Читать книгу Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia - Sybille A. Schmadalla - Страница 6
ОглавлениеMalin von Althaus, geborene Grundler
Malin hatte in ihrem grünen Sessel gesessen. Sie wartete. Sie dachte nach. ‚Ich werde alleine sein‘. ‚Ich‘ hatte sie seit 1962 nicht mehr gesagt oder gedacht. ‚Ich‘. 1962. Achtunddreißig Jahre her.
Malin summte vor sich hin, ein Weihnachtslied. Verwundert lauschte sie ihrer inneren Stimme: „… still und starr liegt der See, weihnachtlich glänzet der Wald, freue dich, ‘s Christkind kommt bald …in den Herzen wird‘s warm, still schweigt Kummer und Harm ...“ Mit einer ärgerlichen Handbewegung scheuchte sie die Gedanken.
Sie fühlte wie immer – nichts. Still und starr. Malin wartete. Sie war jetzt Mitte 70. Sie war alt. Die Kinder sollten sie abholen und ins Krankenhaus fahren, wo ihr Mann Robert im Sterben lag. Schweigen schwebte im jedem Raum, füllte das Haus, mit der Gewissheit, was da kommen würde. Das Wohnzimmer, mit dem braunen, blockartigen Parkettboden, typisch fünfziger Jahre, die Marmorfensterbretter, alles gemeinsam ausgesucht. Es ging zu Ende. Gedankenverloren zwirbelte sie mit den Fingern die Tischdecke des Beistelltischchens. Jetzt fühlte sie etwas, einen leisen, ziehenden Schmerz, dort, wo die Seele sein sollte. Bedauern. Malin weinte schon lange nicht mehr. Das letzte Mal hatte sie geweint, als ihre Mutter starb, Cäcilie Grundler, das lag mehr als 30 Jahre zurück. Jetzt würde Malin alleine sein, alles, was schwer war, kam immer zu ihr. Einsamkeit wog schwer. Sie würde nicht einsam sein, nicht als Mutter von fünf Kindern. Fünf lebenden Kindern. Sie besuchten sie oft, das würde so bleiben. Es fielen ihr Sätze ein. Sätze aus Büchern, die sie den Kindern immer vorgelesen hatte >die Stille wanderte auf und ab< oder >ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen<. Bei diesem Satz wurde ihr bewusst, dass sie fast fünfzig Jahre mit Robert verheiratete war. Ihr größtes Geheimnis teilte sie bis heute nur mit ihrer Schwester Amalie und ihrer Mutter - beide lange tot. Er wird es nie erfahren. Genauso wenig, wie er nicht ahnte, dass sie es wusste. Sie wusste, was er, Arthur, ihrem erstgeborenen Sohn, angetan hatte. Nie hatte sie Robert zur Rechenschaft gezogen. Sie seufzte tief und dachte ‚Warum eigentlich nicht?‘. Danach hatte sich alles verändert. Alles. ‚Ich‘ – Malin spürte Ratlosigkeit. Was sollte werden, wenn Robert nicht mehr lebte? Es würde kein neuer Anfang sein, obwohl es definitiv das Ende von etwas bedeutete. Wer würde sie sein? Was würde geschehen mit ihrem ungeliebten Leben? Was anfangen? Sie würde alleine sein. Das traf heute schon zu. Ihre ständigen Begleiter hießen Einsamkeit und Traurigkeit. Nie hatte sie sich verstanden gefühlt. Was sollte sich daran ändern?
Sie dachte an ihre Kinder, die Zwillinge Alma und Arthur. ‚Gleich Zwillinge‘, das hatte sie fast überfordert. Alma war ein liebes, braves kleines Mädchen gewesen, aber Arthur! Es fehlte ein Ärmchen, es schauderte sie, als sie den Moment erinnerte. ‚Ein behindertes Kind! Zu Beginn zudem ein unentwegt quengelndes Kind. Seine Behinderung lastete schwer auf ihrer Seele. Eine körperliche Behinderung bis Robert…‘ mit einer ungeduldigen Bewegung unterbrach sie sich, scheuchte sie erneut die Gedanken. Das Unaussprechliche blieb sogar als Gedanke undenkbar. ‚Schon im Jahr drauf kam Tilde auf die Welt, wieder ein Mädchen, robust, blond und rosig, aber eben wieder ein Mädchen und kein Junge. Jedes Jahr ein Kind, Pia, erneut ein Mädchen! Alle Kinder schienen ihr so fremd. Aber dann, die Fehlgeburt zählte nicht, aber dann gebar sie Johannes, einen rundum properen Knaben, ihr Liebling. Es gab dazwischen eine Totgeburt - wieder nur ein Mädchen‘ ‚Ich‘ – viel konnte sie damit nicht anfangen. ‚Ich?‘ Die Stille wanderte auf und ab. Ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen – vor langer Zeit.