Читать книгу Unter kalten Duschen - Swany Swanson - Страница 8
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ОглавлениеAls ich bei meinem Elternhaus ankam, waren die Hecken und Sträucher schon tief im Schatten des Hausgiebels versunken und standen mir finster und feindlich gegenüber. So war zumindest mein Eindruck, als ich mit wackligen Beinen die steile Eingangstreppe bezwang. Die steinernen Stufen hatten ordentlich Moos und Dreck angesetzt und wirkten mittlerweile eher grünlich denn grau.
Dass ein beherzter Eingriff meines Vaters schon länger fehlte, zeigte sich am deutlichsten in den verödeten Hortensien neben der Haustür. Der sonst so penibel gestutzte Strauch war verwildert und seine welken Blütendolden ließen wortwörtlich den Kopf hängen. Ich griff danach. Die harten Blütenblätter zerbröselten wie Herbstlaub zwischen meinen Fingern.
Ein Schauder lief über meinen Rücken und ich ließ los. Stattdessen streckte ich die Hand zur Klingel aus, zögerte kurz, wartete und drückte den alten Messingknopf. Die dunkle Patina war stärker geworden und am Rand ertastete ich auch gleich den vertrauten Kratzer, der schon da war, seit ich denken konnte. Wenn mein Vater mich früher als Kind auf den Arm genommen hatte, damit ich klingeln konnte, hatte ich mir den Kratzer als Zielmarke gesetzt. So groß wollte ich irgendwann sein, um eines schönen Tages selbst an die zerkratzte Klingel zu kommen. Wie lächerlich einfach damals noch alles gewesen war.
Die Holztür wurde mit einem Ruck geöffnet und ich blickte in das griesgrämige Gesicht einer fremden Frau mit strengem Dutt und wässrigen blauen Augen. Ich hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen. Sie mich offenbar auch nicht, denn sie legte kritisch die Stirn in Falten.
«Ja, bitte?», fragte sie.
«Ich würde gerne zu Herrn Steinkamp», sagte ich und überlegte beim Sprechen, ob das hier wirklich so eine gute Idee war, wie Tim es mich hatte glauben machen wollen.
«Und wer sind Sie?»
«Ich bin sein Sohn», antwortete ich und fühlte, wie meine Gänsehaut zurückkehrte.
Die Frau sah überrascht aus. Was nicht verwunderlich war. Dazu musste man wissen, dass mein Vater ein siebzigjähriger Mann mit stark untersetzter Figur war. Ich dagegen war eine Bohnenstange mit viel zu schmaler Taille und viel zu großen Augen. Tim sagte immer, ich hätte Augen wie ein Mädchen. ‹Melancholische Mädchenaugen›, das waren seine exakten Worte. Höchstens mein störrisches braunes Haar erinnerte an den Typ zerstreuter Professor, der mein Vater war.
«Sein Sohn? Ich … Weiß Frau Steinkamp denn, dass Sie kommen wollten?»
«Natürlich weiß sie das», behauptete ich und war erschrocken darüber, dass mir die Lüge leichter über die Lippen ging als die Wahrheit zuvor.
«Wenn das so ist, kommen Sie bitte herein, Herr Steinkamp.» Einladend öffnete die Fremde mir die Tür ein Stück weiter und ließ mich eintreten. Der altbekannte und zugleich ungewohnte Duft kitzelte in meiner Nase und beschleunigte meinen Puls.
«Folgen Sie mir, bitte», sagte die Frau, während sie die Tür hinter uns schloss und mit einem eleganten Schwung ihrer Hand wie eine perfekte Dienstmagd aus dem vorigen Jahrhundert zu der langen Wendeltreppe in der Mitte der Diele wies. Ich hätte sie fragen können, wer sie war, wo sie herkam und warum sie mich siezte wie einen alten Herrn, doch ich ging ihr einfach nach, ohne ein Wort zu sagen.
Als sie oben am Treppenende wieder mit einer schwungvollen Geste zum Ende des linken Flurs zeigte, ahnte ich bereits, wo sie mich hinführte, und hätte gut allein weitergehen können. Es war albern, mich in meinem eigenen Elternhaus führen zu lassen wie ein Fremder. Trotzdem war ich froh, dass sie keine Anstalten machte, mich mir selbst zu überlassen, und weiter vorwegging.
«Sie haben Glück», sprach sie. «Er ist heute in einer guten Verfassung.» Ich nickte still und hörte schnell damit auf, da mir klar wurde, dass sie mich hinter ihrem Rücken gar nicht sehen konnte.
«Ich habe ihn in sein Arbeitszimmer gebracht. Da fühlt er sich am wohlsten», fügte sie hinzu und schenkte mir ein kurzes Lächeln. ‹Glaube ich gerne›, dachte ich, ‹da war er schon immer am liebsten.›
Die Hausführung endete schneller, als mir lieb war, und zwar vor der Tür des Arbeitszimmers. «Ich darf Sie dann allein lassen?» Als ich nickte, entfernte sich die Fremde mit der gleichen dienstbeflissenen Art, wie sie mich vorher empfangen hatte. Seltsames Geschöpf.
Ich wartete, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war, und stand auch danach noch ein paar Minuten auf dem Flur, wo ich versuchte, meinen Atem zu regulieren. Irgendwann gab ich es auf und öffnete abrupt die Tür. Schocktherapie, das hatte Tim mir mal empfohlen.
Im Zimmer war es wider Erwarten strahlend hell. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir uns wie im Film in einem dämmrigen Raum mit zugezogenen Gardinen wiedersehen würden. Jetzt war es hier so lichtdurchflutet wie wahrscheinlich niemals zuvor.
Ich musste nicht lange suchen, um meinen Vater in dem mit Büchern und Regalen vollgestellten Zimmer zu finden, obwohl er nicht wie in meiner Erinnerung an dem herrschaftlichen Mahagonischreibtisch saß, sondern am Fenster, gegenüber der Tür. Er wandte mir den Rücken zu, sodass ich nur seinen halbkahlen ergrauten Schädel zu sehen bekam. Als ich erkannte, dass er, anstatt in seinem normalen Sessel, in einem neumodischen Rollstuhl saß, krampfte sich mein Inneres zusammen.
«Vater?», fragte ich und musste mich räuspern, weil meine Stimme gleich nach dem ersten Wort versagte. Es gab keinerlei Reaktion. Natürlich nicht. Einen Moment blieb ich unschlüssig auf der Türschwelle stehen, dann hielt ich die Stille nicht mehr aus und lief zu ihm aufs Fenster zu.
Der Mann, der da lethargisch im Rollstuhl saß, war mir fremd. Er hatte nichts mit meinem ehrwürdigen Vater, dem Großen, dem Starken gemeinsam. Alles, was ich sah, war die in sich zerfallene Hülle eines Mannes mit leerem Blick und fahler Haut. Vor meinem inneren Auge zuckte das Gegenbild einer zornroten Wutgrimasse auf. Die Erinnerung legte sich wie eine Schablone über das neue Gesicht: maskenhaft starr und weiß wie die Wand. Doch unverkennbar war er mein Vater.
«Vater, ich … erkennst du mich?» Die Frage war überflüssig, genauso wie der ganze Besuch. Trotzdem wartete ich in verzweifelter Hoffnung auf eine Antwort. Mein Vater blieb still und bleich. Seine Augen blickten stur an mir vorbei zum Fenster hinaus. Vielleicht sah er die Bäume an oder die Wolken oder vielleicht war er auch völlig blind für alles, was ihn umgab – mich eingeschlossen.
Auf der Suche nach einer Antwort ließ ich meinen Blick nun selbst im Raum auf- und abwandern. Von den dicken, ledernen Buchrücken über die samtigen Vorhänge zu den vertrauten kuriosen Aquarellen von Darwin’schen Tiermetamorphosen, die oben von den Wänden vorwurfsvoll auf mich hinabblickten, wie auf ein Irrtum der Schöpfung. Danach sah ich wieder zu meinem apathischen Vater. Allein dass ich stand, während er saß, war schon fürchterlich falsch.
«Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst, aber …»
Ehe ich aussprechen konnte, flog die Tür auf und das so heftig, dass sie noch in ihrem Rahmen zu beben schien. «Was hast du hier verloren?» Meine Mutter stand im Raum und starrte mich an wie einen bösen Geist. «Verlass sofort das Zimmer!»
Hoffnungsvoll sah ich zu meinem Vater, doch er erhob keinen Einwand und blinzelte nicht einmal. Ich ließ ihn in seinem Rollstuhl sitzen und ging ohne ein Wort an meiner Mutter vorbei hinaus auf den Flur.
Keine fünf Sekunden später erschien sie wieder neben mir, schloss behutsam die Tür und giftete los. «Warum bist du hergekommen? Hast du nicht schon genug angerichtet?»
«Ich wollte sehen, wie es ihm geht», murmelte ich, obwohl sie wahrscheinlich nichts von mir hören wollte, schon gar keine Rechtfertigung.
«Er ist krank. Und du hast nichts anderes zu tun, als ihn auch noch aufzuregen!»
‹Außer dir regt sich niemand auf.›
Ich zwang mich, es nicht zu sagen, und ließ die Schimpftirade stumm über mich ergehen. «Das ist verantwortungslos von dir. Ich kann gar nicht glauben, dass du dich nochmal hierherwagst!»
Sie war kurz davor, ihre hart antrainierte Contenance zu verlieren, das konnte ich deutlich sehen. Ihre Wangen bekamen dunkelrote Flecken und ihr Blick flackerte bedrohlich zwischen meinen Augen hin und her. Es fiel mir schwer, in ihr die stille Frau zu sehen, die sie immer gewesen war.
Das aschblonde Haar hatte über die letzten Monate den Glanz verloren und hing ihr in ein paar krausen Strähnen in die Stirn. Es musste sich vor lauter Ärger aus dem glattgezogenen Seitenscheitel herausgekämpft haben. Ihr Mund war ein schmaler Strich in einer Kraterlandschaft von zuckenden Falten. Sie sah kaum jünger aus als mein versteinerter Vater im Nebenraum, obwohl er über ein Jahrzehnt älter war als sie.
«Er hat mich nicht erkannt», sagte ich bloß. Über ihre blauen Augen legte sich ein Schatten und ich überlegte, ob draußen wohl immer noch die Sonne schien.
«Verschwinde, Jona.» Das Gesicht meiner Mutter war so hart wie die Wand hinter ihr. «Komm nicht wieder her.»
Ich wusste nicht warum, aber ich nickte nur. Anstatt wie eben bei meinem Vater auf eine zweite Chance zu warten, drehte ich mich um und lief den Weg, den mir die fremde Frau gewiesen hatte, allein zurück.
«Du bist nicht mehr willkommen in diesem Haus», rief mir meine Mutter vom obersten Treppenabsatz nach, als ich die Haustür erreicht hatte und mich mit letzter Kraft nach draußen rettete.
Ich passierte die Außentreppe und den dörren Hortensien-Strauch, ohne davon Notiz zu nehmen. Wie aufgewühlt ich war, merkte ich erst, als ich nach einigen Metern Entfernung nach meinem Handy tastete und das blöde Ding schwerlich aus meiner Tasche ziehen konnte, da meine Hände zitterten.
Ich wählte Tims Nummer und wartete kaum das Freizeichen ab. Ohne Ankündigung sprach ich ins Telefon.
«Ich mach’s. Wie ist die Adresse der Villa?»