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Ein eigenes Haus und viele Kinder

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Während der ersten Ehejahre wohnten Oktavia und Jeremias am Kegelplatz bei Leonie, der Mutter von Jeremias. Auch Bruder Theodor wohnte zeitweise in der unteren Wohnung im selben Haus. Die Wohnung, in der Jeremias bereits seine Kindheit verbracht hatte, setzte sich aus einer Stube, einer Kammer und einer kleinen Küche zusammen. Da es kein fliessendes Wasser gab, musste dieses vom nahen Brunnen geholt werden. Die Trockentoilette befand sich auf einem kleinen Balkon hinter dem Haus. Da Leonie in der grossen Stube schlief, mussten sich Oktavia und Jeremias als Verheiratete mit der kleinen Kammer begnügen, woran sich Oktavia störte. Die klein gewachsene, rundliche Leonie litt an starkem Rheuma und ihre verkrüppelten Gelenke bereiteten ihr starke Schmerzen. Oktavia pflegte ihre Schwiegermutter, hob sie auf den Stuhl und wusch sie im Bad, das sie auf der Rückfahrt ihrer Hochzeitsreise im Warenhaus Loeb in Bern gekauft hatte. Leonies Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, bis sie sich kaum mehr bewegen konnte. Im Jahr 1929, drei Jahre nach der Hochzeit von Oktavia und Jeremias, verstarb sie. Die Ausgaben von 260 Franken für das Begräbnis und das Seelenheil, von dem man sich die Erlösung der Sünden und das ewige Heil für die Verstorbene erhoffte, trug Oktavia in ihr Haushaltsbüchlein ein.

Bereits im Jahr nach der Hochzeit setzte bei Oktavia und Jeremias ein wahrer Kindersegen ein. 1927 brachte die 30-jährige Oktavia im Haus am Kegelplatz ein Mädchen namens Hedy zur Welt. Zwei Jahre später folgte das zweite Mädchen, das auf den Namen Marie getauft wurde. Die Angst, dass es nach Hedy und Marie bei Mädchen bleiben würde, war unbegründet, denn 1932 folgte Franz und 1933 René, die beide auch im Haus am Kegelplatz geboren wurden. Hedy erinnert sich, wie sie in ihrem Bettchen in der Stube lag und ihr Onkel Theodor, der auf dem Sessel am anderen Ende der Stube sass, sie mit seinen dunklen Kugelaugen streng anschaute. Sie fürchtete sich so sehr, dass Oktavia ihn schliesslich anwies, dies zu unterlassen. Oktavia störte sich auch zunehmend daran, dass Theodor ohne Arbeit und untätig zu Hause war. Sie gelangte immer mehr zur Einsicht, der arme Jeremias müsse sich zu Tode arbeiten und sein Bruder liege nur auf der faulen Haut. Dass Theodor darüber hinaus nach dem Tod von Leonie seinen Anteil an den Reben nicht dem Bruder, sondern einer Familie im Dorf verkaufte, zu denen sie wegen eines Erbstreits der vorherigen Generation ein gespanntes Verhältnis hatten, verärgerte vor allem Oktavia sehr. So warf sie ihn eines Tages aus dem Haus. Er zog dann nach Brig, wo er zusammen mit einem Partner einen Handel mit Futtermittel aufbaute. 1933 heirateten Frieda und Theodor, 15 Jahre nach ihrer Verlobung und drei Monate nach dem Tod von Friedas Vater. Auf den Wunsch von Friedas Familie hin lebten sie in Gütertrennung. Gemeinsam bezogen sie eine Wohnung bei der Post in Brig. 1934 kam ihre Tochter Stephanie, auch Steffi genannt, zur Welt. In Brig erhielt Frieda eines Tages Besuch von Oktavia, welcher wegen Geldforderungen Oktavias im Streit endete. Von diesem Tag an sahen sich die beiden Frauen nie wieder.

Wegen angeblicher Schummeleien seines Geschäftspartners ging es Theodors Handel mit Futtermittel nach drei Jahren finanziell so schlecht, dass Friedas Familie eine grosse Geldmenge einschiessen musste. Da zog die Familie Luterbacher in Solothurn einen Schlussstrich unter das «Experiment Wallis». Die kleine Familie zog in das zentrumsnahe Elternhaus in Solothurn, unter die Obhut des Luterbacher-Clans, welcher auch dafür sorgte, dass Theodor innerhalb der Ebauches SA, wo Friedas Bruder als Direktor tätig war, auf eine Stelle platziert wurde. Zuvor absolvierte Theodor aber noch eine zweijährige Ausbildung zum Uhreninstrumentenentwickler in einer Schule in Frankreich. Während über 20 Jahren arbeitete er danach bei der an der Ebauches SA beteiligten Firma Technica AG in Grenchen und baute dort eine Forschungsabteilung auf. Gerne an Problemen tüftelnd, konnte er sich aber nur schlecht für seine Ideen einsetzen und verlor die Rechte der von ihm entwickelten Bestandteile mangels Patentierung an andere. Lieber erklärte er seiner Tochter und ihren Klassenkameradinnen und -kameraden Mathematik und half einem in Solothurn wohnhaften Gymnasiallehrer beim Erstellen von Mathematikprüfungen. Obwohl er mit seinem Schwager Max Luterbacher gut auskam, wurde wegen der unterschiedlichen politischen Gesinnungen bei Luterbachers nie politisiert. Während Theodor katholisch-konservativ war, gehörten sowohl Theodors Schwiegervater Josef als auch sein Schwager Max als Unternehmer den Freisinnigen an. Freisinnige und Katholisch-Konservative lebten in getrennten Welten, was sich auch darin äusserte, dass sie bei Wahlen in unterschiedlichen Schulhäusern ihre Wahlcouverts einwarfen. So begleitete Steffi an Wahlsonntagen zuerst ihren Onkel zur Wahlurne, um kurz darauf nochmals mit ihrem Vater mitzugehen. Als Freisinnige blieben Friedas Vater und ihr Bruder der Kirche eher fern. Umso katholischer waren die Frauen, die sehr oft beteten und alles versuchten, um ihre Männer zum katholischen Glauben zu bekehren. Theodor litt unter der dominanten und machtbewussten Schwiegermutter, mit der er unter einem Dach lebte. Auch gegenüber seiner ebenfalls gebieterischen Frau, die viel Wert auf standesgemässes Auftreten und den familiären Ruf legte, musste er sich gefügig zeigen. Als Heimweh-Walliser erzählte er seiner Tochter, die ihn als sehr herzlichen Vater in Erinnerung hat, oft von seiner Jugend im Wallis. Seine Reisen nach Varen unternahm er allerdings immer ohne seine Familie, sodass Steffi ihre Walliser Verwandten gar nicht kannte. Dabei wohnte er bei Leo Roten in Varen oder ferienhalber in einem Hotel im Turtmanntal, wo Jeremias ihn jeweils besuchte. So lernten auch die Kinder in Varen ihren Onkel nicht kennen.


Theodor mit Tochter Steffi (1934).

Mit den vier kleinen Kindern wurde die Wohnung am Kegelplatz langsam zu klein. Im Herbst 1933 begann die Familie am westlichen Ende des Dorfes, wo Jeremias eine Landparzelle geerbt hatte, mit dem Bau eines allein stehenden, etwas von der Dorfstrasse zurückversetzten Hauses. Die Bauarbeiten wurden von Jeremias mithilfe seines Schwagers Theodul und weiteren Arbeitern und Handlangern ausgeführt. Oktavia hielt alle Arbeiten und Ausgaben in ihrem Haushaltsbüchlein fest, fein säuberlich getrennt nach Material- und Personalkosten, wobei sich der Tagessatz für einen Arbeiter auf 5.50 Franken belief. Im Sommer 1934 war der damals noch von Bäumen und Büschen umgebene Bau fertiggestellt. Als die Familie am Ende des Sommers mit Kuh und Wagen von Bodmen zurückkam, wollte Hedy zum alten Haus am Kegelplatz einbiegen. Vater Jeremias wies sie jedoch an, weiter geradeaus zum neuen Haus zu laufen. Die damals sechsjährige Tochter Hedy hatte vom Hausbau somit nichts mitbekommen.


Varen mit dem sich im Bau befindenden Haus in der Mitte des unteren Bildrands (1933).

Die gesamten Kosten des Hausbaus beliefen sich gemäss Haushaltsbüchlein auf 15 150 Franken. Das Haus war durch Oktavias Ersparnisse finanziert worden und bestand aus einem Erdgeschoss mit Keller, wo Hammu [Rohschinken] und Käse aufgereiht gelagert wurden, einem Weinkeller und einer Waschküche. Der an der Hangseite gelegene Hauseingang führte in das ausgebaute erste Stockwerk. Darüber befanden sich zwei im Rohbau belassene Stockwerke. Der grosse Raum unmittelbar oberhalb der Wohnung wurde als Massenlager für die Kinder genutzt. Das unter der Dachschräge gelegene oberste Stockwerk diente nicht nur als Trocknungsraum für die Wäsche, sondern auch als Lagerraum für die bis zu 50 Kilogramm schweren Polenta-, Mehl- oder Zuckersäcke. Auch Früchte, selbst gemachte Hauswürste oder Hammu wurden dort getrocknet.

Das Haus bot nicht nur in Bezug auf die zur Verfügung stehenden Flächen und Räumlichkeiten auf verschiedenen Stockwerken einen ziemlichen Kontrast zur Wohnung am Kegelplatz. Für die damaligen Walliser Wohnverhältnisse, insbesondere in den Bergregionen, war das Haus mit modernen Neuerungen ausgestattet. Es verfügte über fliessendes Wasser, ein Badezimmer mit Toilette und Badewanne und eine Art Zentralheizung mit Radiatoren in den drei Zimmern des ersten Stockwerks. Ein Standard, der bis 1950 im Oberwallis eine Seltenheit war.48 Als Tochter Hedy Anfang der 1940er-Jahre bei einer Familie in Sitten arbeitete und einer anderen Oberwalliser Angestellten erzählte, sie wohne in einem Haus mit Badezimmer, wurde sie prompt als Lügnerin bezeichnet.


Einzug in das neue Haus (1934).

Mit dem in der Küche stehenden Holzofen konnte nicht nur gekocht, sondern auch das Badewasser gewärmt und die Radiatoren geheizt werden. Dazu entfachte man im oberen Teil des Ofens ein Feuer, das mittels Erhitzung der Heizplatte zum Kochen diente. Zog man an einem Haken in der Mitte des Ofens, so öffnete sich der Zwischenboden und das Feuer fiel in den unteren Teil des Ofens, wo es die dort durchlaufende Wasserspirale erhitzte, welche mit dem Badezimmer und den Räumen im ersten Stockwerk verbunden war. Damit konnten entweder das Badewasser gewärmt oder die Heizkörper in den Zimmern temperiert werden.

Der Schlafort der Kinder variierte in Abhängigkeit ihres Alters. In den ersten drei Lebensjahren schliefen sie in einem grossen Bett im Elternschlafzimmer. Danach wechselten sie in das kleine Zimmerchen neben dem Elternschlafzimmer, in dem sich nebeneinander zwei Betten befanden. In jedem dieser Betten schliefen je zwei Kinder, zu Beginn Hedy und Marie beziehungsweise Franz und René, später dann die jüngeren Kinder. Silvie war im Sommer 1934 in Bodmen zur Welt gekommen, kurz vor dem Umzug ins neue Haus. Als erstes Kind wurde Anny im Jahr 1936 im neuen Haus geboren. Von den vier Kindern in den beiden Betten lagen jeweils zwei in die eine und zwei in die andere Richtung. Diese Nähe verlockte die Kinder dazu, den Nächstliegenden zu necken und in den Hintern zu zwicken, sodass Oktavia abends vielfach Einhalt gebieten musste.


Familienbild vor dem Hauseingang (um 1935).

Als die Kinder älter wurden, wechselten sie in das obere Stockwerk. Dort hielten sie sich gerne auf, denn sie fühlten sich freier. Mit Ausnahme eines kleinen abgetrennten Zimmers war der Raum offen und bestand aus rohen Hausmauern ohne elektrisches Licht. Das Mobiliar setzte sich aus acht in Reih und Glied angeordneten Betten zusammen. Da den Kindern kein fixes Bett zugeteilt war, schliefen sie einmal im einen, dann im anderen Bett. Im Winter war es dort sehr kalt und es bildeten sich Eiszapfen an den Fenstern. Sie schliefen deshalb in Schafspelzen, die der Vater eingesalzen hatte. Ein Fell legten sie direkt auf die Matratze, ein weiteres Fell und eine Decke sorgten für angenehme Wärme. Im Sommer legten sie die Pelze beiseite.

Zwei oder drei Jahre nach Fertigstellung des neuen Hauses errichteten sie hangseitig hinter dem Haus einen grossen Stall, in dem die Rinder, Kühe und Kälber untergebracht wurden, eine stattliche Scheune und einen direkt angrenzenden kleineren Stall für die Schweine, Geissen und Schafe. Die Möglichkeit der Aufbewahrung grösserer Mengen Heu und Stroh und die Nähe zum Vieh erleichterten das Hirten [Füttern, Pflegen und Melken der Tiere] und verminderten den Aufwand während des Winters, da das Heu weniger häufig von verschiedenen, verstreut liegenden Scheunen zum Vieh transportiert werden musste.

Nachdem sie das erste Heu eingebracht hatten, wässerte Jeremias eines Nachts in den Duden, einem Gebiet in Richtung Leuk, eine Wiese. Weiter oben gegen die Varnerfluh besass die Familie zwei weitere Wiesen. Während des Wässerns sah er in einer dieser Wiesen ein Feuer brennen. Er ging davon aus, dass der Stapel Fallholz brannte, den er dort für den Winter aufgetischt hatte. Jetzt hat er kein Holz mehr für den Winter, sagte er sich. Er ging hoch, um nachzuschauen, fand das Holz aber unversehrt vor und fragte deshalb im Dorf nach, ob jemand in der Gegend ein Feuer gesehen hatte. Niemand konnte ihm dies jedoch bestätigen. Zwei Tage später wollten Franz und René am Nachmittag bei der Scheune mit einem Feuerzeug ein Feuer anzünden. Es regnete leicht und das Feuer brannte nicht so richtig, sodass sie näher zum Gebäude rückten und es erneut versuchten. Das Feuer griff auf die nahe gelegene Scheune über und breitete sich wegen des frisch eingebrachten Heus rasch aus. Die Scheune und der anliegende Stall gingen in Flammen auf und brannten nieder. Für die Familie stellte dies ein schrecklicher Schlag dar. Jeremias sass auf der Treppe vor dem Eingang des Hauses, umringt von den Kindern, und hielt seinen Kopf in den Händen. Statt seine Söhne mit Vorwürfen einzudecken, schaute er nur auf und sagte mit trauriger Stimme zu Franz, er solle schauen, was er gemacht habe. Das war seine einzige Reaktion. Glücklicherweise halfen ihnen Jules Bayard, den die Kinder als Gottu [der Familie nahestehenden Mann] bezeichneten, und Leo Roten, zwei Verwandte väterlicherseits, mit Heu aus, denn der Brand hatte ihnen einen Grossteil ihres Heus für den Winter genommen. Dass er das Feuer in der Nacht zuvor in seiner Wiese brennen sehen hatte, betrachtete Jeremias als Zeichen des bevorstehenden Unglücks.

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