Читать книгу Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht - Sylvie Méron-Minuth - Страница 10

1.3 Lehrerrolle und Pädagogisches Handeln

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Wie lässt sich die europäische Sprachenpolitik in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Plurilinguismus der einzelnen Schülerinnen und Schüler auf den Fremdsprachenunterricht übertragen?

Boeckmann (2012: 1) spricht an, was ein zentrales Problem der Forderung nach größtmöglichem Plurilinguismus europäischer Bürger in der Praxis für Lehrende darstellt: In der Regel werden Lehrende des Muttersprachenunterrichts weniger umfassend darin ausgebildet, Unterricht in einer Zweitsprache zu geben als Fremdsprachenlehrkräfte, und sie sind deshalb auch weniger darauf eingestellt, das plurilinguale Repertoire von Lernenden weiter zu entwickeln. Dementsprechend muss der Mehrheitssprachenunterricht mehr leisten als der Erstsprachenunterricht (vgl. Boeckmann et alii 2011).

Die Berücksichtigung der von den Schülerinnen und Schülern mitgebrachten Sprachen, die offiziell weder Teil des Muttersprachen- noch des Fremdsprachenunterrichts sind, stellt die Lehrkraft vor eine schwierige Herausforderung. Es ist wahrscheinlich, dass die Lehrkraft selbst bei weitem nicht alle von den Lernenden beherrschten Sprachen selbst zu sprechen in der Lage ist. Dennoch, könnte die Lehrperson die Heterogenität ihrer Lerngruppen als pädagogische Chance wahrnehmen (vgl. Reich 2006: 5), so ließen sich zum Beispiel bestimmte Grammatikphänomene auf andere Sprachen übertragen und die Schülerinnen und Schüler, in ihrem jeweiligen, individuellen Lernprozess, könnten so gezielt als „Experten“ in die Lehre miteinbezogen werden (vgl. Boeckmann et alii 2011). Reich (2006) betont, wie dienlich es für eine erfolgreiche Unterrichtsführung ist, die persönlichen Lernfortschritte jedes einzelnen Schülers zu berücksichtigen:

„Der Unterrichtserfolg kann in heterogenen Gruppen nicht allein durch das Erreichen der allgemeinen Lernziele definiert werden. Es werden zusätzlich die individuellen Lernfortschritte miteinbezogen.“ (Reich 2006: 5)

Dies gilt gleichermaßen sowohl in Situationen mit einer Mehrheitensprache als Unterrichtssprache und einer mitberücksichtigten Minderheitensprache, als auch im Fremdsprachenunterricht, in dem Lernstrategien und Sprachphänomene aus anderen Sprachen einbezogen und im Sinne eines differenzierten Lernens nutzbringend in das Unterrichtsgeschehen implementiert werden können (vgl. beispielsweise Hufeisen & Neuner 2003; Boeckmann et alii 2011).

Stellvertretend für die Vielzahl an vorgeschlagenen Maßnahmen zur Förderung der Mehrsprachigkeit im (Fremdsprachen-)Unterricht soll hier ein Beispiel kurz skizziert werden, das einen breit angelegten, grundsätzlichen und theoretischen Ansatz darstellt: Castelotti, Coste und Duverger (2008) schlagen sieben operationalisierbare Prinzipien für Mehrsprachigkeit im Schulkontext vor, die im Folgenden exemplifiziert und erörtert werden:

« Premier principe: Du plurilinguisme limité à certaines situations, souvent à connotation élitiste, au plurilinguisme pour tous. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 14)

Mehrsprachigkeit muss dabei eine regelmäßige Erfahrung im Unterrichtsgeschehen werden; des Weiteren muss sich ein Demokratisierungsprozess in diesen Situationen realisieren. Eine stetige Integrierung verschiedener (Neben--)Sprachen im Unterricht ermöglicht es, auf die höheren Ziele der Schule abzuzielen, insbesondere auf das Konzept der Inklusion und der sozialen Zusammengehörigkeit.

« Deuxième principe : Du plurilinguisme négligé des répertoires des apprenants et de la communauté proche à un plurilinguisme inclusif reconnu et valorisé par l’école. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 14)

Nur wenn die gesamte Sprachenvielfalt in einer Lerngruppe gleichermaßen im Rahmen des Unterrichts gewürdigt wird, kann Mehrsprachigkeit als Katalysator für Wertschätzung und Zusammenhalt fungieren. Allen Sprachen und Kulturen im Unterricht Bedeutung zuschreiben heißt zugleich Unterschiede anzusprechen, zu tolerieren und letztendlich schätzen zu lernen. Dies gilt gleichermaßen für in der Schule gelernte Fremdsprachen als auch für Minderheitensprachen, die nur von einigen Schülerinnen und Schülern beherrscht werden und normalerweise nicht Teil des Unterrichts sind.

« Troisième principe: De l’apprentissage de différentes langues vers une éducation langagière générale ouverte à la diversité linguistique et culturelle et aux enseignements plurilingues. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 14)

Sprachenlernen sollte nicht getrennt nach einzelnen Sprachen verlaufen, sondern gemeinsam als Lernen verschiedener Sprachen auf gemeinsamer Basis geschehen. Fremdsprachen sollen dabei im Grunde wie die Muttersprache behandelt werden, was dadurch der Sprachen- und Kulturvielfalt zu Gute käme. Das präzise Vorgehen hängt aber stark von der jeweiligen Lerngruppe und den Sprachen ab. Die Grundlage dafür stellt das vierte Prinzip dar.

« Quatrième principe: De l’enseignement cloisonné de différentes langues vers une conception holistique des enseignements langagiers. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Sprachvermittlung sollte zunächst immer eine ganzheitliche Idee der Vermittlung von Sprache sein, und nicht von vorn herein nur in Einzelsprachen als abgeschlossenes System gedacht werden. Der Transfer von Sprachlernstrategien und grundsätzlichen Kenntnissen von Sprachsystemen vereinfacht ein ganzheitliches Lernen von mehreren Sprachen. Zentral für diese holistische Herangehensweise sind bekannte Prinzipien der Didaktik wie integrierte Sprachendidaktik, Förderung des Sprachbewusstseins, Öffnung anderen Kulturen gegenüber, Austausch zwischen den Sprachen und ihren Sprachgemeinschaften.

« Cinquième principe: D’une politique linguistique centrale à des politiques linguistiques partagées et donc partiellement décentralisées. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Aus den ersten vier Prinzipien ergibt sich das fünfte: Sprachenpolitik sollte nicht zu sehr im großen Maßstab gedacht, sondern die allgemein akzeptierten, sprachenpolitischen Prinzipien lediglich auf den jeweiligen lokalen Fall angewendet und entsprechend adaptiert werden. Dies scheint zunächst den Ideen des Europarates zu widersprechen. Dabei handelt es sich bei genauerem Hinsehen aber vielmehr um die direkte Umsetzung der Forderung nach Mehrsprachigkeit, wenn lokal unterschiedliche (Minderheiten-)Sprachen unterschiedlich viel Gewicht und Bedeutung im Unterricht bekommen, je nach dem jeweiligen Umfeld.

« Sixième principe: De la logique de l’ajout de langues au curriculum à celle d’un curriculum intégré des langues. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Lehrpläne sollten stärker auf das Sprachenlernen im Allgemeinen ausgerichtet werden. Es macht für die im Folgenden zitierten Autoren mehr Sinn, Sprachenlernen so weit wie möglich als eine Einheit zu betrachten, und nicht kategorisch nach Sprachen zu unterscheiden. Die Präsenz anderer Sprachen im stetigen Verlauf des Unterrichtens würde auch das Sprachverständnis im Allgemeinen und die Mehrsprachigkeit im Konkreten fördern.

« Septième principe: D’une vision du style « tout et tout de suite » à une politique linguistique réaliste « des petits pas ». » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Das letzte Prinzip bezieht sich auf das Ideal einer Lernspirale, die pas à pas in kleinen Happen das Sprachenlernen fördert und nicht mit zu viel Inhalt jegliche Motivation seitens der Lernenden verhindert. Im Fall der geforderten Mehrsprachigkeit bedeutet dies zugleich, ein gesundes Gleichgewicht zwischen zu vielen Sprachen und Inhalten und zu wenig Bezug auf andere Sprachen zu finden. Kurz gefasst der bekannte Satz von Butzkamm (1989) einmal anders: „So viel wie möglich, so wenig wie nötig“. Denn Plurilinguismus und Mehrsprachigkeit dürfen nicht zu einem alles überschattenden Credo werden (vgl. auch die Kritik von Maurer unter anderem in Kapitel 8).

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

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