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2.2.2 Mehrsprachigkeit

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Die genannten Wissenschaftsdisziplinen haben den Terminus Mehrsprachigkeit längst angenommen. Er ist Gegenstand linguistischer, psychologischer, soziologischer, erziehungswissenschaftlicher und nicht zuletzt fremdsprachendidaktischer Forschung. Dieses umfassend eingesetzte, komplexe Konzept fungiert meist als Oberbegriff, um Forschungen zum Zweit- bzw. Fremdsprachenerwerb und zum Bilingualismus einzuschließen (u.a. Franceschini 2009: 63; Lengyel 2017: 154).

Der Begriff Mehrsprachigkeit ist ambivalent und wird vielschichtig ausgelegt. Einerseits bezieht er sich auf die Existenz mehrerer, unterschiedlicher Sprachen auf einem geografischen Gebiet, innerhalb eines individuellen oder gesellschaftlichen Systems, was als Multilingualität klassifiziert wird und die kollektive Mehrsprachigkeit beschreibt (vgl. De Florio-Hansen 2006; Wiater 2006: 51, De Cillia 2010). Andererseits nimmt Mehrsprachigkeit gewohntermaßen Bezug auf die menschliche Fähigkeit, in verschiedenen Sprachen verbal zu kommunizieren, was wiederum als Plurilingualität bezeichnet wird und auf die individuelle Mehrsprachigkeit fokussiert (vgl. Wiater 2006: 51; De Florio-Hansen 2006 sowie Näheres dazu in Kap. 2.2.2.2). Mehrsprachig sein bedeutet nicht zwingend:

"[…] über volle Kompetenzen in zwei oder mehreren Sprachen relativ konstant [zu] verfügen." (Bausch 2003: 439)

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht fungiert Mehrsprachigkeit als Oberbegriff, um soziale, institutionelle und individuelle Formen der Aneignung von Sprachen für die gesamte Lebenszeit – z.B. Spracherwerb und Sprachlernen, unter anderem in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule – wie auch die konkrete Verwendung von Sprachvarietäten – im Alltagsleben, am Arbeitsplatz, in Institutionen bis hin zu deren Rechtsgrundlagen – zu bezeichnen (vgl. dazu z.B. Müller; Kupisch; Schmitz & Cantone 2006; Riehl 2009).

In der Fremdsprachendidaktik und der Tertiärsprachenforschung wird eine Person als mehrsprachig bezeichnet, wenn sie auf der Basis der Kenntnis ihrer Muttersprache eingeschränkte Kenntnis in (mindestens) zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder in verschiedenen Diskursbereichen erworben beispielsweise gelernt hat, um gegebenenfalls soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen, Texte zu lesen oder noch Fachgespräche führen zu können (Bertrand & Christ 1990: 208; Christ 1991: 23–40; 2004: 31 und 2015; Hu 2011: 234).

Entscheidend hier ist der zugrunde gelegte Sprachbegriff. Werden z.B. Dialekte und Soziolekte als eigenständige Sprachen gezählt, so kann jeder Mensch grundsätzlich als mehrsprachig angesehen werden, wie es Mario Wandruszka beschreibt:

„Schon in unserer Muttersprache sind wir also mehrsprachig. Nach der regional, sozial, kulturell eng begrenzten Sprache unserer Kindheit ist die transregionale, transsoziale Kultursprache, die wir in der Schule lernen, schon gewissermaßen unsere erste Fremdsprache. Viele Menschen bestätigen uns das aus der Erinnerung an ihre eigene Kindheit.“ (Wandruszka 1975: 321)

Lässt man aber ausschließlich Nationalsprachen gelten, so konstruiert man einen Monolingualismus, der erst durch das Erlernen von Fremdsprachen überwunden werden kann. Hinzu kommt das Kriterium der sprachlichen Kompetenz: da es sich – nach Hu (2000) – selten um eine ausgewogene Mehrsprachigkeit handelt, sei es ausschlaggebend, die Kompetenzniveaus in den diversen Sprachen zu bestimmen, damit überhaupt von Mehrsprachigkeit die Rede sein könne (vgl. Hu 2011: 214).

Herbert Christ schlägt folgende Definition der Mehrsprachigkeit, im Anschluss an die Metapher vom Schwellen-Niveau / threshold level, zum Exempel nach Cummins (1984) vor:

„Mehrsprachig ist eine Person, die in mehreren Sprachen die Schwelle in andere Sprachhäuser zu überschreiten gelernt hat.“ (Christ 2001: 2f.)

Aufgrund der Tatsache, dass Sprache mit Kultur verbunden ist, ergibt sich aus der Mehrsprachigkeit immer eine Multikulturalität (vgl. Ahrens in Bausch 2004: 9; Minuth 2009; Christ 2015).

Gemäß dem „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ (Europarat 2001) erscheint es uns aufgrund seiner Signifikanz sinnvoll, den Begriff Vielsprachigkeit und sein Unterscheidungskriterium zur Mehrsprachigkeit (auch Plurilinguismus) näher zu beleuchten und abzugrenzen.

Die Fremdsprachendidaktiker Yves Bertrand und Herbert Christ, beispielsweise, betrachteten bereits in den 1990er Jahren das Konzept der Vielsprachigkeit – auch Multilinguismus (Englisch: multilingualism und Französisch: multilinguisme; vgl. Hu 2016) – als das Ergebnis von Migrationsbewegungen und deren Verwendung zahlreicher Sprachen auf einem selben Territorium, den gesellschaftlichen Charakter hervorhebend:

« Chaque fois que cela semble à propos, il est important de distinguer le multilinguisme du plurilinguisme. Tandis que le premier est le résultat de la migration et de l’emploi de très nombreuses langues sur un même territoire, ce qui explique son caractère profondément social, le plurilinguisme est surtout de caractère individuel. » (Bertrand & Christ 1990: 44)

Vielsprachigkeit unterstreicht auch das sozietale Phänomen der additiven Koexistenz und Kohabitation verschiedener Sprachen und Kulturen innerhalb eines geografischen Raums (Sprachgebiets), eines Staates und Staatengemeinschaften oder im Kopf eines Sprechers (vgl. u.a. Europarat 2001: 17 und 2007; Hu 2011 und 2016: 214; Christ 2015).

Mehrsprachigkeit – auch Plurilinguismus genannt (Englisch: plurilinguism und Französisch: plurilinguisme; vgl. Hu 2016) – meint hingegen die individuelle Ebene eines Einzelnen, der eine persönliche, mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz entwickelt hat, die sich nicht aus dem schlichten Addieren einzelsprachlicher Kompetenzen zusammensetzt. Vielmehr handelt es sich um eine sprachenübergreifende Kompetenz, auf die in variablen Interaktionen und in kommunikativen Situationen mit einem Gesprächspartner flexibel Bezug genommen wird. Sie wird kombiniert und vielfältig transversal vernetzt1 (vgl. u.a. Le Pape Racine 2005: 105 und 2009: 15; Martinez 2015: 8). Mehrsprachigkeit verweist somit auf die Fähigkeit eines Menschen, mehr als eine Sprache neben der Muttersprache, verbunden mit dem Wissen um die kulturelle Einbettung der Sprachen, unmittelbar aktiv und passiv gebrauchen und sich in ihr ausdrücken zu können (Wiater 2006: 59). Sie wird als Schlüssel zur Verständigung zwischen den europäischen Völkern anerkannt, als Vermittler von Toleranzdenken und infolge dessen als ein Medium der Friedenssicherung (vgl. dazu Ahrens 2004: 14). Auch wenn das Mehrsprachigkeitskonzept sehr vielfältig ausgelegt werden kann, bleibt jedoch ein gemeinsamer Nenner, nämlich der der sprachenpolitischen Vorgaben der Europäischen Union, die besagen, dass jeder europäische Bürger nebst seiner Muttersprache über ausbaufähige Kenntnisse in zwei modernen Sprachen verfügen sollte (vgl. Jakisch 2015b). Es geht folglich um die personale Mehrsprachigkeit, die im europäischen Sinne als individuelles Gut gesehen wird und

„[…] betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker, die er entweder in der Schule oder an der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt. Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen, und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren.“ (Trim; North & Coste 2001: 17)

Im Folgendem geht es darum, grundsätzlich zwischen drei Typen von Mehrsprachigkeit zu unterscheiden (u.a. Riehl 2009; Lengyel 2016), auf die ich in den nächsten Unterkapiteln näher eingehen möchte: die gesellschaftliche, die individuelle und die institutionelle – hier in unserem Kontext: die schulische – Mehrsprachigkeit.

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

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