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Oktavia zieht es in die Welt hinaus

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D’Chachlini wurde Oktavias Familie in Varen genannt. Der Ausdruck bezeichnet Personen, denen schnell etwas kaputtgeht oder die leicht an andere Personen geraten. Oktavias Vater Theophil verdiente Geld mit Schreinerarbeiten, die er im Erdgeschoss des Wohnhauses im Ortsteil z’oberst Dorf in Varen ausübte. Mutter Barbara, geborene Jaggi, arbeitete als Weberin in Heimarbeit, wobei sich der grosse Webstuhl in einem Lokal im selben Haus befand. Daneben hielt die Familie Marty Nutztiere und war im Weinbau tätig. Als fünftes Kind im Jahr 1897 geboren, wuchs Oktavia mit ihren sechs Geschwistern Serafine, Theodul, Céline, Marie, Ignaz und Anna auf. Marie trat als 19-Jährige ins geschlossene Kloster von Gerunden in Siders ein und hiess nach dem Ablegen des Ordensgelübdes Schwester Ursula. Céline verstarb 1910 als 25-Jährige an Lungenkrebs. Drei Jahre später verstarb ihr Vater Theophil 54-jährig ebenfalls an Krebs. In Gesprächen mit ihren eigenen Kindern erwähnte Oktavia später ihren Vater nur selten. Ihre Mutter war ihr hingegen sehr wichtig. Nach dem Tod von Barbara liess Oktavia jedes Mal, wenn sie von ihr träumte, ihr zu Ehren eine Messe lesen.24

Wie für die meisten Mädchen im Wallis zu Beginn des letzten Jahrhunderts endete die obligatorische Schulpflicht für Oktavia mit zwölf Jahren. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein hatte der Kanton den Frauen nur spärliche Ausbildungsmöglichkeiten anzubieten: Sehr wenige Töchter aus Berggemeinden besuchten ein von Klosterfrauen geführtes Pensionat, eine Mädchenhandelsschule oder ein Lehrerinnenseminar.25 In der oberen sozialen Schicht war die Abwehrhaltung gegen jegliche Berufstätigkeit der Frau allgemein verbreitet. In gewerblichen Kreisen wie dem Detailhandel, dem Gastgewerbe oder der Hotellerie war die Mitarbeit der Töchter und Ehefrauen im Rahmen des Familienbetriebs hingegen selbstverständlich. Eine Notwendigkeit war der Einsatz der Frauen bei den Arbeiterbauern, sie mussten einen Grossteil der landwirtschaftlichen Tätigkeiten im familiären Betrieb übernehmen.26 Bei den als Selbstversorger lebenden Bauernfamilien stellte der zusätzliche Einsatz der Frauen in Heimarbeit, im Hausdienst oder im Gastgewerbe ein kleines Erwerbseinkommen dar. Dabei herrschten teilweise prekäre Arbeits- und Lohnverhältnisse, obwohl die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften, insbesondere Dienstbotinnen, zu jener Zeit im Wallis gross war. Im Gegensatz zu anderen Kantonen wie Tessin oder Uri, wo die Frauen in der Textilindustrie einen wesentlichen Teil der Arbeiterschaft stellten, waren Frauen in den von der Schwerindustrie geprägten Betrieben des Wallis hingegen nur selten anzutreffen.27


Auch Oktavia war als junge Frau zuerst im Hausdienst und anschliessend im Gastgewerbe tätig. In ihrem Haushaltsbüchlein sind all ihre Arbeitsstellen mit den entsprechenden Einnahmen und Ausgaben festgehalten. Als Erstes war sie als Haushaltshilfe bei der verarmten Adelsfamilie von Werra im Nachbardorf Leuk angestellt. Als sie dort im Sommer 1915 mit ihrer Buchführung begann, war sie 18 Jahre alt. Oktavia und Jeremias kannten sich zu jener Zeit bereits. Jeremias neckte Oktavia auch später noch gerne. Immer, wenn sie damals von Varen nach Leuk gelaufen sei, so meinte er, habe man bis weit hinunter Richtung Dalaschlucht den Hintern wackeln sehen.

Neben einem grossen Landwirtschaftsbetrieb gehörten der Familie von Werra bis 1912 auch zwei Schlösser, eines im Talgrund in Susten und ein kleineres für die Wintermonate am Sonnenhang in Leuk.28 Damit war die Familie die grösste Arbeitgeberin der Region. Der Notar, Grossrat und stellvertretende Regierungsstatthalter Leo von Werra war in der Region für seine Grosszügigkeit bekannt. Seine Frau Henriette, geborene de Wolff, stammte aus dem französischsprachigen Sitten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das familiäre Vermögen aufgebraucht. Nicht nur die Versuche, die Landwirtschaft rentabler zu machen, sondern auch Leo von Werras Projekte als Unternehmer und Erfinder scheiterten. Dies führte den stark verschuldeten Baron in einen juristisch umstrittenen Konkurs, und er verlor 1912 seinen gesamten Besitz. Das Schloss in Susten wurde zwangsversteigert. Es beherbergt seither ein Alters-, Pflege- und Behindertenheim. Die Familie von Werra mit ihren acht Kindern musste dauerhaft in ihre Winterresidenz nach Leuk ziehen und war in den darauffolgenden Jahren in grosser finanzieller Bedrängnis.

Oktavia verdiente in Leuk einen für damalige Verhältnisse geringen Lohn von 25 Franken im Monat, der manchmal durch ein paar wenige Franken Trinkgeld aufgebessert wurde. Sie fühlte sich bei der Familie von Werra jedoch sehr wohl und sprach immer positiv von der Zeit in Leuk. Henriette von Werra sei eine flotte Frau gewesen. Bei ihr lernte sie nicht nur Französisch, auch ihre Kochkünste eignete sie sich dort an. Kochen und Sparen lerne man bei reichen Leuten, so sagte sie. Omeletten mit Holderblüten war eines der Gerichte, das sie in Leuk lernte und später für ihre Familie zubereitete.

Im Oktober 1915, als sie erst ein paar Monate bei der Familie war, begleitete Oktavia die fast vierjährige Emma und den 15 Monate alten Franz von Werra von Leuk hinunter zum Bahnhof Susten, von wo aus sie mit dem Zug zu Adoptiveltern nach Süddeutschland gebracht wurden. Aufgrund der grossen materiellen Not hatten sich Leo von Werra und seine Frau Henriette dazu entschieden, zwei der insgesamt acht Kinder nach Deutschland zur Adoption freizugeben. Die Kinder wuchsen bei einer süddeutschen Adelsfamilie in Beuron auf, die allerdings in den 1930er-Jahren ebenfalls verarmte. Die scheue und introvertierte Emma kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Leuk zurück und lebte dort bis zu ihrem Tod. Der Draufgänger Franz hingegen trat 1935 in die deutsche Luftwaffe ein. Während des Kriegs wurde er über England abgeschossen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Während eines Gefangenentransports in Kanada sprang er vom fahrenden Zug und floh über den Sankt-Lorenz-Strom in die damals neutralen USA. Diese Geschichte machte ihn zum gefeierten Helden, und bei seiner Rückkehr wurde er von Adolf Hitler und Hermann Göring empfangen. Im November 1941 kam Franz bei einem Übungsflug über der Nordsee ums Leben.29


Auszug aus Oktavias Haushaltsbüchlein, Leuk ( 1916).

Nach dem Ende der Anstellung bei der Familie von Werra im Sommer 1917 arbeitete Oktavia gemäss den Angaben im Haushaltsbüchlein neun Jahre lang im Gastgewerbe an verschiedenen Orten in der Schweiz. Die Stellen fand sie entweder über ein Stellenvermittlungsbüro oder über Zeitungsannoncen. Nach eineinhalb Jahren in Brig wechselte sie 1919 nach Leysin, welches zu jener Zeit neben Davos ein international bekanntes Zentrum zur Behandlung von Knochentuberkulose war. Der therapeutische Ansatz basierte auf guter Ernährung, dem Aufenthalt im Freien und kalten Wassergüssen. Auguste Rollier, der 1903 in Leysin ein Sanatorium für Kinder mit Tuberkulose errichtete und bis 1940 rund 40 Sanatorien ausbaute, setzte zudem auf die heilende Kraft der Sonne.30 In Leysin wird sich Oktavia möglicherweise einen Teil ihres medizinischen Wissens angeeignet haben, mit dem sie später nicht nur ihren Kindern, sondern auch den Dorfbewohnern in Krankheitsfällen behilflich war. 1920 kehrte sie nach Varen zurück und führte elf Monate lang das Café de la Poste, eine der drei Gaststätten im Dorf. Jeweils am Sonntagabend stattete ihr Jeremias dort einen Besuch ab. Er blieb allerdings immer nur bis zehn Uhr. Das sei seine Zeit gewesen, um heim ins Bett zu gehen. Oktavia gefiel diese Arbeit, und am liebsten hätte sie die Gaststätte gleich übernommen. Für Jeremias kam das aber nicht infrage.

Auch in Varen führte sie Buch über ihre Einnahmen und ihre Ausgaben für Bier, Wein, elektrisches Licht, das Patent oder die Zeitung. Danach zog sie weiter nach Mariastein (1921), Onex bei Genf und Genf (1922/23), wobei sie jeweils mit dem Zug von Varen zu den Arbeitsstellen pendelte, bevor sie im Juni 1923 für die Sommersaison auf die Fiescheralp ins Hotel Jungfrau-Eggishorn wechselte, einem Grandhotel am Fuss des Eggishorns. Sie fühlte sich wohl dort und stand in einem guten Verhältnis zur Besitzerfamilie Cathrein, die auch verschiedene Hotels auf der Riederalp führte. Die Fotografie aus jener Zeit zeigt eine elegante Frau mit dunklem Rock, Bluse, Jacke, Hut mit breiter Krempe, passenden Schuhen und Unterarmtasche, die selbstbewusst in die Kamera blickt.

Nicht nur wegen ihres Einstiegs ins Gastgewerbe nahm Oktavias Lohn zu jener Zeit sprunghaft zu. Die Hotellerie erholte sich damals auch langsam vom Schock des Ersten Weltkriegs.31 Während sie 1921 in Mariastein 80 Franken Lohn und bis zu 60 Franken Trinkgeld im Monat verdiente, erhielt sie 1923 im Hotel Jungfrau-Eggishorn auf der Fiescheralp neben einem bescheidenen Lohn von 15 Franken bis zu 440 Franken Trinkgeld. Dies war allerdings ein saisonaler Arbeitsplatz, der während zweier bis dreier Monate einen überaus hohen Einsatz erforderte. Im Gegensatz zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich die Kundschaft der herrschaftlichen Gebirgshotels vorwiegend aus dem vermögenden europäischen Grossbürgertum zusammensetzte, dürfte Oktavia im Hotel Jungfrau-Eggishorn während der Zwischenkriegszeit aufgrund des Aufkommens des Inlandtourismus überwiegend mit wohlhabenden Schweizer Gästen in Kontakt gekommen sein.32 Der Luxus des Berghotels kontrastierte dabei auch in der Zwischenkriegszeit mit der Lebenswelt der Bergbauern. Während sich die Bauern auf der Alp in der Aletschregion bis weit ins 20. Jahrhundert vorwiegend von Schpiis [kalten Speisen wie Roggenbrot, Käse und getrockneten Fleischwaren] ernährten, wurde den Gästen im Hotel Jungfrau-Eggishorn Sardinen, Spargeln, Artischocken oder Safran und die Getränke in eigens dafür vorgesehenen Wasser-, Wein-, Champagner-, Vermouth-, Liqueur-, Absinth-, Bier- und Milchgläsern serviert. Auch die Ausstattung war sehr differenziert. Dazu gehörten Fumoir, Salon, Hotelhalle, Speisesaal und Gaststube. In weiteren Gebäuden befanden sich ein Postbureau, zwei Kapellen, ein Verkaufsbazar und anliegend ein Tennisplatz.33


Oktavia als junge Frau (undatierte Aufnahme).

Das verdiente Geld gab Oktavia in den ersten drei Jahren ihrer Buchführung fast ausnahmslos der Mutter. Es war für ihre Eltern ein dringend benötigter finanzieller Zustupf. Als ihr Lohn in den 1920er-Jahren stieg, gab sie ihren Eltern einen Teil des Lohns und überwies den Rest auf ein eigenes Bankkonto. Sie selbst lebte sehr sparsam. Geld gab sie nur für das Notwendigste aus: für Strümpfe, Unterröcke, Flickarbeit und Stoffe, für Briefmarken und Briefpapier, Haarkämme und Haarwasser, für Fotografien und für die Reisen von und zu ihren Arbeitsstellen. Genussmittel wie Schokolade, Kaffee oder ein Glas Wein beziehungsweise Freizeitaktivitäten wie eine Schifffahrt leistete sie sich nur ausnahmsweise. Ein einmaliger Besuch in einem Theater und in einem Schwitzbad in Bern im Jahr 1925 kostete je fünf Franken Eintritt. Hingegen liess sie ab 1924 für zwei bis fünf Franken regelmässig Messen für ihre verstorbenen Vorfahren lesen. Wegen fehlender Krankenversicherung übernahm sie die Arzt- oder Zahnarztkosten von 30 bis 70 Franken jeweils selbst.

Nach Abschluss der Sommersaison 1923 auf der Fiescheralp arbeitete Oktavia an drei Orten am Genfersee, in Lausanne, in Saint- Cergue bei Nyon und in Chexbres bei Lausanne, bevor sie nach Varen zurückkehrte und erneut im Café de la Poste servierte. Im Mai 1924 reiste sie nach Lourdes zur Wallfahrt. In der Sommersaison 1924 arbeitete sie wiederum auf der Fiescheralp und wechselte für die Wintersaison 1924/25 nach Grenchen. Die nächsten Stationen waren La Chaux-de- Fonds, Laufenburg, Zürich, Varen, Grindelwald, Bern und Montana, wo sie jeweils nur wenige Wochen oder Monate blieb. Ohne zugesicherte Stelle reiste sie danach ins Tessin und kam dort mit nur fünf Franken in der Tasche an. Als Erstes ging sie in eine Kirche und liess für einen ihrer Vorfahren eine Messe lesen. Kurz darauf fand sie dann die Stelle im Kurhaus Cademario mit Blick auf den Luganersee. Ihre Tochter Anny erinnert sich noch heute, dass diese Geschichte sie als Kind sehr beeindruckte: Da kann man eine Messe lesen lassen und erhält dann eine Stelle.

Wie schon in Leysin kam sie im Kurhaus im Tessin mit den damaligen modernen medizinischen Behandlungen in Kontakt. Der aus der Ostschweiz stammende Arzt Adolf Keller-Hoerschelmann vereinte in der neu gebauten Naturheilanstalt im sonnigen Süden alternative Heilmethoden im Bereich des Sports, der Diät, der Atmungstechniken und der Suggestion zu einem eigenen reformistischen Ansatz. Die natürliche Lebens- und Heilweise mit Bewegung, Entspannung, Licht, Luft und Sonne sollte zur Heilung wie auch zur Vorbeugung von krankhaften Störungen beitragen. In den 1920er-Jahren ging das Kurhaus auch in Sachen Ernährung neue Wege. So wurden Fastentage und Rohkosttage durchgeführt und den Gästen gedämpftes, salzloses Gemüse angeboten.34

Nach ein paar Monaten in Cademario und der Reise nach Le Havre kehrte Oktavia ins Wallis zurück, um im November 1926 Jeremias Bayard zu heiraten. Schon im Vorjahr hatte sie mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit begonnen und sich in regelmässigen Abständen Teile ihrer Aussteuer gekauft: Zweimalig erwarb sie 1925 in einem Warenhaus in Bern Leintücher, Kissen, Kissenbezüge, Duvets, Türvorlagen, Moltons, Tischtücher, Stoff und Geschirr. Von ihrer Mutter erhielt sie selbst gewobene, robuste und sehr langlebige Bettwäsche. Sie liess in Lausanne für 50 Franken Fotografien von sich anfertigen, während Ringe und Ringsiegel 125 Franken kosteten. Zum Zeitpunkt der Hochzeit war Oktavia 29 und Jeremias 31 Jahre alt, ein damals übliches Heiratsalter, denn die jungen Leute mussten in bäuerlichen Gegenden oftmals zuwarten, bis sie genügend Geld für den Ehestand verdient hatten oder ihnen ein Teil des elterlichen Erbes zukam.35 Wie sie selbst notierte, hatte Oktavia in den elf Jahren insgesamt 10 710 Franken gespart, welche sie in die Ehe einbrachte. Davon hatte sie zu jenem Zeitpunkt 3000 Franken ihrer Schwester Serafine und 1089 Franken ihrem Bruder Theodul geliehen, wobei sie von beiden regelmässigen Zins erhielt. Der Rest lag auf verschiedenen Bankkonten. Jeremias hingegen verfügte zum Zeitpunkt der Hochzeit über kein eigenes Geld. Er brachte jedoch eine recht ansehnliche Anzahl Güter in die Ehe ein.


Aussteuerrechnung Oktavias (1926).

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