Читать книгу Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit - Tanja Rinker - Страница 26

Erwerbserschwerende Faktoren: PolyfunktionalitätPolyfunktionalität, HomonymieHomonymie, SynkretismenSynkretismen

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Sprachlernende suchen beständig nach Form-Bedeutungs-Zusammenhängen. Dies gilt auch für grammatische Elemente. Erwerbsbegünstigend wäre die Konstellation: eine Form – eine (grammatische) Bedeutung. Die deutsche NominalflexionNominalflexion ist davon jedoch weit entfernt. Wird ein Artikelwort oder ein Pronomen im Satz verwendet (s. Tab. 4.2), dann steht diese Form gleich für mehrere grammatische Kategorien, und zwar: Numerus, Genus, Kasus. (Zusätzlich zeigen der definite Artikel und die Pronomen an, dass über bekannte bzw. zuvor eingeführte Objekte oder Personen gesprochen wird.)

Tab. 4.2:

Fusionierung mehrerer grammatischer Merkmale

Eine solche Verschmelzung von Merkmalen in einem Flexiv wirkt sich erschwerend auf den Erwerb aus, da zum Aufbau der Flexionsparadigmen die einzelnen grammatischen Informationen in jeder Form erkannt werden müssen. Wegener (1995b: 6) beschreibt das Dilemma der Lernenden als Teufelskreis: Um aus einem Artikel die Genusinformation zu extrahieren, braucht man die in ihm enthaltene Kasusinformation, an die man aber wiederum nur mit dem Genuswissen herankommt. Zu dem Problem der sogenannten Polyfunktionalität (eine Form – mehrere Funktionen) gesellt sich noch ein weiteres Erwerbshindernis: Wird die gleiche Artikelform für unterschiedliche Funktionskomplexe verwendet, handelt es sich um einen Fall von Homonymie. Beispielsweise ist die Artikelform der im Satz Der Mann hilft Tina Träger der grammatischen Informationen Maskulinum und Nominativ, im Satz Tina hilft der Frau hingegen von Femininum und Dativ. Für die Lernenden ist es höchst verwirrend, wenn mit der gleichen Form vollkommen unterschiedliche Bedeutungen kodiert werden. Als dritte Erschwernis kommen die sogenannten Synkretismen hinzu (s. Tab. 4.3). Hierunter versteht man die Aufhebung der Markierung einer im Sprachsystem angelegten grammatischen Distinktion. Während beispielsweise im maskulinen Paradigma Nominativ und Akkusativ formal unterschieden werden, besteht diesbezüglich im Neutrum sowie im Femininum eine Formengleichheit – ein Kasussynkretismus.

Maskulinum Neutrum Femininum
Nominativ der das die
Akkusativ den
Dativ dem der
Genitiv des

Tab. 4.3:

Kasusparadigma mit Synkretismen

In Anbetracht der aufgezeigten Erwerbshürden (Polyfunktionalität, Homonymie, Synkretismen) ist es erstaunlich, dass sich auch Lernende im ungesteuerten Zweitspracherwerb auf die Herausforderung NominalflexionNominalflexion einlassen. Dies gilt zumindest für Lernende im Kindesalter. Für viele Erwachsene im ungesteuerten Erwerb scheinen in Anbetracht der Komplexität des Lerngegenstandes Aufwand und kommunikativer Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis zu stehen, sodass sie sich z. B. mit einer Strategie des weitgehenden Artikelverzichts, mit einem (scheinbar) sporadischen Einsetzen oder mit einer Übergeneralisierung einer frequenten Artikelform (z. B. die) arrangieren. Kinder aber versuchen Regelhaftigkeiten zu erkennen und entwickeln Hypothesen, wann welche Form eingesetzt werden muss. Die zuvor in Kap. 4.1 gezeigte Bildbeschreibung kann durchaus als repräsentativ für Deutschlernende angesehen werden, die im Vorschulalter mit Deutsch in Kontakt kamen und deren Erstsprache über kein Genussystem verfügt. Während sich die Wortstellung zielsprachlich entwickelt hat, zeigt die Nominalflexion auch nach mehreren Jahren des Sprachkontakts noch Abweichungen. Diese sind systematisch und geben Aufschluss über die aktuelle Entwicklung des Lernenden. Der Junge, von dem die Äußerungen stammen, verwendet im Singular nur zwei Artikelformen: der scheint reserviert zu sein für das Subjekt (bzw. für den Handlungsausführenden) und den für das Objekt (bzw. das zweitgenannte Nomen). Er hat es offenbar aus eigener Kraft geschafft, durch die (unbewusste) Analyse der Häufigkeits- und Positionsverhältnisse, ein Kasus-System, wenn auch ein unvollständiges, aufzubauen. Die Genuskategorie wird von ihm zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch vollständig ausgeblendet. Dies verwundert nicht, denn wie schwierig muss es für Deutschlernende aus einer Nicht-Genus-Sprache (u.a. Armenisch, Dari, Persisch, Türkisch) sein, in den polyfunktionalen Flexiven (z. B. der) eine ihnen unbekannte grammatische Kategorie aufzuspüren.

Aufgaben

 1.* Was versteht man unter nominalgruppeninterner und unter nominalgruppenexterner Kongruenz? Illustrieren Sie anhand selbstgewählter Beispiele die jeweiligen Spezifika.

 2.* Erklären Sie anhand selbstgewählter Beispiele das Prinzip der Monoflexion.

 3.* Inwiefern wirkt sich Polyfunktionalität erschwerend auf den Erwerb aus?

 4.** Lesen Sie die folgenden Auszüge der zur Bildergeschichte Frog, where are you? (Mayer 1969) entstandenen (mündlichen) Erzählungen dreier Deutschlernender. Die zugehörigen Bilder finden Sie in Abb. 4.5.Analysieren Sie den Artikel- und Pronomengebrauch in jeder Erzählung und vergleichen Sie diesbezüglich die Erzählungen miteinander.

Froschgeschichte – Mündliche Erzählung 1

Informationen zur Person:

L1 Russisch, 49 Jahre, Techniker, mit 29 Jahren nach Deutschland gekommen,

keine Deutschkurse, die ersten Jahre Deutsch am Arbeitsplatz,

spricht Deutsch mit seinen Töchtern und deren Freunden

Eine Jung eine Junge hat Frosch gehabt. Er hat immer behalten Frosch im Glas. Dazu er hat noch eine Hund gehabt und abends er schaut ganz freundlich auf den Frosch. Frosch auch freundlich. Und und guckt auf den Frosch.

In de Nacht Junge schläft. Frosch kommt raus aus dem Glas und willt wahrscheinlich spazieren gehen.

Morgens, wann is Junge wach, er schaut im Glas und gibt keinen Frosch.

Er sucht zusammen mit Hund ganze Wohnung. Wo ist Frosch? Er kann nicht finden. Hund kommt mit seine Kopf in Glas, wahrscheinlich kann nicht raus ziehen sein Kopf aus dem Glas. Und Junge sucht weiter Frosch.

Er guckt in Fenster aus dem Haus mit Hund zusammen.

Und irgendwann passiert so, dass Hund fällt mit Glas runter von dem Fenster. Glas geht kaputt, Junge nimmt Hund auf den Arme und Hund ganz froh, dass es Junge hat ihn auf die Arme genommen.

Froschgeschichte – Mündliche Erzählung 2

Informationen zur Person:

L1 Türkisch, 58 Jahre, Reinigungskraft, mit 21 nach Deutschland gekommen,

Deutsch am Arbeitsplatz, aber auch in Kursen; Ausbildung in der Türkei zur Hebamme

Der Junge sitz und Hund fressen. Frosch denken. Und der Junge mit Hund ins Bett. Frosch sitz eine Beine in Flasche, andere Bein draußen.

Dann Junge und Hund wieder in Bett …. von Junge Rücken geblieben.

Junge aufstehen morgen. Hund hat ihre Kopf in der Flasche und dann Junge aufstehen Fenster auf geguckt draußen.

Hat gesehen der Hund hat Kopf in der Flasche und Junge helfen raus von Flaschen.

Um Arm nimmt Junge Hund.

Froschgeschichte – Mündliche Erzählung 3

Informationen zur Person:

L1 Türkisch, 6 Jahre, Deutschkontakt in Kita seit ca. 3 Jahren

Der Hund sitzt und schaut ins Glas rein. Und der Junge sitzt auch und schaut auch ins Glas rein.

Der Frosch geht raus von den Glas und der Hund und der Kind schlafen.

Und dort schaut der Hund und der Kind ins Glas rein und dann war dort nicht der Frosch. Und dann habt der in den Schuh reingeschaut. Dort is es nich und der Hund is in den Glas mit den Kopf … reinge …. reingegangen.

Und dann hat der Hund und der Kind geschaut … raus und der Kind hat geschreit.

Und dann ist der Hund runtergefallen und der Kind hat zu den Hund geschaut.

Und dann ist der Kind auch runtergegangen und hat den Hund genommen. Und hat der Hund geleckt.

Abb. 4.5:

Bildsequenz (nach Mayer 1969)

Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

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