Читать книгу Adresse unbekannt - Susin Nielsen - Страница 19

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Hi, ich bin Astrid Knutsson, und das ist mein Sohn Felix.« Wir standen im Sekretariat der Blenheim Public School. Astrid hatte ihre hübscheste Bluse im Landhausstil angezogen und Lippenstift aufgelegt. »Wir haben im Frühling die Anmeldeformulare für das Französisch-Intensivprogramm geschickt und waren den ganzen Sommer über außer Landes.«

Der Sekretär saß hinter dem Tresen am Computer und spielte Solitär. Er beendete das Spiel und öffnete einen Ordner. »Können Sie bitte den Nachnamen buchstabieren?«

»K-N-U-T-S-S-O-N. Ich war überrascht, dass keine Formulare da waren, als wir gestern Abend zurückkamen, deshalb dachten wir, wir kommen einfach vorbei.« Sie lächelte. Sie hat ein strahlendes Lächeln.

Der Sekretär runzelte die Stirn. »Wir haben keine Bestätigung, dass sein Anmeldeformular eingegangen ist.«

»Oh, aber es muss da sein. Es war vermutlich eines der ersten, die Sie erhalten haben, wenn Ihnen das hilft.«

Nun stand er auf und ging zu einem Aktenschrank. Er sah einen Ordner durch, einmal, zweimal. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Es ist nicht hier.«

»Das verstehe ich nicht. Es muss da sein. Wir haben uns absichtlich früh beworben. Felix träumt seit zwei Jahren davon.«

»Seit zwei Jahren«, wiederholte ich und ließ meine Stimme zittern, was, wie ich fand, dem Ganzen eine hübsche Note gab.

Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Mrs Knutsson …«

»Ms«, korrigierte sie. »Alleinerziehend. Wie ist Ihr Name?«

»Obasi.«

»Obasi, das muss ein Irrtum sein. Vielleicht hat es jemand verlegt?«

Obasi reagierte gereizt auf diese Andeutung. »Die einzige Person hier bin ich.«

»Nun, dann kann es nicht sein«, sagte Astrid rasch.

»Es sei denn …«, sagte Obasi. »Eine Aushilfe ist Ende März eingesprungen, als ich krank war.«

»Genau da haben wir es geschickt!« Im Ernst, Astrid ist echt schlagfertig. Sie drehte sich zu mir um. »O Gott, Felix, es tut mir so leid.«

»Aber – das war alles, was ich wollte. Seit Jahren.« Ich schaffte es sogar, ein bisschen feuchte Augen zu bekommen, richtig gut. »Je veux lernerer le français«, fügte ich hinzu, um den Effekt zu verstärken.

Astrid drückte mich an sich. Ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Das ist alles meine Schuld. Ich hätte eine Kopie von den Unterlagen machen müssen. Ich hätte überprüfen müssen, ob sie angekommen sind.«

»Aber, aber«, sagte der Sekretär. »Geben Sie sich nicht die Schuld.«

»Haben Sie Kinder, Obasi?«

»Noch nicht. Aber mein Mann und ich versuchen ein Kind zu adoptieren.«

»Das ist ganz wunderbar. Sie werden die Verantwortung der Elternschaft teilen können. Ich möchte nicht lügen, es ist schwer, alles allein machen zu müssen. Und nun habe ich es wirklich vermasselt.«

»Sie haben nichts falsch gemacht. Es war vermutlich die verdammte Aushilfe.«

Astrid hatte ihn am Haken. Jetzt musste sie ihn nur noch einholen. »Gibt es denn gar nichts, was wir tun können?«

Obasi schaute sich um und senkte die Stimme. »Ich darf das eigentlich nicht, aber … erst heute Morgen ist ein Platz frei geworden. Normalerweise sollte ich in diesem Fall auf die Warteliste zurückgreifen … Aber in Anbetracht der Tatsache, dass Sie schon vor Urzeiten das Formular eingeschickt haben …«

»Das würden Sie wirklich tun?«, fragte Astrid.

Obasi nickte. Ich entzog mich Astrids Umarmung. »Danke!«, sagte ich. »Danke, danke, Sie haben mich zum glücklichsten Jungen der Welt gemacht! Gott segne uns alle miteinander!«

Ich bin nicht sicher, warum ich Tiny Tim aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte zitierte, aber Astrid war es ganz eindeutig zu viel, denn sie stieß mich mit dem Ellbogen in die Rippen.

Obasi schob ein paar Unterlagen über den Tresen. »Füllen Sie das aus.«

Astrid schenkte ihm ein weiteres strahlendes Lächeln. »Obasi, Sie haben soeben Ihre gute Tat des Jahres begangen. Vielen, vielen Dank.«

Er lächelte zurück. »Das bleibt unser kleines Geheimnis.«

»Oh, auf jeden Fall.«

Ich saß neben Astrid, während sie die Formulare ausfüllte. Mir fiel auf, dass sie unter Eltern oder Vormund einzig und allein ihre Daten eintrug.

Beim Feld Adresse hielt sie inne. Sie warf einen Blick zu Obasi, der in eine neue Runde Solitär vertieft war. Dann zeigte sie auf das Blatt. Ich las, was da stand: Die Adresse muss sich im Einzugsgebiet West Side befinden. Bitte stellen Sie einen Beleg Ihrer Anschrift in Form eines behördlich ausgestellten Identitätsnachweises oder einer Telefon- oder Nebenkostenabrechnung zur Verfügung.

Das war ein Stolperstein. Bislang hatte sie unsere Post zu einem Postfach im Osten von Vancouver weiterleiten lassen, nicht im Einzugsgebiet.

Astrid stand auf. »Obasi, ich habe ganz offenbar meinen Morgenkaffee noch nicht getrunken. Ich habe einige relevante Unterlagen zu Hause vergessen. Hier sind alle anderen Formulare. Ich bitte Sie, vergeben Sie den Platz nicht. Wir kommen gleich morgen früh mit dem Rest.«

Er runzelte die Stirn. »Bis zehn Uhr morgen Vormittag kann ich ihn frei halten, aber länger nicht.«

»Kein Problem.« Sie ließ ihr Lächeln ein letztes Mal erstrahlen. Später im Bus saß sie auf dem Fahrersitz und schwieg. Ich wusste, dass ich still sein musste, sie versuchte auszuknobeln, was sie als Nächstes tun sollte.

Nach ein paar Minuten drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. »Keine Sorge. Ich hab’s.«

Wir warteten bis sechs Uhr abends. »Ich muss sichergehen, dass er von der Arbeit zu Hause ist«, sagte Astrid. Sie führte nicht weiter aus, wer ›er‹ war.

Um Punkt 18.01 Uhr fuhren wir eine Einfahrt in Kitsilano hoch. Vor dem Haus standen Fahrräder und ein Trampolin. »Hey«, sagte ich. »Das ist Caitlins Haus.« Ich war mit ihr zur Schule gegangen, damals, zu Zeiten unserer Eigentumswohnung. »Wieso sind wir –«

Astrid hielt bloß eine Hand hoch und sprang aus dem Wagen. »Warte hier.«

Ich beobachtete, wie sie zur Haustür lief und klopfte. Caitlins Vater, Mr Poplowski, öffnete.

Ich könnte schwören, er war perplex, als er meine Mom sah. Er schloss die Tür hinter sich und trat unter das Vordach, als wollte er nicht, dass jemand aus seiner Familie sie sah.

Sie redeten eine Weile. Er wirkte aufgebracht. Dann ging er wieder hinein. Astrid drehte sich um und streckte den Daumen hoch. Im Gegensatz zu Mr Poplowski wirkte sie vollkommen entspannt.

Ein paar Minuten später ging die Tür wieder auf. Mr Poplowski gab meiner Mom ein paar Papiere. Dann schlug er die Tür hinter sich zu.

Astrid hüpfte praktisch zum Bus zurück. »So. Das wäre erledigt.«

»Was hast du gemacht?«

»Wir brauchen eine Adresse. Er hat mir eine verschafft.«

»Wir geben der Schule Caitlins Adresse?«

Sie lachte. »Nein, nein. Ihr Vater lässt uns die Adresse seiner Anwaltskanzlei auf dem Broadway benutzen. Büros im Erdgeschoss, in den oberen Etagen Wohnungen, aber die Schule wird den Unterschied nicht bemerken. Wir können unsere gesamte Post dorthin weiterleiten lassen.«

»Und das ist für ihn in Ordnung?«

Sie fuhr los. »Er hat keine andere Wahl.«

»Aber warum …«

»Felix. Es reicht mit den Fragen.«

Ich hielt die Klappe. Aber ich dachte an das letzte Mal, als ich Mr Poplowski gesehen hatte.

Es war im Winter gewesen. Damals wohnten wir in unserer Eigentumswohnung. Auf dem Weg zur Schule ging es mir noch gut, aber später am Vormittag musste ich mich plötzlich übergeben. Die Schulkrankenschwester sagte, ich würde die Grippe kriegen. Sie rief meine Mom ein paarmal bei der Arbeit an, aber es ging niemand ran, also sagte sie, ich solle mich auf die Pritsche in ihrem Büro legen. Irgendwann wurde mir langweilig. Als die Schwester auf die Toilette ging, schlich ich mich hinaus. Ich wollte einfach nach Hause laufen und mich dort hinlegen, denn wenigstens hatten wir einen Fernseher.

Ich schloss die Wohnungstür auf. Meine Mom war da – mit Mr Poplowski. Er zog gerade seine Schuhe an. »Hey, Felix, alter Kumpel! Was machst du denn schon zu Hause?« Er klang übertrieben enthusiastisch.

»Caitlins Vater ist Anwalt«, sagte meine Mom. »Er hat mir mit dem Vertrag für die Eigentumswohnung geholfen.«

Mir war schwindelig, und außerdem war ich erst acht oder neun, also stellte ich keine Fragen. Aber mein S.H.I.T. fand es sonderbar, dass meine Mom einen geschäftlichen Termin im Bademantel wahrnahm.

Ich will gar nicht allzu viel darüber nachdenken. Aber ich schätze, Caitlins Dad war es lieber, an einer kleinen Lüge beteiligt zu sein als eine große Lüge ans Tageslicht kommen zu lassen.

Auf dem schnellsten Weg fuhren wir zur Bibliothek in Kits. Astrid nahm eines der Blätter, die Caitlins Dad ihr gegeben hatte: eine Stromrechnung seiner Anwaltskanzlei. Sie fuhr einen Bibliothekscomputer hoch und fand eine Schriftart, die der auf der Stromrechnung glich. Sie tippte ihren Namen, Astrid Knutsson, und druckte ihn aus. Dann schnitt sie ihn vorsichtig aus und klebte ihn auf Mr Poplowskis Namen. Sie kopierte die Rechnung und zeigte mir das Ergebnis.

Sah gut aus. Echt.

Am nächsten Morgen um exakt 9.01 Uhr betraten wir das Sekretariat. »Ah, perfekt«, sagte Obasi. »Da sind Sie ja.« Astrid reichte ihm die Rechnung und er begutachtete sie. »Normalerweise nehmen wir keine Kopien an. Wir haben am liebsten das Original.«

»Die Originale sind momentan bei meinem Steuerberater.«

»Ist in Ordnung. Bringen Sie einfach bei Gelegenheit eine vorbei.« Obasi lächelte mich an und streckte den Arm aus. Wir schüttelten uns die Hand. »Herzlichen Glückwunsch, Felix. Wir sehen uns nächste Woche.«

Ich war glücklich – regelrecht aufgedreht –, als wir wieder in den Bus stiegen. Der August war toll gewesen, aber ich freute mich darauf, wieder unter Gleichaltrigen zu sein, vielleicht sogar einen oder zwei Freunde zu finden.

Astrid startete den Wagen nicht. »Damit wir uns richtig verstehen, Felix. Es ist am besten, wenn du deinen neuen Klassenkameraden nichts davon erzählst.«

»Wie du mich in den Kurs gekriegt hast?«

»Nein. Na schön, ja. Das auch. Aber ebenso über unsere derzeitige Wohnsituation.« Sie deutete auf den Bus. »Du und ich, wir beide wissen, dass es ohne jeden Zweifel vorübergehend ist. Aber andere Leute … verstehen das vielleicht nicht. Wir wollen niemandem Anlass geben, das MKFE anzurufen.«

Ein Kälteschauer durchzuckte mein Herz.

MKFE. Ministerium für Kinder- und Familienentwicklung.

An die waren wir schon mal geraten, im April. Astrid und Abelard hatten in der Nacht zuvor eine ihrer spektakulären Auseinandersetzungen gehabt. Am nächsten Morgen stand ein Sozialarbeiter mit einem Haufen Fragen vor der Tür. Vermutlich hatte unser Vermieter dort angerufen, weil er über uns wohnte. Vielleicht hatte er sich Sorgen gemacht, dass ich körperlich misshandelt wurde. Ich nicht. Abelard hat sich an mir nie vergriffen. Wie dem auch sei. Aus dieser Erfahrung und den Geschichten, die meine Mom mir erzählt hatte, wusste ich, dass man lieber nicht auf dem Radar des MKFE auftauchen sollte. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einer Million Jahre. Also sagte ich:

»Okay.«

Nicht über meine Wohnsituation zu reden, erschien mir zu dem Zeitpunkt als keine große Sache.

Wie Astrid sagte, es war vorübergehend.

Im Handumdrehen würden wir wieder eine Wohnung haben.

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