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Jeremias führt die Tradition fort
ОглавлениеJeremias, auch Mias oder ds’Miji genannt, wuchs zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder Theodor in der oberen Wohnung eines schmalen Hauses am Kegelplatz auf, einem etwas von der Hauptgasse zurückversetzten Platz im Zentrum von Varen. Die Familie lebte von der Landwirtschaft und vom Rebbau. Seine Mutter Leonie, geborene Varonier, zog die Buben allein auf, denn 1897, als Jeremias zweijährig war, starb sein Vater an Auszehrung, eine damals übliche Bezeichnung für eine durch Krankheiten wie Krebs oder Tuberkulose verursachte Abmagerung. Auf diesen Schicksalsschlag folgten gleich zwei weitere: Innerhalb eines Jahres verlor die Mutter nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre beiden Töchter. Da Leonie die Rebarbeiten nicht allein bewältigen konnte, griff sie nach dem Tod ihres Mannes auf die Hilfe von Tagelöhnern zurück. Auch Jeremias und Theodor mussten der Mutter schon sehr früh bei der Bewirtschaftung des familiären Guts helfen, weshalb Jeremias auch keinen Militärdienst verrichtete.
Jeremias’ Kindheit war durch tägliches, intensives Beten geprägt. Während Mutter Leonie im Winter ein paar Wochen lang mit dem Vieh im Maiensäss in Bodmen weilte, wohnten Jeremias und sein Bruder bei einer Tante im Dorf, die als Pfarrhaushälterin arbeitete. Dort mussten sie jeden Abend den Rosenkranz, die fünf Wunden, den englischen Gruss und den Psalter beten. Wegen der nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Gebeten versuchte Jeremias, die wiederkehrenden zehn Ave-Maria des Rosenkranzes auf neun, acht oder sogar sieben Gebete abzukürzen, bis die Tante dies merkte und ihn ermahnte. Er habe während seiner Kindheit genug gebetet, erzählte er seinen eigenen Kindern später gerne.
Die beiden Brüder waren von ganz unterschiedlicher Statur: Der grosse und schlanke, ja schon hagere Jeremias glich eher dem Vater, während Theodor mit dem grossen, runden Kopf, dem stämmigen Körperbau und der eher geringen Grösse von 1,65 Metern der Mutter ähnelte. An seiner linken Hand besass Jeremias nur vier Finger. Als Jugendlicher verlor er seinen kleinen Finger beim gemeinsamen Holzspalten mit Theodor. Während Jeremias d’Misilju [das Stammteil] hielt, wollte Theodor dieses mit der Axt in Holzscheite schlagen und erwischte versehentlich Jeremias’ kleinen Finger. Da kein Arzt in der Nähe war, schnitt der Pfarrer, der vor dem Theologie- ein Medizinstudium begonnen hatte, die Reste der Haut ab, desinfizierte den Stumpf mit Schnaps und nähte die Wunde anschliessend zusammen. Jahre später wiederholte sich fast dasselbe Missgeschick bei Theodor. Er lebte bereits in Solothurn, als er sich mit dem noch drehenden Messer seines Rasenmähers rund drei Zentimeter seines Daumens abschnitt, welcher von einer Katze geschnappt und gefressen wurde. Er band ein Taschentuch um den Stumpf und wollte zuerst weitermähen, ging dann aber auf Anraten seiner Familie trotzdem ins Spital. Auf die Frage des Arztes, wo denn der abgeschnittene Daumen sei, erwiderte er, eine Katze hätte ihn gefressen.
Als junger Erwachsener erkrankte Jeremias an Tuberkulose. Zu jener Zeit war in Leuk ein Wagen des Kantons stationiert, in dem die Bevölkerung ihre Lungen kontrollieren lassen konnte. Deshalb begleitete Oktavia ihren Mann dorthin zur Kontrolle. Der versprochene Bericht liess allerdings auf sich warten. Auf ihre Nachfrage hin hiess es, Jeremias solle wegen der Lungenblutungen zur Kur nach Montana, die Höhenluft fördere deren Genesung. Da Jeremias wegen der vielen im Frühsommer anstehenden Arbeit zu Hause bleiben wollte, rieten sie Oktavia, ihrem Mann in Bodmen Sorge zu tragen. Sie leistete Folge und sorgte dafür, dass er sich nicht übermässig belastete. Die nächste Kontrolle zeigte in der Tat einen besseren Befund. Jahre später kam es dann zu einem Blutsturz, einer plötzlichen Blutung aus der Lunge. Der Klinikaufenthalt war nun unvermeidbar, obwohl Jeremias glaubte, dass man von Montana nicht mehr zurückkehre. Tochter Anny begleitete ihren Vater in die Klinik nach Montana, wo er rund zwei Monate verbrachte. Unerwartet früh stand er eines Tages wieder vor der Haustüre, sodass Oktavia ihn fragte, was er denn schon wieder zu Hause mache. Die Lungenprobleme und der ständige Husten begleiteten ihn jedoch sein Leben lang.
Jeremias wurde Landwirt und Weinbauer und lebte wie schon seine Vorfahren als Selbstversorger. Rare Geldquellen waren der Verkauf von Trauben oder Wein oder eines Tiers. Die Aluminium Industrie AG führte zwar ab 1908 in Chippis bei Siders eine Aluminiumhütte, expandierte kräftig und ermöglichte vielen Varnern in der Folge ein regelmässiges Einkommen als Arbeiterbauern. Jeremias entschied sich jedoch gegen die Fabrik, da die Familie relativ viel Gut besass, der Besitz an Boden und Vieh ein wichtiges Element des sozialen Status war und Lohnarbeit in dieser auf Selbstständigkeit ausgerichteten Wirtschaft als Zeichen der Abhängigkeit und Armut galt.36 So gingen auch eher diejenigen in die Fabrik arbeiten, die selbst wenig Gut besassen. Aus demselben Grund arbeiteten nur wenige Personen im Oberwallis hauptberuflich als Handwerker. Wegen der hohen Unfallgefahr und dem langen Arbeiten in Hitze und Lärm hatte die Fabrik einen schlechten Ruf. So meinte Jeremias, er gehe nicht in die Fabrik arbeiten, weil dort alle krank würden. Auch die Niederschlagung eines Streiks im Jahr 1917 und die Entlassung von mehr als 1000 Arbeitern aufgrund der Weltwirtschaftskrise von 1929 trugen zur schlechten Reputation bei.37 Darüber hinaus zeigten sich nach Inbetriebnahme der Aluminiumhütte Umweltschäden an Reben, Aprikosenbäumen, Wäldern und Kühen in der Umgebung, welche von den Betroffenen auf die Fluoremissionen zurückgeführt wurden, die bei der Elektrolyse des Metalls in die Atmosphäre entwichen.38 In den Jahren von 1918 bis 1928 führte dies zum ersten «Fluorkrieg», in dem die Aluminium Industrie AG durch das Aufmarschieren zahlreicher Experten, die die Abgase für unschädlich erklärten, schliesslich einen Vergleich mit den betroffenen Bauern erreichte.39
Jeremias mit Mutter Leonie und Bruder Theodor (undatierte Aufnahme).
Sein Bruder Theodor schlug hingegen eine akademische Laufbahn ein. Auf Anraten eines verwandten Priesters und mit dessen finanzieller Unterstützung besuchte der intelligente Jugendliche von 1904 bis 1911 das Kollegium in Brig mit dem Ziel, Priester zu werden, ein Amt, das zu jener Zeit mit grossem sozialen Ansehen verbunden war. Gemäss dem Jahresbericht des Kollegiums Brig von 1912 wurde damals jeder vierte Briger Student Priester.40 Wer kein Theologiestudium in Angriff nahm, wurde Notar, Advokat oder Arzt. Frauen war der Zutritt zum Kollegium bis ins Jahr 1967 verwehrt.41 Die Absenz Theodors führte dazu, dass der daheim gebliebene Jeremias noch stärker anpacken musste, um die Güter und das Vieh zu bewirtschaften und dem Bruder das Studium zu ermöglichen. Als einer der wenigen im Dorf, die das Kollegium absolvierten, leitete Theodor während der Jahre am Gymnasium die Theatergruppe Varen, in der auch Jeremias mitspielte. Die Matura konnte Theodor zu jener Zeit jedoch nicht in Brig absolvieren, sondern musste das Gymnasium mit einem einjährigen Cours technique am Lycée cantonal in Sitten abschliessen.42 Das Walliser Schulsystem gab damals schweizweit zu Klagen Anlass, was auf das Zusammenlegen von jeweils zwei Jahrgängen und die mangelnde Qualifikation der Lehrer beziehungsweise deren erbärmliche Besoldung zurückzuführen war.43 1906 erliess die Eidgenossenschaft ein Maturitätsreglement, welches das Wallis zu Anpassungen zwang, wollte man eine anerkannte Maturität und somit den prüfungsfreien Eintritt in die Universitäten. Staatsrat Burgener wollte deshalb während Theodors Gymnasialzeit die letzten zwei Gymnasialklassen nach Sitten verlegen, wogegen im Oberwallis heftige Opposition entstand. Nach langen und harten Kämpfen und nachdem die naturwissenschaftlichen Fächer gestärkt wurden, erteilte man in Brig im Sommer 1911 erstmals die eidgenössische Matura.
Je näher die Matura rückte, umso klarer wurde es für Theodor, dass er nicht in den Dienst der Kirche eintreten wollte. Dies stellte für seine Mutter eine Riesenenttäuschung dar. Stattdessen begann der mathematisch Begabte im Herbst 1912 als 21-Jähriger ein Studium zum Maschineningenieur an der ETH in Zürich. Dies war aussergewöhnlich, denn trotz der grossen Industriewerke studierte zu Beginn des Jahrhunderts kaum ein Walliser an der ETH und wurde Ingenieur oder Chemiker, was wohl auch mit der schlechten Ausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern zusammenhängen dürfte. Theodor wohnte bei Jesuiten, die den Studenten aus Bergkantonen halfen, sich in der Stadt und an der Universität zurechtzufinden und sich angemessen zu kleiden. Zudem war Theodor alias «Knurr» Mitglied der katholischen Studentenverbindung der Kyburger (Akademische Kommentverbindung Kyburger), die 1912 als Tochterbewegung der Akademischen Verbindung Turicia gegründet wurde und neben der Pflege der Geselligkeit auch die Rechte der damals noch kleinen katholischen Minderheit in Zürich wahren und vergrössern sollte.44
Obwohl er zu den Übungen der höheren Semester zugelassen war, brach er sein Studium nach zwei Semestern im Frühling 1913 ab und kehrte ins Wallis zurück, wo er wieder bei seiner Mutter und seinem Bruder wohnte.45 Während sechs Monaten absolvierte er anschliessend ein Praktikum bei der Firma Brown Boveri & Cie. im Zweiggeschäft in Münchenstein bei Basel. Im zweiten Anlauf begann er im Oktober 1915 an der ETH in Zürich die Ausbildung zum Elektroingenieur. Er fiel jedoch zweimal bei der zweiten Vordiplomprüfung durch, sodass eine weitere Zulassung verwirkt war.46 Noch während seines Studiums lernte er in Zürich die Solothurnerin Frieda Maria Luterbacher kennen, Tochter des wohlhabenden Solothurner Uhrenfabrikanten Josef Luterbacher. Frieda hatte, wie bei Töchtern der Elite in katholischen Kantonen üblich, die Matura am Mädchengymnasium Académie Sainte-Croix in Freiburg absolviert.47 Wohl wegen der liberalen Gesinnung ihres Vaters studierte sie anschliessend Italienisch und Französisch an der Philosophischen Fakultät in Zürich und nicht an der katholischen Universität Freiburg. An Weihnachten 1918, anlässlich eines Besuchs bei der Familie im Wallis, schickte der 27-jährige Theodor seiner sechs Jahre jüngeren Frieda eine Postkarte, auf der eine Aufnahme des verschneiten Dorfs Varen zu sehen ist.
Liebe Friedy
Bin glücklich und ohne Unglück heimgekehrt. Bei uns liegt alles im tiefen Winter, auf diesem Bild kannst du dir einen Begriff machen vom Dorfe Varen. Siehst wie es hier im Wallis zwar idyllisch aber doch immerhin abgestorben aussieht. Auf alle Fälle fühle ich mich heimisch im Kreise meiner Angehörigen […].
Theodor verliess die ETH im Frühling 1919 ohne Diplom und bekundete grosse Mühe beim Finden einer Arbeitsstelle. Um Arbeitserfahrung sammeln zu können, bezahlte er sogar für eine Praktikumsstelle in Oerlikon. Er hätte das kleine Dalakraftwerk im Tal gegen Leukerbad leiten können, dafür konnte sich Frieda allerdings überhaupt nicht begeistern. So wohnte er immer wieder und während längerer Perioden zu Hause bei seiner Mutter und seinem Bruder, ohne ihnen aber bei den Arbeiten in der Landwirtschaft unter die Arme zu greifen. Obwohl sie sich bereits 1918 verlobten, kehrte Frieda nach Studienabschluss ins elterliche Heim nach Solothurn zurück. Ihr Vater Josef Luterbacher verbot die Hochzeit, solange Theodor keinen Studienabschluss vorweisen konnte und finanziell nicht eigenständig war. Josef Luterbacher hatte im Jahr 1926 seine Firma Luterbacher & Co. an die neu gegründete Ebauches SA verkauft, einen Zusammenschluss wichtiger Rohwerkehersteller der Schweizer Uhrenindustrie. Für ihren Bruder Max Luterbacher, der nach dem Verkauf der Firma als kaufmännischer Direktor des Zentralbüros bei Ebauches tätig war, machte Frieda in Solothurn hin und wieder Übersetzungsarbeiten ins Französische oder Italienische. Wegen seiner unsicheren finanziellen Lage und der fehlenden Einwilligung des Schwiegervaters musste Theodor den Zeitpunkt seiner Vermählung immer wieder hinausschieben.
Frieda Maria und Theodor (undatierte Aufnahme).
Im Gegensatz zu Theodor und Frieda fassten Oktavia und Jeremias bereits Mitte der 1920er-Jahre den Beschluss, zu heiraten. Da der Schwiegervater nicht mehr lebte, hielt Jeremias bei seiner Schwiegermutter um die Hand Oktavias an. Diese erwiderte auf seine Anfrage hin, er müsse sich in Acht nehmen, Oktavia sei dann eine Böse. In seiner gelassenen Art entgegnete Jeremias, wenn die Schwiegermutter es offensichtlich mit Oktavia ausgehalten habe, so werde auch er es mit ihr aushalten. Ihren Kindern erzählte Oktavia später, sie habe Jeremias aus Mitleid geheiratet. Er habe so für seinen Bruder arbeiten müssen, damit dieser studieren konnte. Sie habe nicht anders gekonnt, sie habe ihn heiraten müssen. Dabei trafen unterschiedliche Welten aufeinander: sie, die mehr als zehn Jahre lang in der Fremde gearbeitet und regelmässigen Lohn erhalten hatte, mit verschiedenen Kulturen und sozialen Schichten in Kontakt gekommen war und in den industriell entwickelten Gebieten die Errungenschaften der Moderne kennengelernt hatte. Er, der noch nie länger weggewesen war, im Rhythmus der Jahreszeiten und der Tiere lebte und als Selbstversorger kein Einkommen erzielte. Als sie zusammen in der Varnerfluh, einem felsigen, gegen die Dalaschlucht abfallenden Hang auf dem Weg nach Leukerbad spazieren gingen, musste sie ihm zeigen, wie man ein Bonbon isst, denn er hatte noch nie eines gesehen und spuckte es wieder aus.
Sie heirateten am 30. November 1926 in der Kirche von Varen, Oktavia im damals üblichen schwarzen Kleid, da Todesfälle sehr häufig waren, nach Todesfällen ein Jahr lang schwarz getragen wurde und sich die Hochzeit in Schwarz deshalb eingebürgert hatte. Jeremias trug einen Anzug mit satt sitzender, gestreifter Krawatte und hatte die Haare streng zur Seite gekämmt. Wie so häufig in Varen wehte am Hochzeitstag ein starker Wind. Eine windige Hochzeit hätten sie heute, meinte Pfarrer Schmid zum Brautpaar. Die anschliessende Hochzeitsreise führte nach Zürich und kostete gemäss Haushaltsbüchlein 200 Franken. Jeremias lief immer hinter Oktavia her und fragte sich, wie diese Frau in der grossen Stadt bloss zurechtkommt. Oktavia kannte Zürich von früheren Anstellungen. Sie hatte unter anderem im Restaurant Albisgütli serviert. Nach der Rückkehr ins Wallis verbrachten sie eine zusätzliche Flitterwoche in Bodmen, dem Varner Maiensäss bei Leukerbad.
Hochzeitsbild von Oktavia und Jeremias (1926).