Читать книгу Adresse unbekannt - Susin Nielsen - Страница 21
ОглавлениеAm nächsten Tag ging ich nach der Schule mit zu Dylan, obwohl ich ziemlich erledigt war. Nachdem wir einen neuen Parkplatz für den Bus gefunden hatten, hatte ich eine ganze Weile gebraucht, um runterzukommen. Ich musste erst sämtliche amerikanischen Bundesstaaten in alphabetischer Reihenfolge im Kopf aufzählen, von Alabama bis Wyoming, und das gesamte Periodensystem durchgehen, bis ich endlich wegdämmerte.
Dennoch war ich aufgeregt, als wir die fünf Blocks bis zu seinem Haus liefen. Es war lange her – und ich meine lange –, dass ich bei einem Freund zu Hause gewesen war, da an meinen letzten Schulen die Hauptzutat gefehlt hatte (Freunde).
Das Haus der Brinkerhoffs war genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Terrasse sah immer noch aus, als würde sie demnächst einstürzen. Die neongelbe Farbe blätterte ab. Das Gras war braun und wuchs ungleichmäßig. Auf dem Rasen lag altes Kinderspielzeug, obwohl Dylan, der Jüngste, seit Jahren nicht mehr damit gespielt hatte. Drinnen konnte man vor lauter rumliegenden Schuhen, Socken, Pullis und Büchern kaum den Parkettboden sehen. Sie hatten Staubflocken, die größer als Horatio waren. In der Küche stand ein Stapel Geschirr in der Spüle, der exakt so aussah wie der Stapel, der sich vor ein paar Jahren dort getürmt hatte. Meine Socken blieben ganz leicht an ein paar Flecken auf dem Boden haften, genau wie früher.
Es war wunderbar. So voller Leben.
Eine riesengroße orangefarbene Katze tapste in die Küche und rieb sich an Dylans Beinen. »Das ist Craig«, sagte Dylan, als er ihn hochnahm. »Er ist zwei. Wir haben ihn letztes Jahr bekommen.« Er hielt mir den Kater hin und ich nahm ihn. Craig schnurrte selig auf meinem Arm.
»Boah. Der wiegt bestimmt zwanzig Pfund.«
»Einundzwanzig.«
Dylans ältere Schwester Alberta spazierte herein. Auch sie sah noch genauso aus wie früher, mit den langen braunen Haaren, dem schielenden Auge und einer einzigartigen T-Shirt-Sammlung. Auf diesem stand: WAS DICH NICHT UMBRINGT, MACHT DICH HÄRTER. AUSSER BÄREN. BÄREN BRINGEN DICH UM. »Oh, wie süß, Dylan hat schon einen kleinen Freund gefunden.« Sie nahm die Milch aus dem Kühlschrank und trank direkt aus der Packung. »Warte mal. Diese Haare würde ich überall wiedererkennen. Du bist Bionicle Depp.«
Ich wurde ein ganz kleines bisschen rot. »Bin ich. Aber ich werde lieber Felix genannt.«
»Ihr seid immer in euren Toy-Story-Schlafanzügen mit euren Lego Bionicles rumgerannt und habt Laserkanonengeräusche gemacht. Rüuum rüuum rüuum! Ha-ha-ha-ha-ha-ha-Hiiee-Hah!« Ihr Lachen war ebenfalls noch dasselbe. »Ihr wart so süß. Voll die Nerds.« Sie betrachtete uns prüfend. »Manches hat sich kein bisschen geändert! Ha-ha-ha-ha-ha-ha-Hiiee-Hah!« Dann schenkte sie jedem von uns ein Glas Milch aus der Packung ein, aus der sie gerade getrunken hatte.
Es war himmlisch.
Kennen Sie das, dass Sie manchmal nicht wissen, wie sehr Sie etwas vermisst haben, bis Sie es wiederkriegen? So ging es mir mit der Tatsache, wieder einen Freund zu haben. Es war so, wie wenn man lange unscharf sieht, dann gibt einem jemand eine Brille und man schaut die Welt um sich herum an und sagt: »Wow! Das hat mir also gefehlt!«
In diesen ersten zwei Wochen ging ich fast jeden Tag zu Dylan nach Hause. Er fragte nie, ob er mit zu mir kommen könnte; sein Zuhause lag so nah an der Schule, es leuchtete einfach ein. Wir machten unsere Hausaufgaben. Er berichtete mir alles über Bernard. »Erst gestern, okay? Ich habe das Catan-Spiel auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen, weil Alberta und ich mittendrin waren. Ich war am Gewinnen. Und heute Morgen waren alle Teile so verschoben, dass es aussah, als würde sie gewinnen. Und ich nur so: ›Bernard, du raffinierter Halunke!‹«
Wir aßen auch. Jede Menge. Die Schränke waren voller Riesenpackungen von Costco. Wir vernichteten Pizza-Pops und Burritos und schoben uns das Essen vor dem Fernseher rein. Da ich seit über einem Monat fast nur Essen aus Dosen zu mir genommen hatte, war das das Allergrößte, im Ernst.
Eines Nachmittags lief eine Wiederholung von Wer, Was, Wo, Wann. »In welchem amerikanischen Kultroman kommt die Figur Becky Thatcher vor?«, fragte Horatio Blass.
»Die Abenteuer des Tom Sawyer!«, schrie ich ganze drei Sekunden, bevor einer der Spieler den Buzzer drückte.
»Wie hieß Hitlers Hund?«
»Blondi.«
»Wer ist der griechische Gott des Weins?«
»Dionysos.«
Irgendwann fiel mir auf, dass Alberta – die aus der Küche hereingekommen war – und Dylan mich anstarrten. »Wow. Eierkopf«, sagte Alberta.
Dylan warf ein Kissen nach ihr. »Du bist gut, Felix. Echt gut.« »Besser als mein Freund Henry«, sagte Alberta. »Und der ist an unserer Schule im Schülerquiz-Oberstufenteam.«
»Alberta war in der Unterstufe dabei, aber fürs Oberstufenteam war sie zu blöd«, erklärte Dylan.
Alberta schmiss das Kissen zurück und ging aus dem Zimmer.
»Du solltest dich da bewerben«, sagte Dylan.
»Kann ich nicht. Man muss mindestens achtzehn sein.« Craig sprang auf die Couch und streckte sich laut schnurrend rücklings zwischen uns aus.
»Das ist ja doof. Du könntest voll gewinnen!«
»Das bezweifle ich«, sagte ich. »Aber danke.«
Ich ging immer, bevor Dylans Eltern nach Hause kamen. Ich mochte die Brinkerhoffs und ich hatte keine Lust, Fragen über meine Mom und darüber, wo wir wohnten, beantworten und vielleicht lügen zu müssen.
Anders als einige Leute, die ich kenne, bin ich ein miserabler Lügner.
Mit Astrids Job lief es gut. Manchmal ging ich von Dylan aus zum Café und blieb bis zum Ende ihrer Schicht dort. Sie schob mir dann einen unbezahlten heißen Kakao hin, und wenn sie nichts zu tun hatte, führte sie simple Unterhaltungen auf Französisch mit mir. Das half, denn im Unterricht sprachen wir jetzt ununterbrochen Französisch. Es war für alle schwer.
Mit Ausnahme von Winnie Wu.
Gegen Ende unserer zweiten Woche teilte Monsieur Thibault uns in Zweiergruppen ein und wies uns je ein Bilderbuch zu. Wir mussten einen kurzen Text auf Französisch darüber schreiben.
»Felix, du wirst mit Winnie zusammenarbeiten.«
Beinahe hätte ich laut aufgestöhnt.
Winnie Wu war wie ein gigantischer Tritt in den derrière, um das französische Wort zu gebrauchen. Sie konnte einfach nicht aufhören zu reden. Oder Fragen zu stellen. Über alles.
»Sir, haben Sie schon mal escargots gegessen? Ich habe sie in Paris Las Vegas probiert.«
»Sir, nehmen wir nicht auch irgendwann das passé simple durch?«
»Sir, wer hat entschieden, welche Wörter feminin sind, la, und welche Wörter maskulin, le?« Nichts, aber auch gar nichts konnte sie einfach mal so stehen lassen, ohne etwas dazu zu sagen, und das alles in irritierend gutem, selbst erlerntem Französisch. Mein S.H.I.T. sagte mir, dass sie manchmal sogar Monsieur Thibault auf die Nerven ging. Wenn sie die achtzehnte Frage des Tages stellte, sah ich, wie er tief Luft holte, ein paar Sekunden lang den Atem anhielt und dann langsam ausatmete.
Und nun sollte ich mit ihr zusammenarbeiten.
Dylans fieses Grinsen entblößte seine Eisenwaren. Viel Glück, du Lutscher, formte er lautlos mit den Lippen.
Ich saß Winnie schräg gegenüber. Sie trug eine andere Bluse und einen anderen karierten Rock und ihre Baskenmütze war grün. Mir fiel ebenfalls auf, dass sie eine tadellose Haltung hatte, gerade weiße Zähne und natürlich rote Lippen, die niemals aufhörten, sich zu bewegen.
»Wir müssen das Offenkundige kritisch hinterfragen«, sagte sie.
»Wir müssen die tiefgründigeren Implikationen thematisieren, mit denen Walter und seine Eigentümer im Verlauf dieser speziellen Misere konfrontiert sind. Liegen hier zum Beispiel gewichtigere Themen vor, die wir noch nicht aufgedeckt haben …«
»O Gott!«, platzte ich auf Englisch heraus. »Er ist ein furzender Hund!« Wir hatten das Buch Walter le Chien qui Pète zugeteilt bekommen.
»Felix, en français, s’il vous plaît«, sagte Monsieur Thibault.
Unser ›kurzer Text‹ wurde zwei Seiten lang, mit einfachem Zeilenabstand. Immerhin kriegten wir eine Eins. Aber ich sagte zu Dylan, dass ich nie, nie wieder mit Winnie Wu zusammenarbeiten würde.
Diesen Eid legte ich an einem Freitag ab.
Und brach ihn am darauf folgenden Montag.