Читать книгу Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit - Tanja Rinker - Страница 27
4.2.1 Genus
ОглавлениеWarum heißt es der Kamm, aber die Bürste? Was ist Genus eigentlich? Genus ist ein spezieller Fall von Nominalklassen. (Eine andere Art der Klassifikation von Substantiven sind nominale Klassifikatoren.) Von Genus spricht man meistens dann, wenn es eine erkennbare Korrelation zum natürlichen Geschlecht gibt und die Zahl der Klassen sich auf maximal vier begrenzt (Dixon 1982). Das Hauptkriterium für die Annahme eines Genussystems ist nach gängiger Lehrmeinung jedoch Kongruenz. Bemerkenswert ist, dass Genus die einzige grammatische Kategorie ist, die über Kongruenz definiert wird, obwohl auch bei anderen Kategorien Kongruenzbeziehungen angezeigt werden (Claudi 1985). Damit sind wir der Funktion von Genus schon auf der Spur. Aber erst im letzten Drittel dieses Kapitels werden wir der Frage nachgehen, wozu es die grammatische Kategorie Genus eigentlich braucht, schließlich kommen Sprachen doch auch ohne sie zurecht. Von den 257 für den Online-Weltatlas sprachlicher Strukturen untersuchten Sprachen verfügen nur 112 über ein Genussystem (Corbett 2013). Bei 84 von diesen Sprachen haben die Genusklassen einen Bezug zum biologischen Geschlecht – so auch im Deutschen. Die Zuordnung der Nomen zu den drei Genera Maskulinum, Femininum, Neutrum erscheint so manch einem als weitgehend willkürlich. Ist dem aber so? Gäbe es keinerlei Systematik in der Genuszuweisung, müsste zu jedem Nomen das Genus auswendig gelernt werden, was die Gedächtniskapazitäten der Lernenden enorm beanspruchen würde (vgl. Wegener 1995b).
Kleines Experiment mit Kunstwörtern Notieren Sie jeder für sich, welches Genus (M, N, F) Sie den folgenden Kunstwörtern zuweisen würden. Knirf – Schoge – Lupchen – Troch – Borchheit – Bachter Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse in der Gruppe.1 |
Die Feststellung, dass es Regelhaftigkeiten gibt, führt zur Frage, welche davon im natürlichen Erwerbsprozess von besonderer Relevanz sind. Wie gelingt Deutschlernenden im ungesteuerten Erwerb der Einstieg ins Genussystem und welche didaktischen Implikationen lassen sich hieraus ziehen? Entscheidend ist hier sowohl das Alter bei Erwerbsbeginn und mit zunehmendem Alter das (Nicht-)Vorhandensein von Genus in der Erstsprache (vgl. u.a. Kaltenbacher & Klages 2006; Wegener 1995b). Bei SprachkontaktSprachkontakt vor dem fünften Lebensjahr entdecken die Lernenden formbezogene Regelhaftigkeiten. Sie erkennen, dass einsilbige Nomen (Kopf, Schal, Stift) oft mit maskulinen Genusindikatoren (ein, der, dieser) auftreten, und Nomen, die auf -e enden (Jacke, Mütze, Vase), mit femininen (z. B. eine, die, diese). Haben die Lernenden die zugrundeliegenden Genuszuweisungsregeln (einsilbige Nomen → Maskulinum, Nomen auf -e endend → Femininum) verinnerlicht, kommt es oft zu Übergeneralisierungen wie *der Tier oder *die Hase. Dies sind „gute“ Fehler, denn sie zeigen an, dass die Lernenden Regelhaftigkeiten entdeckt haben.
Älteren Lernenden gelingt der Einstieg meist über das natürliche Geschlechtsprinzip (männliche Personen → Maskulinum, weibliche Personen → Femininum). Ein typischer Fehler nach Entdecken der Regel: *die Mädchen. (Kapitel 10 widmet sich in mehr Ausführlichkeit dem Genuserwerb und den einschlägigen Studien hierzu.)
Genuszuweisung mit Ausnahmen | Genuszuweisung ohne Ausnahmen | |||||
phonolog. Regeln | Beispiele | Gegenbeispiele | morphol. Regeln | Beispiele | ||
-chen | → N | Mäuschen | ||||
Einsilber | → M | Fuß,Fuß Knopf, Kamm | das Knie, die Wurst | -er | → M | Lehrer |
-e | → F | Hose, Nase, Bürste | der Hase, der Löwe | -in | → F | Lehrerin |
-er | → M | Koffer, Teller, Keller | das Futter | -ung | → F | Lösung |
-en | → M | Garten, Rasen | das Fohlen | -heit | → F | Freiheit |
-keit | → F | Einigkeit |
Tab. 4.4:
Auswahl formbezogener GenusregelnGenusregeln (M = Maskulinum; F = Femininum; N = Neutrum)
Wie kann man Deutschlernende im Erwerb des Genussystems unterstützen? Festzuhalten wäre zunächst, dass weder im Erstspracherwerb noch im natürlichen Zweitspracherwerb das Genus für jedes Nomen auswendig gelernt wird (vgl. Wegener 1995b). Lernende suchen nach ökonomischen Wegen, sich eine Sprache anzueignen. Man kann den sprachlichen InputInput so aufbereiten, dass das Entdecken der Regelhaftigkeiten leichter fällt – zu empfehlen im Vorschulalter (s. unten Aufgabe 6). Oder man führt die Lernenden schrittweise an die Zuweisungsregeln heran und gibt ausreichend Anwendungsmöglichkeiten zur Festigung. Die GenuszuweisungGenuszuweisung erfolgt im Deutschen auf der Basis formaler und semantischer Kriterien (s. Tab. 4.4 und 4.5).
Regeln | Beispiele | Gegenbeispiele | |
männliche Personen und Tiere | → M | Mann, Bruder, Kater, Hengst | |
weibliche Personen und Tiere | → F | Frau, Schwester, Katze, Stute | das Mädchen |
junge Personen und Tiere | → N | Baby, Kind, Kalb, Fohlen | der Welpe |
Zeitabschnitte | → M | Herbst, Monat, Mai, Mittwoch | die Woche, das Jahr |
Bäume und Blumen | → F | Tanne, Eiche, Rose, Tulpe | der Ahorn, das Veilchen |
Oberbegriffe | → N | Obst, Getränk, Besteck, Tier |
Tab. 4.5:
Auswahl bedeutungsbezogener Genusregeln (nach Wegener 1995a: 69)
Ältere Deutschlernende fragen sich (berechtigterweise) oft, wozu man lernen muss, dass z. B. Schale weiblich und Krug männlich ist? Erhalten sie darauf keine befriedigende Antwort, kann eventuell die Motivation nachlassen, sich auf das komplexe Regel-System und seine Ausnahmen einzulassen, denn schließlich ist die Kommunikation nicht gefährdet, wenn man den falschen Artikel gebraucht. Aber: Die Textverstehensfähigkeit ist beeinträchtigt, wenn man das Genussystem nicht sicher beherrscht.
(5) | Der Krug1 fiel in die Schale2, aber er1 / sie2 zerbrach nicht. |
(6) | Ich meine das Haus1 neben der Kirche2, das1 / die2 gerade renoviert wird. |
(7) | Der Mann1 sah die Frau2 neben seinem1 / ihrem2 Auto stehen. |
Die drei Beispiele (aus Wegener 1995a: 66) veranschaulichen die Hauptfunktion von Genus. Sprachen, die über ein Genussystem verfügen, können mit Hilfe genusanzeigender Pronomen auf effiziente und oftmals disambiguierende Weise referenzielle Bezüge herstellen – auch über Satzgrenzen hinweg. Das Pronomen weist dabei immer das gleiche Genus auf wie sein Bezugsnomen. Der Rezipient muss, um Sätze und Textpassagen in der intendierten Weise zu verstehen, jedes Pronomen mit dem richtigen Bezugsnomen verbinden. Für MuttersprachlerInnen ist das (meist) kein Problem. Deutschlernende jedoch tun sich beim Lesen von Texten oftmals schwer mit der Interpretation von Pronomen. Wird aber das Sprachangebot von Anfang an so gestaltet, dass die kohärenzstiftende Funktion von Genus sichtbar wird, vgl. (8) und (9), dann sind die Lernenden zum einen motivierter, sich die Genuszugehörigkeit der Nomen zu erschließen und dabei auf Kongruenzrelationen zwischen den einzelnen Genusindikatoren (z. B. Artikel, Personalpronomen, Relativpronomen, Possessiva) zu achten. Zum anderen wird ihnen dann später beim Textverstehen die Interpretation von Pronomen kaum Schwierigkeiten bereiten, da sie wissen, dass sich Pronomen (meist) auf ein zuvor erwähntes Nomen beziehen. Und bei dessen Auffinden hilft ihnen die im Pronomen enthaltene Genusinformation.
(8) | Neben mir steht Lara1 / Tarek2. Sie1 / Er2 hat heute eine Jeans an. Ihr1 / Sein2 Pullover ist rot. |
(9) | Wo ist der Ball1 / die Tasche2? Wer weiß, wo er1 / sie2 ist? Tom sucht ihn1 / sie2. |
Neben der referenziellen Funktion kommt der Genuskategorie auch eine wichtige syntaktische Funktion zu, die insbesondere für weit fortgeschrittene Deutschlernende relevant wird. Typisch für die deutsche Bildungssprache sind hochkomplexe Nominalphrasen (siehe hierzu u.a. Petersen 2014). Zwischen Artikel und Nomen können sich mehrfach erweiterte Attribute schieben und eine große Distanz zwischen Artikel und Nomen verursachen, vgl. (10) bis (12).
(10) | der regelmäßig zum Jahrestag der Institutsgründung stattfindende Kongress |
(11) | das von den Kritikern in höchsten Tönen gelobte, bei der Leserschaft aber nicht besonders gut ankommende Buch |
(12) | die an dem Versuch, beide Parteien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen, beinahe gescheiterte Kanzlerin |
Diese Klammerbildung wird durch die Genuskongruenz zwischen dem genusanzeigenden Artikel und dem genusinhärenten Nomen ermöglicht, denn durch sie werden Anfang und Ende der komplexen NominalphraseNominalphrase angezeigt und somit leichter perzipierbar (Wegener 1995a: 65). (In Kapitel 13 kommen wir im Rahmen der vorzustellenden Erwerbsstudien noch einmal etwas genauer auf die Funktionen von Genus zu sprechen.)
Die NominalklammerNominalklammer – ein Schnittstellenphänomen von NominalflexionNominalflexion und Syntax – ist nicht die einzige Klammerkonstruktion des Deutschen. Auf sie lässt sich bis zum mittleren Sprachniveau jedoch gut und gern verzichten, nicht aber auf die sog. VerbalklammerVerbalklammer (bzw. Satzklammer), um die es in Kapitel 5 gehen wird.
Aufgaben
1.* Nennen Sie (mit Beispielen)drei bedeutungsbezogene Genuszuweisungsregelndrei formbezogene Genuszuweisungsregeln, zu denen es auch Ausnahmen gibtdrei formbezogene Genuszuweisungsregeln, zu denen es keine Ausnahmen gibt.
2.* Worin besteht die Hauptfunktion des Genussystems?
3.** Ein Kind (L1 Türkisch, Deutschkontakt 16 Monate) soll einen von der Lehrkraft (LK) vorgegebenen Satz nachsprechen. Wie zu erkennen ist, spricht es das Gehörte nicht einfach nach, sondern nutzt bei der Wiederholung sein eigenes zu diesem Zeitpunkt auf der Basis bisheriger Spracherfahrungen für die Zielsprache entwickeltes Regelsystem – man spricht auch von einer InterimsgrammatikInterimsgrammatik. Welche Genuszuweisungsregel wendet das Kind an und welche wäre erforderlich?LK:Das Rotkäppchen, das die Blumen pflückt, will die Großmutter besuchen.K:Die Rotkäpchen pflückt die Blumen. Sie sucht ihre Großmutter.(Wegener 1995b: 6)
4.*** Viele Deutschlehrwerke nutzen drei Farben, um die Zugehörigkeit der Nomen zu einem der drei Genera zu markieren. Verschaffen Sie sich anhand zweier oder dreier Lehrwerke für das Grundschulalter zunächst einen Eindruck über diese Visualisierungsform des grammatischen Genus. Ob bzw. wie sinnvoll diese ist, wird kontrovers diskutiert. Lesen Sie hierzu Pagonis (2015: 158-169) und positionieren Sie sich zu dieser Art der Formfokussierung.