Читать книгу Schluss mit Muss - Tanja Mairhofer - Страница 9

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LÄUFT. NICHT.


A: „Und du so beruflich?“
B: „Ich mache gerade mein freiwilliges asoziales Jahr.“

Es grenzt an ein Wunder, dass du diese Zeilen hier lesen kannst, denn das bedeutet, dass ich tatsächlich ein Buch zu Ende geschrieben habe. Mit richtigen Seiten. Yay! Wenn ich das kann, kannst du das übrigens auch, denn es ist stark davon auszugehen, dass ich fauler bin als du.

Gerne verplempere ich meine Zeit mit Zeugs, das mich geistig und körperlich null weiterbringt. Kaum eine Netflix-Serie, die ich nicht ganz gesehen habe, und kein Video, das mir je entgangen wäre. Ich kenn alle Pandabären-, Carpool- und Betrunkenen-Videos, die’s gibt. Die Bilder auf Pinterest wurden von mir alle zu Tode gepinnt und die Fotos auf Instagram habe ich schon geliket, und zwar alle. Bevor ich diese Zeilen hier geschrieben habe, war ich 40 Minuten auf dem Instagram-Account von Drew Barrymore und dem des halben Casts von „Modern Family“, außerdem wollte ich ganz dringend wissen, wer in Hollywood gerade mit wem rummacht und überhaupt.

In mir wohnt nämlich ein Faultier, das am liebsten zum Frühstück schon eine Packung Sour-Cream-Chips verdrücken würde, mit einem Pelz auf den Zähnen über einen längeren Zeitraum gut klarkommt und das, wenn es erst mal auf der Couch liegt, da auch bleibt. Lange.

Weil aber mein größeres Ich überrissen hat, dass das nicht gut ist, weil, weiß ich jetzt auch nicht mehr, habe ich beschlossen, an diesem bunten Treiben namens Leben teilzunehmen.

Das heißt aber nicht, dass das Faultier in mir nicht öfter mal das Kommando übernimmt und mir so Sachen ins Ohr schreit wie „Was soll’n der Scheiß jetzt! Green Smoothies?! Tu das sofort aus der Hand und hol dir das Red Bull. Maaannnn!“ oder „Ist jetzt nicht dein Ernst, hier in der U-Bahn die Süddeutsche zu lesen? Für was hat denn der liebe Gott Candy Crush erfunden? Denk doch mal mit!“

Und jetzt, Hose runter: Ich bin ein Natural-born-Prokrastinator. Das heißt, ich schiebe auf und vertage, wo’s nur geht. Irgendwie kam ich damit auch immer gut durch, weil die anderen auch nicht besser sind. Sogar statistisch gesehen. Das Faultier in mir hat sich jetzt nicht die Mühe gemacht, krass nach wissenschaftlich fundierten Quellen zu recherchieren, deshalb: Wikipedia meint, nur 1,5 Prozent aller Studenten erledigen ihre Arbeiten sofort, der Rest … Moment, das krieg ich im Kopf noch hin … Irgendwas um die 95 Prozent macht’s auf den letzten Drücker. Prima Leute wie ich finde, die setzen Prioritäten und haben zwischendurch bestimmt mit irgendetwas ihren Spaß.

Diese träge Masse der aufschiebungsfreudigen Mehrheit hat vor allem in den letzten Jahren wissenschaftliche Aufmerksamkeit bekommen. Bisher ist man immer davon ausgegangen, dass das Aufschieben als eine psychische Dysfunktion zu verstehen ist, eine Art Handicap. Aber wie kann etwas als Störung angesehen werden, wenn alle davon betroffen sind? Wer sagt, was normal ist? Die fleißigen Doozers von den Fraggles? Jeder in meinem Umfeld schiebt auf. Mein Mikrokosmos, mein Maßstab = alle faul.

Einige schlaue Wissenschaftler sehen das ähnlich. Prokrastinieren ist nämlich doch nicht so verkehrt, wie zum Beispiel die beiden Herrschaften mit den klingenden Namen Angela Hsin Chun Chu von der Columbia University in New York und Jin Nam Choi von der McGill University in Montreal herausgefunden haben. Von ihnen kommt die sehr erhellende Arbeit „Rethinking Procrastination: Positive Effects of ‚Active‘ Procrastination Behavior on Attitudes and Performance“1 (Gruß vom Faultier: Kannste dir selbst übersetzen). Darin wird beschrieben, wie lässig das Aufschieben eigentlich ist. Sie haben die Prokrastinatoren in die aktiven und in die passiven unterteilt. Auf den ersten Blick kriegen beide Gruppen nix auf die Reihe. Aktive Prokrastinatoren schieben genauso stark auf wie die passiven Kollegen. Die Aktiven haben aber noch das Gefühl, Herr ihrer Zeit zu sein und alles unter Kontrolle zu haben. Verglichen damit sind die Passiven völlig lost in Space. Wenn bei den aktiven faulen Säcken etwas Unerwartetes auftaucht, können die schnell umswitchen und sich um die Aufgaben kümmern, die ihnen wichtig erscheinen. Sie sind recht flexibel. In einer Welt, in der sich mit jedem iOS-Update alles ändert, ist das eigentlich ziemlich dufte. Aktive Prokrastinatoren können demnach spontan auf unerwartete Ereignisse reagieren. Klasse!

Wissenschaftliche Studien gehen sogar so weit zu behaupten, dass Prokrastinatoren wesentlich kreativer sind als so Duracell-Hasen, die auf Knopfdruck alles erledigen. Viele der besten Ideen kommen oft nach einer langen Phase des Eierschaukelns.

Udo Jürgens zum Beispiel war, nachdem er zwei Jahre hintereinander krampfhaft versucht hatte, den Grand Prix Eurovision de la Chanson zu gewinnen und beide Male nicht einmal ein Platzerl aufm Stockerl bekommen hatte, erst mal stinksauer und wollte mit der ganzen Mischpoke nix mehr zu tun haben. Er zog sich zurück und machte gar nix. Lange. Und bäm, da passierte es: „Merci Chérie“. Wie das dann ausging, brauch ich niemandem zu erzählen. Falls euch also mal jemand künftig ein schlechtes Gewissen fürs Nixtun einreden möchte, ruhig mal so etwas vom Stapel lassen: „Ich stecke gerade in der mentalen Vorbereitungsphase eines Jahrhundertwerks.“ Und falls ihr noch mehr Argumente braucht, hier kommen weitere Gründe, die Viere regelmäßig von sich zu strecken: Die Professorin Jihae Shin von der University of Wisconsin machte eine Untersuchung, bei der ich gerne Versuchskaninchen gewesen wäre.2 Sie fragte Menschen nach neuen Geschäftsideen. In einer Gruppe konnten die Befragten direkt antworten, in der anderen ließ man die Leute noch mal eine Runde Minesweeper oder Solitaire spielen. Und ratet jetzt mal, wer am Ende die besseren Ideen hatten? Richtig, die Zocker. Der Psychologieprofessor Adam Grant erklärt diese verbesserte Leistung damit, dass die ersten Gedanken meist herkömmlicher, gewöhnlicher sind. Erst wenn Luft drankommt, wird das Gedachte auch ein bisschen innovativer. Weiter sagte er in einem Interview für den Radiosender BBC 4, dass die größten Reden aller Zeiten bis zur letzten Minute immer wieder umgeschrieben wurden. Erst dadurch hatten die Redner die Flexibilität, auf der Bühne zu improvisieren, anstatt irgendetwas runterzubeten, was schon vor Monaten in Stein gemeißelt wurde.3

Viele große Werke würde es heute gar nicht geben, wenn der Mensch die Dinge immer prompt erledigt hätte. Martin Luther Kings Rede „I have a dream“, Abraham Lincolns „Gettysburg Address“ und Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ haben wir der beeindruckenden menschlichen Fähigkeit zu verdanken, Dinge bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufzuschieben.4

Nicht jeder von uns ist Redner oder Maler, aber aufschieben können und sollten wir alle.

Und wer’s noch immer nicht glauben will, hier die zehn Vorteile, warum aktives Aufschieben lässig ist:

1. Du bist effizienter als andere und brauchst am Ende weniger Zeit für die gleiche Arbeit.

2. Du kannst nichts falsch oder kaputt machen.

3. Du kannst in der Zwischenzeit eine Staffel „Breaking Bad“ gucken.

4. Das meiste erledigt sich ohnehin von selbst.

5. Wenn du lange genug wartest, macht es vielleicht irgendwann ein anderer für dich.

6. Du bist wesentlich flexibler und kannst umswitchen, wenn andere Aufgaben deine Wege kreuzen (siehe Punkt 3).

7. Deine Aufgabe erscheint dadurch wahnsinnig arbeitsintensiv; das führt eventuell zu einer höheren Wertschätzung deiner Arbeit, während du aber der Aufgabe aus Punkt 3 nachgehst.

8. Man wird nicht mehr so viel von dir verlangen.

9. Dir entgeht kein putziges Pandabär-Video mehr.

10. Dich macht beim Candy Crush keiner mehr platt.

{ 1 } https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15959999

{ 2 } https://www.nytimes.com/2016/01/17/opinion/sunday/why-i-taught-myselfto-procrastinate.html

{ 3 } http://www.bbc.co.uk/programmes/p03lt8gg

{ 4 } http://www.independent.co.uk/news/science/procrastination- makes-youmorecreative-research-says-a6923626.html

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