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Irgendwann musste ich trotz rasender Gedanken eingeschlafen sein. Schließlich wachte ich am nächsten Morgen auf und saß gleich darauf senkrecht im Bett. In Rekordschnelle machte ich mich fertig. Doch als ich mich unten umsah und weit und breit keinen Tristan entdecken konnte, glaubte ich schon, alles geträumt zu haben.

Natürlich konnte ich Tim ausgerechnet jetzt nicht in Mexiko erreichen. Also versuchte ich, mich mit Unkraut jäten abzulenken. Doch immer wieder unterbrach ich die Arbeit, um im Hausflur auf ein Geräusch von oben zu warten.

Es wurde Nachmittag und noch immer war keine Spur von Tristan zu sehen. Da erst wagte ich mich hinauf. Ich legte das Ohr an seine Tür und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Ich wusste nicht, wie lange ich an dem Holz horchte, und als ich endlich zur Überzeugung gekommen war, dass er nicht da war, öffnete ich die Tür.

Das Zimmer war so leer wie die Wände. Das Bett war gemacht. Ich runzelte die Stirn. Wann hatte er das Haus verlassen? Hatte er überhaupt hier geschlafen?

Ich schrak zusammen, als ich im Erdgeschoss mein Handy klingeln hörte. Um ein Haar hätte ich vergessen, Tristans Zimmertür wieder zu schließen. Ich kam gerade noch rechtzeitig ins Esszimmer, um Tims Anruf aufzugreifen.

«Bin da!», hechelte ich in den Lautsprecher.

«Huch, hast du Sport gemacht?»

«Nein.»

«Fasst du dich gerade an?»

Empört starrte ich auf das Handy. «Nein! Ich war nur oben und habe mich beeilt, um ans Handy zu kommen.»

«Dachte schon, die Villa hat eine aphrodisierende Wirkung auf dich.»

«Jaja, du mich auch.»

Dann ließ ich ihn reden. Er war gerade von seiner ersten Schnorcheleinheit zurück und überschlug sich fast vor Superlativen. Während Tim von Korallenriffen und vorbeifliegenden Rochen erzählte, merkte ich, wie idiotisch es wäre, von meiner nächtlichen Begegnung in der Küche zu berichten. Immerhin kannte er meinen Eisprinzen nicht einmal. Ich entschied, diese Lappalie für mich zu behalten, lieh Tim noch für eine halbe Stunde mein Ohr und widmete mich anschließend meiner Bachelorarbeit.

So sehr es mich freute, dass mein Freund den Sommer seines Lebens hatte: Ich fühlte mich dadurch nur noch einsamer. Die Lektüren zum teleologischen Geschichtsbild machten es nicht besser. Aber ich hatte es mir ja so ausgesucht.

Nachdem ich es mir auf meinem Bett inmitten von Notizen und Büchern zu Kriegserzählung, Paradigmenbildung und der Rekonstruktion von Bedeutung gemütlich gemacht hatte, war ich bald wieder in meiner eigenen Welt versunken. Es reichte ein Türklopfen, um mich aufzuschrecken. Ich fuhr einmal senkrecht mit dem Farbmarker durchs Papier.

Verärgert rief ich «Herein» und zuckte direkt noch einmal hoch, als mein Eisprinz im Raum stand. Natürlich hätte es außer ihm schwierig jemand anderes sein können, aber seine reine Anwesenheit sorgte für Hochspannung in mir.

Tristan sah sich erstmal seelenruhig im Zimmer um, als wäre ich gar nicht da. Was nicht so schlimm war, denn ich war ohnehin kurz sprachlos. Vor allem wegen seines Tops, das dermaßen locker hing und an den Seiten so weit ausgeschnitten war, dass ich nicht nur seine Achseln, sondern die Hälfte seiner Brust bis zu den schlanken Leisten sehen konnte. Das hatte eindeutig eine aphrodisierende Wirkung auf mich. Ich musste mich regelrecht zwingen, den Blick von dem gewagten Hemdchen zu nehmen. Gerade rechtzeitig, als mein Gegenüber auch mir seine Aufmerksamkeit schenkte.

«Du hast dich hier ja schnell eingelebt mit deiner kleinen Bibliothek.»

Ich konnte ihn noch nicht einschätzen, aber das klang fürs Erste nicht nach einem herzlichen Willkommensgruß. «Ja, na ja», wiegelte ich ab. «Ich sitze nur momentan an der Bachelorarbeit und hatte noch Platz im Koffer.»

Tristan rümpfte die Nase wie zur Kenntnisnahme und tastete mit den Augen meine Bücher ab, die noch im Regal standen, was mich nervös machte. «Worüber schreibst du?», fragte er unverhofft und ohne den Blick von den Büchern zu lassen.

Das brachte mich in eine Zwickmühle. Ich wollte kein Arschloch sein. Aber ich wusste wirklich nicht, wie ich jemandem, der seinen hübschen Kopf in erster Linie benutzte, um damit zum Friseur zu gehen, begreiflich machen sollte, woran ich arbeitete. Trotzdem versuchte ich es.

«Retrospektive Sinnstiftung in der Geschichtswissenschaft. Ich analysiere militärische Operationspläne und Kriegsberichte. Grob gesagt geht es um die nachträgliche Zuschreibung von Bedeutung. Wenn A, dann B, sozusagen. Nur eben rückwärts gedacht. Als Interpretation der Ereignisse.»

Wahrscheinlich hielt er mich hiernach nicht nur für einen Trottel, sondern auch für einen totalen Nerd. Allerdings war das schwierig abzuschätzen, denn Tristan zeigte mir nach wie vor nicht mehr als seinen Rücken. Der zugegebenermaßen kein so ganz reizloser Anblick war. Erst mit deutlicher Verzögerung deutete sein platinblonder Hinterkopf ein Nicken an.

«So wie Karma?»

Ich war nicht weniger als beeindruckt. «So ähnlich. Aber es geht schon um Fakten. Wie bei der Evolution. Oder der Klimaerwärmung.» ‹Oder der Tatsache, dass ein Vater durch den Schock über seinen schwulen Sohn einen Schlaganfall erleidet und voraussichtlich nie wieder sprechen kann.› Ich verscheuchte den Geistesblitz und lächelte Tristan krampfhaft an, als er mich endlich wieder ansah.

«Oder Religion?», führte er die Liste mit zynischem Gesichtsausdruck fort. Er musste mich für gläubig halten. Wollte er mir mit der blasphemischen Bemerkung eins reinwürgen? Seine goldbraunen Tigeraugen durchbohrten mich. «Ich glaube da eher an den freien Willen.»

Ich unterdrückte ein Schnaufen. Der freie Wille … das war wohl die elitärste Formel, seit Nietzsche Gott getötet hatte. Es wunderte mich nicht, dass er so dachte. Wenn ich in so einer Villa aufgewachsen wäre und dieselbe süße Luft atmen würde, würde ich vermutlich auch daran glauben. Um das Thema zu wechseln, kam es wie gerufen, dass ich nun an der Reihe war, seine Frage zurückzuspielen. Das gebot die Höflichkeit.

«Was studierst du?»

Tristan schlenderte ein Stück weiter durch das Zimmer und taxierte den Schreibtisch aus der Distanz mit schief gehaltenem Kopf. Als er den Zeigefinger ausfuhr, wie um das Möbelstück auf Staub zu testen, wollte ich sagen, dass er das bitte lassen sollte. Doch weil das hier sein Zuhause war, wollte ich nicht taktlos sein und konkretisierte stattdessen meine Frage.

«Fiona meinte, du seist auf der Akademie, deshalb …»

«Architektur.»

«Wie deine Eltern also. Gefällt …»

«Ich habe abgebrochen», beendete Tristan mein Verhör. «Ich mochte daran eigentlich nur das Zeichnen.»

«Oh, cool.»

«Cool, ja», sagte er mit hörbarer Ironie und spazierte zurück zur Tür. Seine Überheblichkeit ärgerte mich. Bitte, dann kein Smalltalk mehr. Sollte mir recht sein und so kam ich übergangslos zur Sache, wenn er es schon nicht tat.

«Also. Kann ich irgendwas für dich tun?»

Nicht einmal das schien er beantworten zu wollen und lehnte sich stattdessen lieber in den Türrahmen. War er auf Drogen? Ich wollte die Frage schon wiederholen, als er sich dann doch zu einer Antwort herabließ. Oder besser zu einer Gegenfrage. «Hat Fiona gesagt, wann sie wieder da ist?»

«Nein. Vielleicht am Wochenende.»

«Und mein Vater?»

«Von ihm weiß ich nichts.»

Ich beobachtete, wie Tristan den Kopf in den Nacken kippte und ziemlich sicher mit den Augen rollte. «Sonst noch was?», fragte ich nicht minder genervt.

«Es ist kein Klopapier mehr da.»

Ich rollte die Unterlippe ein. «Okay, ich lese noch den Satz zu Ende und gehe dann Neues kaufen.»

«Bestens.»

Das war’s. Ein episches Ende für einen epischen Dialog.

Ich beendete den Satz nicht. Als er weg war, knallte ich mein Buch zu. Ihr würdet euch garantiert prächtig verstehen, hörte ich Fiona in Gedanken sagen. Dann stand ich auf und ging Klopapier kaufen.

Unter kalten Duschen

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