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Kapitel 1: Neue Aufgaben 1

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Ich hasste den Sommer. Vor allem, wenn er schon im Frühling anfing. Es war gerade Mai und fühlte sich wie Juli an. Nicht einmal auf die Jahreszeiten konnte man sich verlassen. Das dachte ich, als ich auf einem Stuhl des Cafés im Freien Platz nahm.

Nach der friedlichen Begrüßung meines Freundes hatte ich mich in Sicherheit gewähnt. Wir plauderten kurz, bevor er unverhofft das Feuer auf mich eröffnete.

«Warst du schon bei deinem Vater?»

Bei den Worten verkrampfte sich mein Magen wie auf Kommando. Ich verfluchte mich für meine Naivität. Dabei hätte ich damit rechnen müssen, dass Tim mich nicht verschonen würde. Nicht nachdem er mich seit Wochen zu dem Gipfeltreffen gedrängt hatte. Immerhin war ich genau deshalb hier. Gewissermaßen hatte ich sogar Anlauf genommen, um ins kalte Wasser zu springen. Dennoch fühlte ich mich unvorbereitet.

«Noch nicht», wich ich aus. Zusätzlich zum verbalen Angriff wirkte das Fenster des Cafés wie ein riesiges Brennglas, das die Sonnenstrahlen in der schmalen Stelle zwischen meinen Schulterblättern bündelte, sodass ich von beiden Seiten ins Schwitzen kam.

«Aber das wirst du noch, oder?» Als ich nicht antwortete, kniff Tim die Stirn zusammen. «Du weißt, was wir besprochen haben. Jona …» Mein Name war ein einziger Vorwurf aus seinem Mund.

«Ich soll nach vorne schauen und tun, wonach mir ist?», wiederholte ich eine der vielen Quintessenzen unserer letzten Gespräche.

«Nein! Auch. Aber zuerst musst du mit der Vergangenheit aufräumen. Es ist wichtig, dass du zu deinem Vater gehst, jetzt, wo er wieder zu Hause ist.»

«Ich weiß.»

«Du musst ihm zeigen, dass es dir leidtut.»

«Ja.»

«Dass du ihn nicht absichtlich verletzen wolltest. Er wird sicher verstehen …»

In der Ferne sah ich, wie die Hitze auf dem Asphalt waberte, als wäre die Straße zu Wackelpudding geworden, der drauf und dran war, sich in Luft aufzulösen. Ein Auto rollte vorbei und nahm mir die Sicht.

«Ich fahre gleich zu ihm», unterbrach ich meinen Freund. Als ich seinen verwirrten Blick sah, bemühte ich mich um ein Lächeln. «Und wann startest du deinen großen Trip?»

Kurz sah es so aus, als würde Tim den Themenwechsel nicht durchgehen lassen. Im letzten Moment gewann dann aber sein Mitteilungsbedürfnis über den Drang, mich festnageln zu wollen. Ich war erleichtert, als er seine Sorgenmiene fallen ließ und stattdessen zu strahlen begann.

«In drei Tagen geht’s los!» Aufgeregt erzählte er mir, wie er bald die Küste Mexikos erkunden, auf den Spuren der Mayas wandeln und hoffentlich beim Tauchen seinen ersten Hai sehen würde. Natürlich im Beisein seiner Freundin Jenny.

Tim redete und redete und ich schweifte gedanklich ab und wusste nicht, was ich die Semesterferien ohne ihn machen sollte. Seitdem ich wegen des Studiums in Düsseldorf lebte, war Tim der einzige Freund, den ich noch hatte. Nicht dass ich je besonders viele Freunde gehabt hätte. Doch jetzt musste ich immer mit dem blöden Zug nach Essen gondeln, um ihn zu treffen. Zudem waren die Besuche noch seltener geworden, seit er mit Jenny zusammen und die Sache mit meinem Vater passiert war.

Zum Glück gab es noch Handy und Telefon. Damit überbrückten wir jeden Mittwochabend um sieben für eine Stunde die Entfernung zwischen uns. Wir quatschten dann darüber, wie unsere Woche gelaufen war, und brachten uns gegenseitig auf den neusten Stand. Der aktuell so aussah, dass mein bester und einziger Freund mal eben für zwei Monate die Biege nach Übersee machen und ich den ganzen Sommer in Zwangsisolation verbringen würde.

«Ich schicke dir Fotos. Vielleicht lege ich für die Reise auch einen Blog an, dann weißt du immer, wo ich bin und kannst die Botschaft alarmieren, wenn ich irgendwie verschwinden sollte. Mit Telefonieren könnte es ja schwierig werden in Mexiko.»

‹Logisch›, dachte ich. Würde Tim mich sogar im Urlaub regelmäßig anrufen, würde Jenny ihm wohl den Hals umdrehen. Oder eher mir. Schließlich war sie schon jetzt kein Fan von mir und den ständigen Mittwochstelefonaten. Was ich ihr nicht einmal verübeln konnte, denn mit Sicherheit hatte Tim ihr erzählt, dass ich schwul war. Und nur weil er und ich wussten, dass das nichts mit unserer Freundschaft zu tun hatte und auch nie haben würde, fanden andere die Sache bestimmt nicht weniger komisch.

Von dem Gedanken wurde mir ein bisschen schwindelig. Als der Kellner vorbeikam, bestellte ich mir kurzerhand zwei Gläser Cola. Mittlerweile zuckte Tim bei so einer Bestellung nicht einmal mehr mit der Wimper. Was mich freute, weil es tierisch nervte, immer auf meinen Cola-Konsum angesprochen zu werden. Noch so eine Sache, die bei mir anscheinend nicht normal war.

«Freut mich», sagte ich, als der Kellner weg war. «Ich hoffe, ihr zwei habt da unten eine richtig gute Zeit. – Was denn?»

Tim grinste mich mit schiefem Mund an: «Du bist ein erbärmlicher Lügner, Jona!»

«Was? Was habe ich denn gesagt?»

«Ich weiß, dass du es nicht toll findest, den Sommer allein zu sein. Tut mir leid.»

Tims Gesicht wurde mit einem Schlag wieder ernst und ich begriff sofort. «Braucht es nicht», sagte ich schnell.

Dann tauchte der Kellner neben mir auf und ich streckte die Hände nach den beiden Gläsern wie nach einem Rettungsring. Direkt nahm ich einen so großen Schluck, dass ich fast ertrunken wäre. Wenigstens war ich abgehärtet genug, um bei anhaltendem Blick ins Cola-Glas nicht vor lauter Kohlensäure in Tränen auszubrechen.

«Na ja», hörte ich Tim sagen – ohne diesen heiseren Unterton in der Stimme, den er seit Kurzem häufiger hatte, wenn wir sprachen. «So langweilig wird dein Sommer vielleicht gar nicht. Ich habe da nämlich einen kleinen Überfall auf dich vor. Du erinnerst dich doch bestimmt an meinen Semesterferienjob, oder?»

«Hausmädchen spielen?», fragte ich irritiert. Dass er nach dieser Ankündigung seinen Ferienjob ins Spiel brachte, beunruhigte mich ein wenig.

«Na ja, Hausmädchen. Eher Babysitter, ein bisschen Putzen, Gärtnern … sowas. Du kennst dich doch mit Pflanzen und Grünzeug aus, oder?» Die Frage war dermaßen fadenscheinig, dass ich mich kaum zurückhalten konnte, die Brauen zu heben. «Jaah …?»

«Also, wie du weißt, ist dieser Job extrem wichtig für mich. Damit finanziere ich mir quasi mein Studium, deshalb …»

«Jetzt spuck’s schon aus», fiel ich ihm ungeduldig ins Wort.

«Na schön. Wegen Mexiko werde ich diesmal leider nicht bei den Duvalls arbeiten können.» Ich wusste, was kam, noch bevor er die Bombe platzen ließ. «Aber du ja vielleicht.»

«Nein.»

«Was? Aber du …»

«Nein», wiederholte ich.

«Jetzt warte doch mal. Wenn ich da absage, kann ich den Job wahrscheinlich auch für die nächsten Jahre vergessen und ich brauche die Kohle echt dringend! Außerdem macht das wirklich Spaß! Die Familie ist total nett und die haben ein superschönes Haus. Eigentlich ist es mehr eine Villa. Was sagst du?» Er klang regelrecht verzweifelt.

«Du willst, dass ich für dich als Hausmädchen bei wildfremden Leuten einspringe, damit du nach Mexiko fliegen kannst, ohne hier deinen Job zu verlieren?», fasste ich seinen Antrag zusammen.

Tim runzelte die Stirn, als hätte ich ihm eine komplizierte Rechenaufgabe gestellt. Nach Prüfung der einzelnen Variablen klärte sich seine Miene auf. «Ja. Doch, ja. Außerdem würde ich selbstverständlich für immer in deiner Schuld stehen. Also?»

«Mhm. Nein.»

«Komm schon, Jona, bitte! Ich flehe dich an, Mann! Nur zwei Monate. Du kannst das Geld auch behalten.»

«Ich brauche kein Geld.» Gut, das war gelogen. Schließlich würde ich nicht ewig von meinem Stipendium leben können. Beim Versuch, mir mich als Babysitter vorzustellen, musste ich daran denken, wie ich einmal alle Zierfische meines Vaters gegrillt hatte. Feuer im Aquarium, das musste man erst mal hinkriegen. Es war Winter gewesen. Ich hatte Mitleid mit den Fischen gehabt und die Wassertemperatur hochgestellt. Danach durfte ich nie wieder ein Haustier haben.

«Du glaubst, dass ich als Kindermädchen taugen würde?», überlegte ich laut. Die Frage war ein Fehler gewesen. Eine Art Zugeständnis, mit dem ich mich unabsichtlich auf Tims Angebot eingelassen hatte, wie mir schnell klar wurde.

«Logisch könntest du das, ist ehrlich ganz easy. Der Kleine, auf den du aufpassen sollst, ist superunkompliziert und du hast kaum was zu tun. Eigentlich kannst du die halbe Zeit in der Villa chillen. Die haben sogar einen riesengroßen Pool im Keller.» Seine Augen wurden über die Lobhudelei immer größer.

«Dann geh doch da tauchen und sag Mexiko ab», schlug ich vor und leerte das erste Glas Cola.

«Witzig, Jona. Im Ernst, das wäre genau das Richtige für dich. So kämst du wenigstens in den Ferien mal unter Leute, statt dich nur in irgendwelchen Semesterarbeiten zu vergraben.»

«Wo du es sagst: Ich muss tatsächlich langsam mit meiner Bachelorarbeit anfangen.»

Statt wie erwartet mit den Augen zu rollen, seufzte Tim auf. «Ich mache mir Sorgen um dich. Seit dieser Sache gehst du so gut wie gar nicht mehr vor die Tür. Du bist noch so jung. Worauf wartest du denn? Fang endlich an, zu leben!»

Stumm betrachtete ich die feuchten Ränder, die ich mit meinem Cola-Glas überall auf dem Holztisch hinterlassen hatte. Ein seltsames Muster war das geworden; irgendwas zwischen Unendlichkeitszeichen und den olympischen Ringen.

Endlich öffnete ich den Mund, doch irgendwo auf dem Weg zur Zunge waren all die schlagfertigen Antworten verloren gegangen. «Du musst dir keine Sorgen machen», brachte ich lediglich heraus. Als hätte meine Äußerung genau das Gegenteil bewirkt, war sie wieder da: die hässliche Heiserkeit in Tims Stimme.

«Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es dir geht.»

«Mir geht’s gut», erklärte ich. Auf seinen eindringlichen Blick wiederholte ich: «Es geht mir gut.»

«Kommst du klar, wenn ich weg bin? Es wäre mir lieber, wenn ich wüsste, dass du in den Ferien nicht allein bist.»

Seine Besorgnis brannte auf meinem Gesicht wie Feuer. Ich merkte, wie ich rot wurde. «Jetzt gib’s auf. Ich werde ganz bestimmt nicht Hausmädchen für dich spielen.» Beim Sprechen spürte ich einen Kloß und zwang mich, ihn nicht mit der Cola wegzuspülen, weil das viel zu verdächtig ausgesehen hätte.

«Das wollte ich damit gar nicht sagen.» Tim hob beschwichtigend die Hände.

«Wer ist jetzt der erbärmliche Lügner?» Wir sahen uns an und mussten beide lachen. Laut, kurz und beinahe schmerzlos. Dann herrschte einen Moment Stille.

«Sicher, dass du den Job nicht willst?»

«Ganz sicher. Du findest bestimmt einen besseren Ersatz.» Endlich griff ich nach dem zweiten Glas Cola. «Und jetzt erzähl mir mehr von Mexiko.»

Unter kalten Duschen

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