Читать книгу Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia - Sybille A. Schmadalla - Страница 9
ОглавлениеPia
Der Vater existierte nicht mehr. Gestorben, vor wenigen Stunden. Pia blickte auf ambivalente Erinnerungen. An ihn, den Vater. Sie las in ihrem Tagebuch, aus Kindertagen: „Sein Atem schlägt heiß in mein Gesicht, ich spüre die Feuchte, so nah ist er. Seine Augen glühen schwarz vor Wut, Hass, Zorn sie blitzen, sprühen Funken. Sein Gesicht ist verzerrt, ich erkenne ihn kaum wieder. Schweißtropfen stehen auf seiner Oberlippe. Der Mund bewegt
sich, was er schreit, höre ich nicht. Meine Arme sind dick, taub und rot, ich halte sie hoch, vor mich. In meinen Ohren rauscht es, wenn seine Fäuste mich treffen, wackle ich wie Pudding - alles ist in die Ferne gerückt. Es läuft nass und warm meine Beine hinunter. Ich schäme mich. Ich will ein gutes Kind sein. Ich bin 8 Jahre. Allein. Mutti ist nie da, wenn das passiert. Es passiert oft und dafür braucht es keinen Anlass. Ich beobachte ihn genau. Ganz genau. Immer.“
Pia blätterte, übersprang Seiten, gedankenverloren las sie: „‘Widersprich mir nicht!‘ herrschte er Mutti am Sonntagsmittagstisch an, sein Gesicht leicht gerötet. Seine Augen funkelten schon wieder gefährlich. Sein Finger kreiste am Rand des Rotweinglases und die Flasche halb leer, Alarmstufe rot. Spätestens jetzt musste man sich verdünnisieren. Mutti schwieg und senkte die Augen. Ihre Finger zwirbelten das Eck des Tischtuchs. Hilflos. Kampflos. Ohne Macht – ohnmächtig. Wie sooft. Alle Kinder blickten in ihre Teller oder irgendwo ins Leere. Angespannte Stille. Mozarts Flötenkonzert schwebte schwerelos im Raum, in einer gewalttätigen Stille, die vor Spannung fast zersprang, schwang sich die Querflöte unter atemlosen Tirilieren dem Blau des Himmels entgegen. Elegant, leicht und schwerelos. Ich widersprach! Er griff nach den Kartoffeln auf seinem Teller und warf nach mir.“ Sie lies das Tagebuch sinken. Pia wusste noch, dass sie damals laut gelacht hatte, weil es so absurd, so lächerlich erschien. Niemand spottet dem Tyrann - halbtot hatte er sie geprügelt.
Wieder eine andere Seite: „Die Ader auf seiner Stirn schwoll an, er brüllte, ich brüllte zurück, wir brüllten uns an. Ich hielt seinem Blick stand. Ich stand auf und ging, er sprang auf - hinterher. Außer sich vor Wut!“ Pia las den Satz: „Ich habe schon lange keine Angst mehr vor ihm, Prügel schrecken mich nicht mehr. Das weiß er, also setzte er jetzt auf Verbote und Psychoterror. Dafür lüge ich ihn an, dass sich die Balken biegen. Wir schenken uns rein gar nichts! Ein Machtkampf. Meine Lügen als Antwort auf den Terror, den er verbreitet! Alle lügen ihn an.“
Pia ließ gedankenverloren das Tagebuch sinken, die Gedanken wanderten, sie hörte seine Stimme: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe auf Erden“. Pia hatte widersprochen. Das hieße nichts anderes, als wenn es einem nicht wohl erginge, dass man dann selber schuld sei, denn dann hast du eben deine Eltern nicht genügend geehrt. So einfach geht das. Du bist schuld. Du hast keine Forderungen zu stellen. Du hast Deine Eltern nicht zu kritisieren. Eltern machen nichts falsch. Basta.
Pia nahm den Faden wieder auf und las weiter.
„Wutentbrannt warf er die Türe so ins Schloss, dass die Glasscheibe mit einem Geräusch zwischen klirrend, kratzend und kreischend auf dem Boden zerschellte und in tausend Stücke zersprang. Stille! Immer noch sangen Vivaldis Geigen ihr Konzert in der sonntäglichen Mittagsstunde und ich sah seinem Gesicht an, dass er buchstäblich wieder zu sich kam. Ich drehte mich um und ging.“ Pia wusste, dass sie damals vierzehn Jahre altgewesen war. Immer war sie damit allein. Keines der anderen Familienmitglieder muckte. Der nächste Satz in der geschwungenen Mädchenhandschrift auf hellgrauen Zeilen auf den letzten Seiten des Tagebuchs mit leicht gelblichen Seiten lautete „Alles wurde anders! Aus der Ohnmächtigen wurde eine Mächtige - und was für eine!“
Pia las, die Tagebuchzeilen aus ihrer Kindheit: „Die Metamorphose der Mutter zur Eiskönigin - jeder der es hätte sehen wollen, hätte es sehen können Es kündigte sich lange vorher an. Sie wurde eine Meisterin darin, ihn zu blamieren, ihn auflaufen zu lassen, ihn zu konterkarieren. Ungewaschene, strähnige Haare, rotes, fleckiges Gesicht mit Pickeln. Zu dick, schlampige Figur, hässlich angezogen, hinkender Gang, ungepflegte Zähne. Stinkend, lustlos, freudlos! Keine Meinung – ihre Insignien der Macht.“ Pia erinnerte sich. Er flehte, er bettelte, er kaufte Pelzmäntel, Brillantringe, Perlenketten, Schmuck, eine Rolex – nichts half, weil er nichts verstand.
Erst verachtete Pia ihn, später bemitleidete sie ihn, weil er so gar nichts verstand. Ein Trottel - in dieser Hinsicht..
Pia hatte damals gedacht „Aber ich bin fair! Ich bin dein Widerpart und kämpfe mit offenem Visier! Sie hingegen kämpft verdeckt, sie ist dein unlösbares Rätsel“ Jetzt lag er tot im Kühlraum des Kankenhauses und bis zum bitteren Ende hatte er nichts verstanden.
Pia erinnerte sich - die Hand mit dem Buch sank herunter - an die Sterbenacht. Das war gerade zwei Tage her. Morgen gab es eine pompöse Beerdigung, das stand fest.
‚Nachts. Im Krankenhaus. Es herrschte diese ungute, erwartungsschwangere Stille. Der Vater rang nach Luft. Schnappatmung nannten es die Ärzte. Pia nannte es für sich schweres Schnarchen, weil sie es sonst nicht hätte aushalten können. Er lebte noch, ihr Vater. Sie wollte ihn immer lieben, Pia wollte immer ein gutes, braves Kind gewesen sein. Pia wollte, dass er sie liebte. Jetzt saß sie an seinem Sterbebett.
Reden konnten sie wenig, denn er bekam kaum Luft. Drei Uhr in der Früh. Er war wach. Er wollte heim. Dieses Bett verlassen, in dem er sterben würde. Pia dachte an die Worte der Pfleger und dass es so kommen würde. Er wusste, dass er sterben würde. Vor einer Woche war er ins Krankenhaus gegangen, wissend, dass er nicht mehr heimkommen würde.
Er hatte alle anrufen lassen, alle könnten sich von ihm verabschieden.
Jetzt wollte er, dass Pia ihn anzöge. Er unterbreitete seinen Plan, wie sie das Krankenhaus ungesehen verlassen könnten. Pia rief
den Pfleger. Pia erinnerte sich, wie winzig die Seele wurde, als sie mit ihrer vierundvierzigjährigen Kinderstimme flüsterte „ich hab Dich lieb“, seine Augen lächelten und er röchelte „ich Dich auch“.
Der Pfleger hatte den Raum verlassen und nun betrat der Tod die Bühne. Der Sensenmann. Pia spürte ihn, der Tod kam, bereit ihn zu holen. Der Vater bereit mit ihm zu gehen. Pia fühlte sich winzig. Sie verspürte die Erleichterung, dass es nicht sie betraf. Sie durfte leben. Gleichzeitig schämte sie sich dafür. Aber der Vater wartete. Er wartete auf sie, seine Frau. Die, die zu Hause saß. Die, die nicht seine Hand hielt. Also ging der Moment vorüber.
Ein kalter Wintermorgen, grau- sah zum Fenster herein. Eine Amsel zwitscherte. Pia öffnete das Fenster und wieder kam so ein Moment, wo sie sah, dass er gehen wollte. Es war an der Zeit. Er wartete. Er wartete auf sie, auf seine Frau, die Mutter seiner Kinder. Sie, die nicht an seinem Bett saß. Sie, die erst spät kommen sollte, fast zu spät. Er wartete seit 1948.
Pia atmete tief durch, mussten die Kinder das verstehen, was diese Ehe über die Jahrzehnte zusammenhielt? Stand es ihr zu, das zu fragen? Ging sie das was an? Pia öffnete erneut das Fenster, beugte sich zu ihm und er lächelt sie an und sagte „Danke“. Sein letztes Wort an sie. Sollte das die Versöhnung mit all den Jahren der Gewalt sein?‘
Pia stand auf, griff nach dem Sterbebild, das Morgen zu seinem Gedenken verteilt werden würde. Aus dem Foto strahlten seine blitzenden braunen Augen, sie sah sein lachendes Gesicht.