Читать книгу Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht - Sylvie Méron-Minuth - Страница 18

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2.4 Individuelle Mehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeit – wie wir bereits in den vergangenen Kapiteln feststellen konnten – wurde seinerzeit im Weißbuch von 1995 (vgl. Europäische Kommission 1995: 62) als ein zu erreichendes Erziehungsziel für jedes Individuum erklärt. Individuelle Mehrsprachigkeit meint einen Zustand, in dem ein Individuum Kompetenzen in mehr als einer Sprache besitzt, sich entsprechend ein kommunikatives Sprachrepertoire zugelegt hat, das aus psycholinguistischer Perspektive auch Sprachmischungen umfasst. Anders formuliert: mehrsprachig ist derjenige, der im alltäglichen Leben regelmäßig zwei oder mehrere Sprachen verwendet und sich somit verständigen kann, sowie von der einen in die andere umschalten kann, vorausgesetzt, dass die Umstände dies erforderlich machen. Dabei muss der Sprecher die einzelnen Sprachen nicht mit demselben Perfektionsgrad beherrschen, so wie es Yves Bertrand und Herbert Christ im folgenden Auszug verdeutlichen:

« Cette définition [du plurilinguisme individuel] ne demande pas qu’un individu maîtrise toutes ces langues avec la même perfection. Contrairement au multilinguisme, le plurilinguisme est planifiable, par exemple dans le cadre d’une politique scolaire dont il est le produit. » (Bertrand & Christ, 1990:44)

Vielmehr sei die individuelle Mehrsprachigkeit planbar, so wie zahlreiche offizielle Texte diese Unterscheidung aufgreifen (Ebd.). Sie sei auch das Ergebnis verschiedenartiger Lernprozesse und somit von zahlreichen äußeren und inneren Faktoren wie Alter und der Zeitpunkt des Erwerbs, der Ort des Erwerbs, die Art des Erwerbs zusätzlich zu Umständen und Motivation.

2.4.1 Lebensweltliche Mehrsprachigkeit

Ingrid Gogolin führte 1988 den Terminus der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit im Zusammenhang mit Forschungen zu Zwei- und Mehrsprachigkeit1 ein. Damit beschreibt sie die sprachlichen Kenntnisse und Kompetenzen von Menschen, die durch ihre persönliche, außerschulische Biografie in ihrem alltäglichen Leben in mehr als einer Sprache aufwachsen, denken, agieren und kommunizieren. Diese lebensweltliche Mehrsprachigkeit wird zur gewöhnlichen Lebensführung gebraucht und ist erforderlich, um den Alltag handlungsfähig zu gestalten. So übernehmen beispielsweise Kinder mit Migrationshintergrund häufig Mediationsaufgaben für ihre Eltern im schulischen Zusammenhang.

Mit Blick auf das deutsche Bildungssystem war es Gogolins Anliegen, die besondere Stellung zwei- und mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler – Kinder mit Migrationshintergrund – darzulegen, um ihre These vom monolingualen Habitus der deutschen Schule zu stützen, dem sie die multilinguale Realität eines großen Teils der Schülerschaft gegenüberstellt. Nach Gogolin wird dieses Sprachvermögen durch die Institution Schule nicht vermittelt und entsprechend auch nicht offiziell anerkannt bzw. unterrichtlich eingebunden (vgl. Gogolin 1994). Heidemarie Sarter (2013) fügt hinzu, dass die lebensweltlichen Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler allzu häufig ein totes Kapital bleiben, anstatt revitalisiert und ausgebaut zu werden (vgl. Sarter 2013: 55). Deshalb – entsprechend dem erklärten Ziel der Europäischen Union (2005) – die Mehrsprachigkeit zu fördern, schließt dies ebenfalls die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schülerschaft ein, die umfangreichen Eingang in das unterrichtliche Geschehen finden muss (vgl. Gogolin 1994, 2008; Hu 2003).

Wenn wir einen Blick auf Statistiken der ausländischen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen für das Schuljahr 2015/16 werfen, so repräsentiert das Türkische mit 15,4 % die mit Abstand am stärksten vertretene Herkunftssprache (vgl. Statistisches Bundesamt 2017).

Die russische Sprache gehört gleichermaßen zu den weit verbreiteten Herkunftssprachen in Deutschland nach der Türkei und Polen (vgl. Anstatt 2009; Brehmer & Mehlhorn 2015: 85f.). Neben Immigranten aus den russischen Kerngebieten sind vor allem russlanddeutsche Spätaussiedler aber auch Georgier, Kasachen, Usbeken und Ukrainer Teil der russischsprechenden Gemeinschaft in Deutschland.

Exemplarisch am Bundesland Nordrhein-Westfalen gezeigt, lebten dort im Jahre 2015 Familien mit ihren Kindern, die aus mehr als 190 verschiedenen Herkunftsländern stammten.

„In den Ballungsgebieten liegt die Quote der Kinder im Einschulungsalter, die mehrsprachig aufwachsen, bereits bei 40 Prozent und mehr. […] Manche Stadtteile haben Quoten von 80 Prozent und mehr, während andere eine Quote von 20 Prozent nicht übersteigen.“ (Bainski & Trujillo 2015: 478)

Bainski und Trujillo fügen hinzu, dass 50 % bis 70 % dieser Kinder neben Deutsch ihre Herkunftssprache sprechen würden (Ebd.). Somit kommen diese Kinder von frühester Kindheit an, auf natürlichem Wege im öffentlichen Alltagsleben mit etlichen Sprachen in Berührung. Nicht nur in der globalisierten Welt, sondern auch in unserer von Migration geprägten Gesellschaft sei es deshalb unabdingbar, die lebensweltlich erfahrene Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler als Bestandteil ihrer Identität in den schulischen Unterricht einzubetten (vgl. z.B. Oomen-Welke & Krumm 2004; Hufeisen 2004b; Sarter 2013).

2.4.2 Schulische Mehrsprachigkeit

Anders als die lebensweltliche Mehrsprachigkeit bleibt die schulische Mehrsprachigkeit anzubahnen, also ein Desiderat der Europäischen Union, die die Mehrsprachigkeit als „ein Lernziel von hoher Verbindlichkeit“ sieht (Meißner & Reinfried 1998: 11). Unter schulischer Mehrsprachigkeit versteht man demnach die Sprachen (Interlangues), die die Lernenden in ihrer schulischen Laufbahn gelernt haben oder gerade dabei sind zu lernen.

Überträgt man die Idee des Plurilinguismus auf den Fremdsprachenunterricht und das Fremdsprachenlernen, so fordert der Europarat folgende Kriterien im Kern zu berücksichtigen, nämlich dass der Fremdsprachenunterricht eine mehrsprachige Erziehung fördern möge, bei der neben dem Fremdsprachenlernprozess auch eine Bewusstmachung über die vielfältige Vernetzung der Kompetenzen entwickelt wird:

L’éducation plurilingue encourage:

la prise de conscience du pourquoi et du comment on apprend les langues choisies;

la prise de conscience de compétences transposables et la capacité à les réutiliser dans l’apprentissage des langues;

le respect du plurilinguisme d’autrui et la reconnaissance des langues et de leurs variétés, quelle que soit l’image qu’elles ont dans la société;

le respect des cultures inhérentes aux langues et de l’identité culturelle d’autrui la capacité à percevoir et à assurer le lien entre les langues et les cultures;

une approche globale intégrée de l’éducation linguistique dans les curricula. (Conseil de l’Europe 2014: politiques; Absatzmarkierungen im Text)

Denn in der schulischen und sprachlichen Bildung – also im institutionalisierten Kontext – wird das Erlernen von mindestens zwei Fremdsprachen angestrebt, um gegenseitiges, in diesem Fall bilaterales, Verständnis innerhalb europäischer Länder zu gewährleisten. Werden zwei, drei oder noch vier Fremdsprachen – vor allem im Gymnasium – gelernt, so eignet sich der Einzelne aufgrund der vorgängig gelernten Sprachen einen sehr großen Erfahrungsschatz an sprachlichem Wissen, Lernstrategien und Kompetenzen an, auf dem das Lernen weiterer Sprachen (Vorwissen) basiert und ermöglicht wird (vgl. Hu 2011: 234). Kennzeichnend nach Neuner und Hufeisen (2005), 2009 durch Neuner; Hufeisen et alii in Folge auf Wandruszkas Begriffsdefinition erweitert, gilt für das neue Mehrsprachigkeitskonzept, dass:

„Wenn eine Person mehrere Sprachen lernt, so fängt sie nicht bei null an, sondern ihr vorhandener Sprachbesitz wird durch jede neue Sprache immer mehr erweitert,

Das Ideal der muttersprachenähnlichen Sprachkompetenz in jeder neu zu erlernenden Sprache nicht erzielt werden muss,

Das Kompetenzniveau und das Fertigkeitsprofil in den einzelnen, jeweiligen zu erlernenden Sprachen, sehr unterschiedlich sein kann (während man in der einen eine hohe Lesekompetenz entwickeln kann, kann in einer anderen Sprache die mündliche Mitteilungsfähigkeit besonders ausgeprägt sein.“ (Neuner; Hufeisen; Kursiŝa; Marx; Koithan & Erlenwein 2009: 19; Hervorhebungen im Text)

Das Besondere im „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ (Europarat 2001) ist, dass Sprachen und Kulturen nicht getrennt betrachtet werden, sondern gemeinsam die kommunikative Kompetenz des europäischen Bürgers ausmachen, die von ihm wiederum lebenslang (weiter-)entwickelt werden müsste. Mit diesem Grundverständnis vom Sprachenlernen beschäftigt sich die entwickelte Mehrsprachigkeitsdidaktik seit einem guten Jahrzehnt, die im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen wird.

Die Diskurse zur Mehrsprachigkeit sind so umfangreich und komplex, dass sie hier nicht vollständig darstellbar sind. Aufgrund dieser Komplexität sei auf meine zentralen Forschungsanliegen dieser Studie verwiesen. Hier stehen die Einstellungen von gymnasialen Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern im Fokus, die in ihren Klassen in unterschiedlichem Maße mit Mehrsprachigkeit konfrontiert sind. Dies kann eine lebensweltliche Mehrsprachigkeit aufgrund von Migration sein, oder aber auch die schulische Mehrsprachigkeit aufgrund der vorgelernten Fremdsprachen. Nicht der Grad der Beherrschung einer dieser Sprachen, die man mit Selinker immer auch als Interlanguage1 bezeichnen kann (vgl. Selinker 1972), ist hierbei interessant, sondern die Einbeziehung oder Nicht-Einbeziehung eben dieser Sprachen durch die Lehrpersonen. Im Übrigen ist die Sprachenfolge am Gymnasium nach dem Hamburger Abkommen von 1964 und 1971 in Paragraph 13 a, b, c geregelt, wonach in der fünften Klasse eine erste lebende Fremdsprache oder Latein und ab der siebten Klasse eine weitere Fremdsprache gelernt werden (KMK 1973: 5).

Durch die Forderung nach Mehrsprachigkeit der Europäischen Union (L1 + 2) sieht sich auch der Fremdsprachenunterricht mit diesbezüglichen Fragen konfrontiert. Es muss überlegt werden, welche Sprachen in welchem Ausmaß unterrichtet werden sollen, um auf die reale Mehrsprachigkeit der Europäischen Union optimal vorzubereiten (vgl. Nieweler 2001: 207).

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

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