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Das Wallis im Wandel

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Varen befindet sich nahe der Sprachgrenze zwischen dem Ober- und dem Unterwallis, offiziell durch den Bach La Raspille getrennt, am Südhang des Tals auf 750 Metern über Meer. Ein Bergsturz in prähistorischer Zeit am rechten Rhoneufer formte den fast kahlen Hang mit steppenartiger Vegetation.2 Die Gegend ist geprägt durch ein südliches Klima mit sehr geringen Niederschlagsmengen. Das Dorf thront auf einer Terrasse oberhalb des Pfynwalds, einer der grössten zusammenhängenden Föhrenwälder der Alpen. Dort sucht sich die Rhone, umgangssprachlich auch «der Rotten» genannt, ihren Weg frei durch den Talboden. Die Kirche Maria Sieben Schmerzen befindet sich, abgesetzt vom Dorfkern, am südlichsten Punkt auf einem Felsvorsprung, von welchem der Hang rund 200 Höhenmeter gegen das Bahngeleise und den Rotten im Talgrund abfällt. Das 500-Seelen-Dorf3 war Anfang des letzten Jahrhunderts von Westen her über Salgesch erreichbar, wobei sich die Landstrasse durch Wiesen, Nussbäume und Weinberge den Hang hochschlängelte und die Sicht über die sanften Hügel des Mittelwallis bis ins Unterwallis freigab. Von Osten her führte der Weg von Susten im Talgrund über das oberhalb gelegene mittelalterliche Städtchen Leuk hinunter zur Dalabrücke mit dem Dalaturm aus dem 13. Jahrhundert. Die imposante Dalaschlucht im Rücken, stieg der Weg auf der anderen Seite zuerst steil, dann abflachend durch Wiesen und Weinberge hoch nach Varen.

Das Oberwallis war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein geografisch und sprachlich isoliertes Randgebiet. Im ausgesprochenen Agrarland mit als Selbstversorger lebenden Kleinbauern arbeiteten im Jahr 1888 79 Prozent (schweizerischer Durchschnitt: 40%) und im Jahr 1910 noch 61 Prozent der Bevölkerung (schweizerischer Durchschnitt: 29%) hauptberuflich in Landwirtschaft, Minen und Wald.4 Dabei verteilten sich die Landwirtschaftsbetriebe auf mehrere Talstufen und waren aufgrund der erbrechtlichen Realteilung, das heisst der gleichmässigen Aufteilung des Erbes auf die Kinder, in zahlreiche Parzellen aufgesplittet. So war ein Hektar Walliser Rebland im Jahr 1916 durchschnittlich in 38 Parzellen aufgeteilt.5 Die Industrialisierung fand im Vergleich zu anderen Schweizer Regionen relativ spät statt und war vor allem auf die Entsumpfung der Rhoneebene durch die erste Rhonekorrektion (1863–1894) und die Verbreitung der Eisenbahn zurückzuführen. Dabei war die Entwicklung in den Jahren nach der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Sitten – Brig (1878) zunächst eher zögerlich.6 Dies änderte sich in den 1890er-Jahren, als die Nutzung der Elektrizität der Industrie ungeahnte Energiequellen eröffnete und neue Investitionen in bisher eher peripheren Gebieten zur Folge hatte. So wurde im Jahr 1908 die Aluminiumhütte der Aluminium Industrie AG (AIAG, auch Alusuisse genannt) in Chippis bei Siders eröffnet. Im selben Jahr nahm das Chemiewerk Lonza in Visp seine Produktion auf. Obwohl eine zunehmende Anzahl Personen im Oberwallis in der Folge in den Fabriken arbeitete, gaben sie ihr bäuerliches Leben nicht auf. Als sogenannte Arbeiterbauern führten sie mit der Hilfe der Familienmitglieder den familiären Landwirtschaftsbetrieb fort, was für die Unternehmer den Vorteil hatte, dass die Löhne tief gehalten werden konnten.7 Das mit der Eröffnung des Simplontunnels (1906) und der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Frutigen – Brig (1913) weiter vorstossende Eisenbahnnetz, das langsame Aufkommen des motorisierten Verkehrs und die besseren Strassenverbindungen – hier hinkte das Oberwallis bis zum Ersten Weltkrieg dem Unterwallis hinterher – führten weiter dazu, dass sich der seit Mitte der 1850er-Jahre aufkommende Fremdenverkehr deutlich verstärkte. Dies zeigte sich in einer Ausweitung des Angebots an Betten auch in den Seitentälern des Wallis. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Bauernkultur und Tourismus im Oberwallis jedoch zwei verschiedene Welten, die kaum miteinander in Kontakt kamen.8

Wie andere ländliche Gegenden der Schweiz war auch das Wallis stark vom Katholizismus geprägt. Auf nationaler Ebene war jedoch die Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorwiegend protestantisch-liberal dominiert und durch Technik und Industrie bestimmt.9 Die ländlichen, katholisch-konservativen Gebiete, die gesamtschweizerisch eine Minderheit darstellten, waren wirtschaftlich weitgehend von den durch Liberalismus und Protestantismus geprägten, dynamischen Industriezentren des Mittellands abhängig. So arbeiteten zum Beispiel viele Dienstboten und Mägde für das reformierte Stadtbürgertum. Es gab jedoch auch stärker industrialisierte katholisch-konservative Gebiete wie der Kanton Solothurn, der 1847 im Sonderbundskrieg eindeutig aufseiten der Liberalen stand.10 Auch der Kanton St. Gallen, wo sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Stickereiindustrie etablierte, war konfessionell gespalten.11 Da der liberale Staat 1848 gegen den Widerstand der katholisch-konservativen Minderheit gegründet worden war, betrachteten die liberalen Kreise die Katholiken aus den ländlichen Regionen als rückständige Vertreter des Christentums und als unzuverlässige Patrioten. Die Katholisch-Konservativen auf der anderen Seite fühlten sich im modernen Staat nicht wohl. Sie kapselten sich gegen aussen ab, sahen ihre Identität bedroht und standen dem industriellen Fortschritt und den mittelländischen Zentren misstrauisch gegenüber. Den sozialen Wandel, den die moderne Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auslöste, empfanden die Katholisch-Konservativen in den ländlichen Gebieten als fremdbestimmt. Auch gegenüber der liberalen Bildung verhielt sich ein Grossteil der katholischen Bevölkerung zurückhaltend. Die Bauern und Arbeiter hatten Angst, dass Bildung ihre Söhne und Töchter intellektuell und sozial den gewohnten Verhältnissen der Familie und des Dorfs entfremden würde.

Die katholischen Kirchenkreise reagierten defensiv auf die moderne Entwicklung, betonten die religiösen und ethischen Werte des eigenen Weltbilds und beschworen die vormodernen Gesellschaftsverhältnisse.12 Die Konfession erhielt damit einen wichtigen Stellenwert im Kampf gegen die andersdenkende Mehrheit. So versuchte die katholische Führung, ihre Gläubigen von den Bedrohungen der modernen Zeit so weit als möglich abzugrenzen und die kulturelle Identität des Katholizismus zu erhalten. Nach aussen wurden die Gläubigen in einem engmaschigen Netz von Kongregationen, Freizeitclubs und Vereinen abgeschirmt. Der gute Katholik besuchte katholische Schulen, nahm katholische Spitäler in Anspruch, war Mitglied katholischer Krankenversicherungen und katholischer Sparkassen und las katholische Tageszeitungen. Diese Abschottung hatte zur Folge, dass innerkatholische Unterschiede ausgeebnet und Spannungen zwischen den sozialen Schichten vermieden wurden. Sie verhinderte zum Beispiel die Abspaltung der katholisch organisierten linken Arbeiter und Angestellten in den industrialisierten Gebieten und kettete sie an den angestammten Bauern- und Gewerbeflügel in den ländlich geprägten Stammgebieten. Gegenüber den anderen beiden grossen politischen Subkulturen, dem Freisinn und der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden Sozialdemokratie, wurden die Interessen der Kirche durch den kirchen- und papsttreuen Flügel des Schweizer Katholizismus mit katholischen Volksorganisationen, Parteien und Vereinen vertreten. Die Katholisch-Konservative Partei nahm innerhalb des katholischen Organisationswesens die wichtigste Rolle ein, um die Leitvorstellungen der katholischen Weltanschauung in der Gesellschaft zu verbreiten. Dies gab den im Modernisierungsprozess zu kurz gekommenen Menschen und den wirtschaftlich zurückgebliebenen, katholisch geprägten Landregionen eine Stimme und führte sie an die Politik heran.13

Unter Einbezug der modernen Kommunikations- und der Transportmittel, die ihrerseits den sozialen Wandel vorantrieben, schuf der Katholizismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine organisierte katholische Massenreligiosität.14 Es entstanden neue Kultformen wie Andachten und Prozessionen, Wallfahrten und Heiligenfeste. Der Marienkult erlebte einen Aufschwung. Jegliches Verhalten gegen die geltenden Sitten wurde auf Fehlkonstruktionen der modernen Gesellschaft zurückgeführt.15 Die Geistlichen hielten die Gläubigen mit einem Moralismus, der mit Schuld, Fegefeuer, Hölle und Verdammnis drohte, in Schuldgefühlen gefangen. Sie intensivierten den Aufruf an die Familien und Schulen, die Heranwachsenden vor den sittlichen Gefahren der modernen Gesellschaft zu beschützen. So beinhalten die bischöflichen Hirtenbriefe der Schweiz, die in der Familie die erste und wichtigste Erziehungsinstitution sahen, zu jener Zeit vermehrt Gebote zu Enthaltsamkeit, sittlicher Kleidung, adäquater Lektüre und Gebet, was die Sorge vor weltlichen Vergnügen und dem zunehmenden Freizeitangebot der modernen Arbeitswelt zum Ausdruck brachte.16 Die Eltern sollten alles unternehmen, um die Kinder schon früh mit gutem Beispiel und durch Förderung der religiösen Erziehung im Glauben zu stärken. Die Bischöfe forderten vor allem die Mütter in vielen Schreiben auf, auf eine zurückhaltende Kleidung der Kinder zu achten und auch sich selbst ehrbar zu kleiden. So druckte der Walliser Bote im September 1930 das Mahnwort der Schweizer Bischöfe zum Bettag ab: «Die moderne Frauenmode entspricht dem christlichen Geiste vielfach nicht. Das Frauengewand soll reichen bis zum Hals, über die Knie und die Ellbogen. Durchsichtige Stoffe sind zu meiden. Diese Forderungen gelten allgemein. – Katholische Frauen, machet euch nicht zu Sklavinnen einer Mode, die nicht aus christlich gesinnten Kreisen stammt. Bedenkt die Verantwortung vor dem ewigen Richter, wenn ihr Ärgernisse ausstreut. ‹Wehe der Welt um der Ärgernisse willen›.»17 Bischof Bieler von Sitten konnte auch vielen Freizeitvergnügen wie Tanzen, Kino- und Theaterbesuchen nur Negatives abgewinnen, da diese die Gläubigen von der Sonntagsheiligung abhielten. «Wie viele Sünden», fragte er, «werden bei solchen nächtlichen Belustigungen begangen, wie manche Unschuld wird da zu Grabe getragen? [Man muss] die Beschlagnahme des Samstagabends […] geradezu teuflisch nennen.»18

Damit sich die katholischen Laien im öffentlichen Leben vermehrt in den Dienst der Kirche stellten, vereinigte Papst Pius XI. in den 1920er- und 1930er-Jahren alle katholischen Laienbewegungen unter dem Dach der «Katholischen Aktion». Damit wollte er ein Gegengewicht zu den damals sehr starken säkularen Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung schaffen. Wichtige Elemente der Laienbewegungen waren neben dem Kampf gegen die Kommunisten und die «Gottlosen» die Thematisierung von Fragen wie Keuschheit, negativer Einfluss der Filmindustrie und «Auswüchse» der Frauenmode.19 Auch im Ober- und Unterwallis wurden Zellen der «Katholischen Aktion» mit dem Ziel geschaffen, die möglichen kommunistischen Aktivitäten zu überwachen. Obwohl es damals im Wallis keine offizielle Kommunistische Partei gab, sah Bischof Bieler in der Zerstrittenheit der katholisch-konservativen Parteien in seinem Kanton eine grosse Gefahr, die es den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen erlauben würde, die Aufmerksamkeit der Bauern und Arbeiter auf sich zu lenken.20

In alpinen Regionen wie dem Wallis verbündete sich die katholische Kirche mit den Gemeinden als politischen Hauptakteuren, denn wesentliche Tätigkeiten der Landwirtschaft und der Viehzucht waren bis weit ins 20. Jahrhundert kollektiv organisiert und durch die Gemeinden kontrolliert.21 Dabei war die kirchliche Struktur in den Gemeinden meist nicht eindeutig von der politischen zu unterscheiden. Die Ausgaben für die Besoldung der Priester, den Unterhalt des Pfarrhauses oder für religiöse Feste gehörten zu den wichtigsten kommunalen Aufwendungen. Die katholischen Rituale sollten auch dazu dienen, Krankheiten oder Missernten fernzuhalten und den geregelten Ablauf der Jahreszeiten zu begleiten. Durch die Verbundenheit mit den autonomen Gemeinden, den Widerstand gegen die Reformbestrebungen der weltlichen Behörden und die Verhinderung der Bildung einer effektiven Zentralgewalt versuchte die katholische Kirche, ihre Macht und ihre Privilegien zu erhalten. Auf diese Weise trug sie dazu bei, erfolgreicher als anderswo die Grundstrukturen einer bäuerlichen und dezentralen, von den lokalen Organen kontrollierten Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Der Rückstand der Katholiken und ihre Konzentrierung auf die ländlichen Gegenden änderten sich mit den Umwälzungen des Zweiten Weltkriegs und dem enormen Wirtschaftsaufschwung der 1950er- und 1960er-Jahre. Das Wallis verzeichnete in den Jahren 1950 bis 1970 denn auch ein überdurchschnittliches industrielles Wachstum, während die Beschäftigung in der Landwirtschaft markant abnahm.22 Ein ausgesprochener Wohlstand breitete sich aus: Die meisten Schweizerinnen und Schweizer schafften sich bis in die 1970er-Jahre neben dem Auto ein Telefon und einen Fernsehapparat an.23 Dank Arbeitszeitverkürzungen verfügten die Menschen über immer mehr freie Zeit. Ferien wurden auch für die Arbeiter- und Angestelltenklasse erschwinglich. Der soziale Wohlfahrtsstaat wurde fortwährend ausgebaut. Nicht nur die öffentlichen Verkehrsmittel, sondern auch die private Motorisierung ermöglichten eine zunehmende Mobilität. Die aufkommende Freizeit- und Konsumgesellschaft führte dazu, dass der Sonntag vermehrt dazu genutzt wurde, Freizeitaktivitäten auszuüben und sich von der Arbeit zu erholen. Der Sonntag wurde verweltlicht und entglitt der Kontrolle der Kirche. Die Katholiken holten ihr wirtschaftliches Manko auf und gaben dabei grundlegende Werte der traditionellen katholischen Kultur auf. Die katholische Weltanschauung verlor ihren Absolutheitsanspruch. Die Modernisierung veränderte die hergebrachten Lebensweisen und die mit bäuerlichem Schaffen verbundenen Volksbräuche. Dabei kam es nicht plötzlich zu einer totalen Umkehrung der Werte, sondern zu einer Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem. Während sich die technischen und wirtschaftlichen Lebensstrukturen rasch änderten, blieben die religiösen Volksbräuche eine Zeit lang weiterbestehen. So waren die Veränderungen der religiösen Praxis in den 1940er-Jahren zuerst unterschwellig, ab den 1960er-Jahren verliefen sie dann offensichtlich.

Der Clan vom Berg

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