ist da?«
»Nur ein besorgter Nachbar«, sagte eine Männerstimme. »Sie parken hier schon ein paar Nächte lang. Ich frage mich, wen Sie besuchen.«
»Unsere Freunde«, erwiderte Astrid ohne zu zögern. »Wir schlafen hier draußen, damit sie ihre Ruhe haben.«
»Verstehe. In welchem Haus wohnen Ihre Freunde?«
»In dem rosafarbenen.« Rosafarbene Häuser gab es in diesem Wohngebiet überall.
»Die Woodbridges?«
»Ganz genau.«
»Okay. Ich gehe kurz zu ihnen rüber und frage nach.«
»Machen Sie das.«
Ich zog einen der Vorhänge zurück und sah zu, wie er die Straße hinunterlief. Meine Mom kletterte auf den Fahrersitz. »Tut mir leid, Felix. Wir müssen einen neuen Platz für heute Nacht finden.«
Der Mann sah auf, als wir vorbeifuhren.
Astrid grüßte ihn mit dem Mittelfinger.