Читать книгу Herzstolpern - Tara McKay - Страница 12
Lauren
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Endlich verabschieden sich Ma und Da, dabei steigen sie winkend in ihren Ford. Gleichzeitig verkünden Liz und Brian, dass sie ebenfalls los müssen.
„Wir wollen nicht wieder in irgendeinen Stau geraten“, meint Brian, der verlegen seinen dunklen Bart kratzt, der ein wenig so wirkt, als wolle er mit der üppigen Gesichtsbehaarung das kahler werdende Haupthaar ausgleichen.
Ich weiß genau, dass um diese Uhrzeit nicht mehr mit viel Verkehr in Richtung Newcastle zu rechnen ist, dennoch nicke ich verständnisvoll. Eigentlich bin ich ganz froh, wenn sie endlich weg sind. Aber Charlotte sieht ziemlich erschrocken aus, als ihre Eltern so abrupt ihre Abfahrt ankündigen. Für einen Moment sehe ich ihre verletzliche Seite, als Unsicherheit in ihren Augen aufflackert, doch schnell zieht sie ihre Fassade absoluter Coolness wieder hoch.
„Alles Gute, mein Schatz.“ Liz drückt Charlotte kurz an sich, doch es ist keine besonders innige Umarmung und das Mädchen bleibt völlig steif.
Brian hingegen verzichtet gänzlich auf einen emotionalen Abschied, was mich ein wenig schockiert.
„Hör auf alles was Lauren dir sagt“, meint er nur, hebt die Hand zum Gruß und steigt in sein Auto ein.
Vermutlich stehe ich mit offenem Mund da und sehe wie ein Idiot aus, denn Liz beeilt sich, ihren Mann halbherzig zu verteidigen.
„Er hat es nicht so mit Abschieden. Männer eben.“ Ihr Lächeln ist aufgesetzt.
„Ja, Männer eben.“ Als wenn ich Ahnung davon hätte…
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf Charlotte, die in ihrem XXL-T-Shirt völlig zu verschwinden scheint, so klein hat sie sich mittlerweile gemacht, ihre Miene ist eingefroren. Keine Ahnung, warum sie so ein riesiges Oberteil trägt, unter dem man ihre Figur überhaupt nicht erahnen kann. Zumindest sehe ich aber, dass es nicht passt, sondern einfach nur an ihr schlackert.
Liz lässt ihr Fenster hinunter, um noch kurz zu winken, dann fahren sie los. Als sie abbiegen und nicht mehr zu sehen sind, stoße ich Charlotte aufmunternd mit dem Ellbogen in die Seite.
„Wir werden schon miteinander zurechtkommen.“
Dabei bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich mir selbst glauben soll. Der Nachmittag war eine reine Tortur für mich, bin ich doch von einer nahenden Panik in die nächste gefallen, ohne dass eine Attacke jedoch vollständig ausgebrochen wäre. Jetzt fühle ich mich einfach nur noch ausgelaugt und müde. Und ein Ende meiner Nervosität ist noch nicht in Sicht, denn schließlich habe ich ab heute die Verantwortung für einen Teenager. Ausgerechnet ich.
„Mach dir keine Gedanken, ich werde dir nicht mal auffallen. Ich verbringe gerne Zeit in meinem Zimmer.“ Charlotte blickt immer noch die Straße hinunter, wo das Auto ihrer Eltern eben verschwunden ist. Eine Gefühlsregung ist jedoch nicht erkennbar.
„Hey, apropos Zimmer. Ich habe dir dein Reich noch gar nicht gezeigt.“
Wie ein Sprinter auf den letzten Metern haste ich ins Haus, weil ich es draußen immer unerträglicher finde. Vor allem, da gerade Gail von nebenan nach Hause kommt. Sie ist in meinem Alter, hat einen Mann und zwei kleine Kinder und ich habe das Gefühl, dass sie sich mit mir anfreunden will. Zumindest drängt sie mir zu jeder Gelegenheit ein Gespräch auf, was mir wirklich überhaupt nicht recht ist. Ich brauche keine neue Freundin.
„Komm mit nach oben“, fordere ich Charlotte auf, dann steige ich die knarzenden Stufen hoch, die ebenfalls dringend renovierungsbedürftig wären, wie so vieles in diesem Haus.
Als ich die Türe zu Charlottes Zimmer öffne, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es Izzy und mir besonders gut gelungen ist. Vielleicht sind wir mit der Farbe Pink ein wenig zu verschwenderisch umgegangen, da Izzy meinte, dass Mädchen darauf abfahren. Wenn ich mir die ganz in Schwarz gekleidete Charlotte ansehe, bin ich plötzlich anderer Meinung.
„Es ist…“ Ich suche nach den richtigen Worten. ‚Girlymäßig‘ würde es am ehesten treffen. Aber erstens bin ich mir nicht sicher, ob es dieses Wort überhaupt noch gibt und zweitens ist Charlotte alles, nur eben das nicht.
„Süß“, meint sie hingegen und das finde ich, trifft es eigentlich auch ganz gut. Wie eines der Edinburgh Rock, die jetzt wieder auf dem Schreibtisch bereitstehen. Ich konnte einige vor Izzy retten und nun liegen die pastellfarbenen Würfelchen wie ein passendes Accessoire da, inmitten eines Traumes in Rosa.
„Es tut mir leid, dass es so… süß ist. Ich wusste ja nicht, was du magst und wie du bist.“
„Da hast du Recht, es passt nicht zu mir. Ich bin nicht süß.“
„Das wollte ich damit nicht sagen.“
„Hast du aber irgendwie. Und es stimmt ja auch. Eine Schulschwänzerin, die man ins Exil verbannt hat, ist ganz sicher nicht süß.“
„Exil?“ Ich muss mir ein Lachen verkneifen. „Edinburgh ist nicht gerade St. Helena.“
„Und ich kein Kriegstreiber wie Napoleon.“
„Dafür, dass du die Schule nicht oft besuchst, kennst du dich in Geschichte zumindest ganz gut aus.“
„Ich lese viel“, gibt Charlotte kühl zurück.
Als wäre es feindliches Terrain, betritt sie vorsichtig ihr neues Zimmer und betrachtet alles misstrauisch. Man muss keine Gedanken lesen können, um zu sehen, dass es ihr nicht sonderlich gefällt. Mir fallen ihre Koffer und Taschen ein, die immer noch im Flur unten stehen.
„Sicherlich wird das alles mehr nach deinem Geschmack sein, wenn du deine Sachen ausgepackt hast. Soll ich dir helfen, deine Koffer hochzutragen?“
„Nein. Das schaffe ich alleine.“ Wenn Blicke töten könnten, wäre ich spätestens jetzt nicht mehr am Leben.
„Es war nur ein Angebot.“ Ich zucke mit den Achseln, tue so gleichgültig wie möglich. Gleichzeitig kriecht Panik in mir hoch – mal wieder.
Was soll ich nur mit diesem Mädchen, das ganz offensichtlich keine Lust darauf hat bei mir zu leben? Was ich durchaus verstehen kann… Gott, was haben sich Ma und Liz bei diesem Plan nur gedacht?
„Ich bin unten und räume auf, falls du mich brauchst“, würge ich hervor, mein Mund eigentlich viel zu trocken um zu sprechen. Dann flüchte ich so schnell wie möglich vor der Situation.
„Was soll ich mit ihr anfangen?“ Zur Sicherheit flüstere ich ins Telefon, obwohl ich mir sicher bin, dass Charlotte mich nicht hören kann.
Wütend stampfend hat sie lautstark ihre Sachen aus dem Flur geholt und nach oben gebracht. Jedes Mal wenn sie nach unten oder oben ging, hatte ich Angst, dass die alte Treppe zusammenbrechen könnte, die bei jedem Gang ächzte. Anscheinend hat sie Lautsprecher in einem ihrer Koffer gehabt, denn mittlerweile dröhnt Musik durch das ganze Haus, weswegen ich mir auch so sicher bin, dass sie mich nicht telefonieren hören kann. Wenn ich jeden Song höre, als würde ich direkt neben der Box stehen, dann muss es in ihrem Zimmer ohrenbetäubend sein.
„Lass sie doch für heute einfach in Ruhe“, schlägt Izzy vor. „Sie muss doch erstmal ankommen und sich an die neue Umgebung gewöhnen.“
„Sie ist kein Hundewelpe.“
„Wo ist denn da der Unterschied? Als wir Joy bekamen, fühlte sie sich anfangs auch extrem unwohl. Schließlich war sie das erste Mal von ihrer Familie getrennt. Aber irgendwann hat sie sich eingelebt.“
„Joy ist ein Spaniel! Charlotte ist ein Teenager und im Gegensatz zu Hunden erinnern sich Menschen an ihre Familie. Sie vermissen sie.“
„Denkst du wirklich, dass sie Eltern vermisst, die es fertigbringen sie einfach wegzugeben?“
„Ich habe dir schon hundert Mal erklärt, dass es so nicht gedacht ist. Es ist eine Art Lektion.“
„Pah!“, höhnt Izzy.
„Ja, schon gut. Ich halte auch nicht viel davon, aber…“
„Aber du konntest dich mal wieder nicht gegen deine Mutter durchsetzen. Wann fängst du endlich an, ihr Kontra zu geben?“
„Was hilft mir das jetzt, Izzy? Soll ich sie anrufen und ihr sagen, was für eine beschissene Idee sie und Liz hatten? Ach ja, und dann bitte ich Liz und Brian als nächstes, ihre Tochter wieder abzuholen.“
Wenn ich dachte, Charlotte hätte die Leistung ihrer Lautsprecher bereits ausgeschöpft, habe ich mich getäuscht, denn die Musik wird noch einen Tick lauter.
„Was sagst du? Ich verstehe dich kaum, Lauren. Kannst du die Musik ein bisschen leiser drehen?“ Izzy schreit fast in den Hörer.
„Das ist nicht meine Musik, sondern Charlottes.“ Genervt schmeiße ich die Wohnzimmertür hinter mir zu, damit das Gedröhne ein wenig abgeschwächt wird.
„Oh! Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen. Teenager leben ihre Gefühle über Musik aus. Was hört sie denn?“
„Keine Ahnung.“ Ich zucke die Achseln. „Aber es klingt alles ziemlich depri.“
„Das ist gar nicht gut“, meint Izzy alarmiert. „Sie sollte sich nicht in eine Depression hineinsteigern, was in ihrer Situation gut sein könnte.“
Izzy liest leidenschaftlich gerne Psychologieartikel in allen erdenklichen Frauenzeitschriften und hält sich deswegen für eine Expertin auf diesem Gebiet. Nur schade, dass sie bislang noch keinen Bericht über Ängste gelesen hat und mir damit helfen könnte.
„Und was soll ich tun?“ War das nicht schon meine Ausgangsfrage? Ich habe das Gefühl wir drehen uns im Kreis.
„Geh mit ihr etwas essen, oder zeig ihr den Strand. Ihr könntet an der Promenade ein Eis kaufen.“
„Du weißt aber schon, mit wem du sprichst?“
„Es sind nur 200 Meter bis zum Strand. Das schaffst du schon, Lauren.“
An schlechten Tagen schaffe ich es nicht mal zur Haustür hinaus und heute ist ganz sicher einer davon. Aber ich bin es leid, das Izzy immer wieder sagen zu müssen. Wenn ich nur daran denke, dass ich mit Charlotte vor die Tür gehen und dabei auch noch gute Miene zum bösen Spiel machen soll, dreht sich mir der Magen um. Aber das versteht vermutlich niemand, der dieses Gefühl nicht kennt.
„Mädchen lieben den Sonnenuntergang am Meer, das ist so romantisch. Sie fühlen sich dann in einen ihrer Liebesromane versetzt. Sowas wie Twilight.“
Ich bezweifle, dass Izzy Twilight gelesen hat, denn dann wüsste sie, dass das nicht ganz die rosarote Liebesgeschichte ist, die sie sich vorstellt. Und so überhaupt nichts mit Sonnenuntergängen am Meer zu tun hat, sondern eher mit Vampiren und Werwölfen, diesigen Regengebieten und - ja, gut, zugegeben - auch mit der großen Liebe. Die ist allerdings ein wenig schwülstig dargestellt, weshalb sowas für Charlotte wohl eher nichts ist. Vampirgeschichte ja, Liebesschnulze nein. Ich muss ja nur daran denken, wie sie das rosa Zimmer angeekelt betrachtet hat, als würde sie in einen riesigen Erdbeerkaugummi treten, der am Boden liegt und darauf wartet, dass man hineinstolpert und ihn fortan nicht mehr loswird, damit er bei jedem Schritt seinen künstlich süßen Geruch verströmen kann.
Ich merke schon, Izzy ist keine große Hilfe, was Mädchen in der Pubertät betrifft. Oder sollte ich besser sage, was Charlotte betrifft. Das ist nämlich ein Unterschied, wie ich finde. Ich kenne den Durchschnittsteenager, und Charlotte ist keiner.
„Ich überleg mir was.“, versuche ich das Gespräch lahm zu beenden.
Die Wohnzimmertür schwingt geräuschvoll auf, knallt gegen das Bücherregel und lässt eine alte, zerlesene Ausgabe von ‚Stolz und Vorurteil‘ zu Boden fallen, die ich immer lese, wenn ich nicht einschlafen kann. Jane Austen hat etwas sehr Beruhigendes an sich, vor allem in Kombination mit einem Kamillentee.
„Hast du vielleicht Powerstrips im Haus?“ Charlotte hebt eine ihrer hübschen schwarzen Augenbrauen, die ein wenig zu buschig sind, gerade deshalb aber ihre Augen so ausdrucksstark machen. Sie schreit, denn anders können wir uns nicht verständigen. Ein stampfender Beat und Gitarren treiben ein ansonsten eher ruhiges Lied vorwärts, bis es im Refrain seinen Höhepunkt erreicht.
„Klar, ich gebe sie dir“, rufe ich ihr zu, dann schreie ich in den Hörer: „Ich muss Schluss machen, Izzy. Charlotte braucht mich.“
„Alles klar“, brüllt sie zurück und bevor ich auflege höre ich noch, wie sie mir zuruft: „Hey, das ist ja Shawn Mendes!“
Okay, ich habe eine Sache richtig gemacht. Ich habe ein Poster von einem Star aufgehängt, den Charlotte gerne mag (ja, ich weiß, es war eigentlich Izzy). Deshalb durfte Shawn Mendes wohl auch über ihrem Bett hängenbleiben. Ansonsten erkenne ich mein Gästezimmer nicht wieder. Nur zu sagen, es ist schwarz, würde es nicht ausreichend treffen. Es ist nicht nur alles schwarz, sondern es ist auch düster. Und damit meine ich dunkel. Und ein bisschen deprimierend.
Das Fenster ist mit einem schwarzen Tuch verhangen, das meine Nachbarn vermutlich für einen Trauerflor halten würden. Zum Glück geht es aber zum Garten raus, sodass es niemand sieht. Überhaupt hat Charlotte eine beinahe exzessive Vorliebe für Schwarz. Ihr Bettbezug ist schwarz mit kleinen schnörkeligen silbernen Ornamenten darauf. Überall sind schwarze Kerzen aufgestellt, die Izzys kleines Chiffontüchlein über der Lampe brandtechnisch völlig in den Schatten stellen. Und sogar ein schwarzer Langflorteppich ist auf dem Boden ausgerollt, von dem ich mich frage, aus welchem Koffer sie den hervorgezaubert hat. Auf dem Schreibtisch liegen sämtliche Bücher von ‚Vampire Diaries‘, was meine Vermutung bestätigt, dass Charlotte auf Vampirgeschichten steht. Ich weiß zu wenig darüber, um sagen zu können, ob auch hier eine schwülstige Liebesgeschichte im Vordergrund steht, bezweifle es aber.
„Danke für die Powerstrips.“ Sie nimmt mir die Packung aus der Hand und macht sich daran, ein Poster aufzuhängen.
„Oh, ‚Vampire Diaries‘ wurde wohl auch verfilmt.“, sage ich nur dümmlich, als ich das Poster betrachte. Ich habe wirklich so gar keine Ahnung.
„Natürlich.“ Sie verdreht die Augen. „Das einzige, was man sich auf Netflix anschauen kann.“
„Hm.“ Mehr sage ich nicht. Kann ich auch gar nicht, ich habe nämlich kein Netflix. Eigentlich schaue ich auch sehr selten Fernsehen. Genau genommen, seit mir alles Angst macht. Actionfilme, weil sie oft brutal sind. Liebesfilme, weil man da manchmal weinen muss. Und Komödien, weil ich Angst habe, dass ich beim Lachen ersticke. Und das ist jetzt ganz und gar nicht komisch.
„Du bist doch nicht etwa eine von den altmodischen Tanten, die Fernsehen verbieten?“ Sie betrachtet mich argwöhnisch.
„Nein… Nein! Du kannst gerne Fernsehen so viel du willst, so lange ich nicht mitschauen muss…“
Ihr Gesichtsausdruck sagt mir ganz deutlich, dass sie darauf auch keinen gesteigerten Wert legt. Ich fühle mich unter ihrem Blick extrem unwohl, weshalb ich die Flucht nach vorne starte.
„Wir könnten heute Abend Essen gehen. Ich habe nichts zum Abendessen vorbereitet und es wäre doch ganz nett, um deine neue Heimat kennenzulernen.“
„Okay.“
Enthusiastisch ist etwas anderes, so viel ist klar. Dennoch nehme ich es als gutes Zeichen, dass sie nicht sofort dankend abgelehnt hat.
„Wie wäre es um sieben?“
Charlotte nickt nur und ich trete den Rückzug an. Auf dem Weg nach unten wird mir klar, was ich gerade getan habe. Wie konnte ich Charlotte nur fragen, ob sie mit mir Essen gehen möchte? Hatte ich so fest angenommen, dass sie ablehnen würde? Eigentlich nicht, ich hatte ja sogar gehofft, dass sie mein Angebot annehmen würde. Ich muss diesen mutigen Vorstoß als einen Augenblick geistiger Umnachtung einstufen.
Mir bricht augenblicklich der Schweiß aus, in der Küche werfe ich einen hektischen Blick auf die altmodische Uhr, die über der Tür hängt. Ich habe noch eine Stunde Zeit, um mich seelisch darauf einzustellen, dass ich das Haus verlassen muss. Fieberhaft denke ich darüber nach, wohin ich mit Charlotte gehen kann. Das Dalriada wäre naheliegend, aber sie haben freitags kein Essen, außerdem weiß ich nicht so recht, ob ich Lust habe diesem Kieran schon wieder zu begegnen. Zur Beruhigung sollte ich mir vielleicht einen Kamillentee aufbrühen, aber irgendwie bringe ich nicht mal das zustande. Stattdessen tigere ich im Erdgeschoss auf und ab und überlege fieberhaft, wie ich mein Dilemma lösen kann. Denn eines ist klar: ich kann auf keinen Fall in einem Restaurant sitzen, wenn ich innerlich so aufgewühlt bin. Vermutlich hält es mich keine fünf Minuten auf meinem Stuhl.
Charlotte ist pünktlich, was ich ihr hoch anrechne. Ich habe schon viele Schüler erlebt, die es damit nicht so genau nehmen und nur die Augen verdrehen, wenn man sie darauf hinweist, dass der Unterricht nicht erst dann anfängt, wenn sie sich bequemen zu erscheinen. Sie trägt immer noch das überdimensionierte T-Shirt und schwarze Skinnyjeans, das lange schwarze Haar hat sie allerdings mit einem Haargummi zu einem nachlässigen Dutt gebunden und ihre hübschen Augen umrahmt schwarzer Kajal, den sie eigentlich gar nicht nötig hat. Charlotte gehört zu jenen bewundernswerten Mädchen, die auch ohne Make-up hübsch sind.
„Ähm…“ Jetzt, da sie sich extra hergerichtet hat, ist es mir ein wenig peinlich, ihr meinen Plan zu unterbreiten. „Ich dachte, wir holen uns etwas vom China Express, der ist direkt am Strand. Dann nehmen wir unsere Sachen und machen ein Picknick am Meer.“
Ich halte eine Picknickdecke in die Höhe, sowie einen Kühlkorb, den ich irgendwo als Werbegeschenk bekommen habe und in dem nun Getränke, Pappbecher und Teller liegen.
„Cool“, meint Charlotte zu meiner Überraschung, fügt dann aber noch hinzu: „Nicht, dass ich besonders auf so einen Kitsch stehen würde, wie ein Picknick am Meer. Aber noch weniger mag ich es, wenn mich Leute in einem Restaurant anstarren.“
Ich weiß ganz genau, was sie meint. Ich meine, nicht dass ich so auffällig wäre, dass man mich immer und überall anstarren würde, aber manchmal kommt es mir gerade in Restaurants so vor. Vielleicht, wenn die Leute zwischen den Gängen nichts zu tun und mit ihrem Gegenüber nichts zu reden haben.
„Okay“, sage ich erleichtert. „Ich hatte gehofft, dass du die Idee gut finden würdest.“
Als wir aus der Haustür treten, spüre ich, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. Aber dann werfe ich einen Blick auf Charlotte, die für einen Moment ziemlich verloren aussieht, als sie sich in der ihr unbekannten Umgebung umsieht und plötzlich wird mir klar, dass ich ihr unmöglich zeigen kann, wie unsicher ich bin. Also straffe ich die Schultern und laufe los, mein Schützling folgt mir zögernd.
„Hat hier kein Geschäft mehr geöffnet?“, fragt sie überrascht, als wir die High Street entlanggehen.
Gegen Newcastle muss ihr alles hier wie ein verschlafenes Nest vorkommen, denke ich.
„Sorry, in Portobello klappen sie die Gehsteige schon ziemlich früh hoch. Ich glaube, einzig die Supermärkte haben noch offen.“
Ich zucke entschuldigend die Achseln, als ich mich nach ihr umdrehe und füge an: „Aber mit dem Bus ist es nicht weit ins Stadtzentrum von Edinburgh.“
Um mich ein wenig von meiner Nervosität abzulenken, zeige ich ihr auf unserem Weg die Bushaltestellen und erkläre ihr den Fahrplan. Ich bin zwar seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr Bus gefahren, aber ich weiß immer noch, welcher wohin fährt. Charlotte sagt nichts zu meinen Erläuterungen, aber ich registriere, dass sie mir aufmerksam zuhört.
Beim China Express angekommen, frage ich sie, was sie gerne mag und gemeinsam studieren wir die Karte. Da wir uns nicht so wirklich entscheiden können, bestellen wir einfach vier verschiedene Hauptgerichte, zwei Suppen und gebackene Bananenbällchen. Genaugenommen bestelle ich, Charlotte murmelt nur hin und wieder etwas, das ich als Zustimmung auffasse.
„In einer Viertelstunde fertig“, informiert uns der nette asiatische Verkäufer mit einem Lächeln, während sein Zeigefinger energisch auf seine Uhr ein piekt.
„Komm, lass uns so lange noch ein wenig nach draußen gehen“, schlage ich vor.
Mein Herz rast, ganz egal, ob wir weiter im China Express bleiben, oder ein wenig am Strand bummeln. Unauffällig reibe ich meine verschwitzten Handflächen an meiner Jeans ab, zwinge mich, regelmäßig ein und aus zu atmen. Meine größte Sorge ist, dass Charlotte auffallen könnte, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist.
Doch darüber hätte ich gar nicht weiter nachdenken müssen, denn Charlottes Interesse an mir ist doch eher bescheiden. Kaum sind wir aus der Tür des Takeaway getreten, steuert sie auch schon zielstrebig auf die Promenade zu, wo sie sich auf eine Mauer setzt, die Beine baumeln lässt und auf das Meer hinaus guckt. Seufzend folge ich ihr und setze mich neben sie.
„Gefällt es dir?“
„Ich sagte ja schon, dass ich nicht viel für den Strand übrig habe.“
„Naja, ich kann auch nicht behaupten, dass ich zu den Menschen gehöre, die den ganzen Tag hier verbringen können. Aber auf das Meer zu schauen und dem Rauschen der Wellen zu lauschen, hat etwas Faszinierendes.“
Tatsächlich entschleunigt es mich ein wenig hier zu sitzen und die Wellen zu beobachten, die sanft über den Strand hinwegspülen. Die Sonne steht schon sehr tief zu unserer Linken, als wolle sie das Wasser küssen und der Himmel färbt sich langsam orange. Ich schließe die Augen und strecke mein Gesicht der untergehenden Sonne entgegen. Ich habe keine Ahnung was Charlotte macht, aber sie rennt zumindest nicht weg, sondern bleibt einfach neben mir sitzen und so verharren wir einträchtig, bis die Viertelstunde um ist. Zumindest ist sie das, als ich die Augen wieder öffne und auf die Uhr schaue.
„Ich hole die Sachen alleine ab“, bietet sich Charlotte an, dabei deutet sie auf das Haus am Eck, in dem der China Express ist. „Du könntest ja schon mal die Picknickdecke ausbreiten und die Getränke rausholen.“
Ich muss vor Überraschung über ihre bereitwillige Hilfe den Mund offenstehen gelassen haben, denn sofort setzt sie mürrisch hinzu, dass sie jetzt wirklich schon Hunger und Durst habe. Dann schwingt sie ihre langen, schlanken Beine über die Mauer und läuft den kurzen Weg die Promenade entlang. Ich schnappe mir meinen Kühlkorb und die Decke, rutsche von dem Vorsprung direkt in den Sand hinunter und gehe einige Schritte nach links und dann Richtung Wasser, ehe ich mich dort ausbreite. Ich kann nur hoffen, dass uns kein Ball ins Essen fällt, denn wie immer gehen hier viele Hundehalter mit ihrem Vierbeiner spazieren und gefühlt jeder hetzt hinter einem Tennisball her.
Als Charlotte zurückkommt, habe ich ihr bereits einen Pappbecher hingestellt und präsentiere eine Auswahl an Getränken, von denen ich denke, dass Jugendliche sie mögen: Cola, Tizer und Irn-Bru. Alles sehr ungesund und alles dafür gedacht, dass sich Charlotte wohlfühlt. Zumindest heute mal. Die nächsten Tage kann ich dann sanft auf Wasser umsteigen, was mir persönlich sowieso am Liebsten ist. Sie setzt sich, wir packen unser Essen aus. Alles geschieht schweigend, aber das ist durchaus nicht unangenehm.
„Scheiße!“, entfährt es mir, ich schlage sofort die Hand vor den Mund, aber es ist ja schon draußen.
Charlotte zieht die Augenbrauen hoch, grinst dann aber. Das erste Lächeln, das ich von ihr sehe. Naja… Oder zumindest etwas in diese Richtung.
„Was ist los?“
„Ich habe das Besteck vergessen.“ Sofort beginnt mein Puls zu rasen, mir bricht der Schweiß aus.
„Vielleicht hat der Takeaway Plastikbesteck.“, schlägt Charlotte vor.
„Nein, das hat er nicht.“ Ich stöhne über meine eigene Dummheit. „Ich werde nach Hause laufen und es holen.“
Allein der Gedanke ist schon beängstigend. Hierher zu kommen war eine Herausforderung, ich hatte mich gerade ein wenig akklimatisiert und mit der Situation angefreundet. Und dann das…
„Kann man euch irgendwie helfen?“
Ein Schatten taucht plötzlich über uns auf. Ich blicke gehetzt auf und sehe geradewegs in die blitzenden blauen Augen von Kieran, dem Barkeeper aus dem Dalriada.
„Nein“, gebe ich automatisch zurück und rapple mich hoch. „Außer, du hast zufällig Messer, Gabel und Löffel einstecken.“
„Ausgerechnet heute habe ich mein Besteck zu Hause gelassen“, gibt er schlagfertig zurück. „Sonst habe ich es ja immer dabei…“
„Schon gut.“, murmele ich.
„Ich warte hier“, meint Charlotte unbekümmert, nimmt sich die Bananenbällchen und beißt von einem ab. Die kann man ja auch super als Fingerfood essen.
„Vielleicht kann ich euch ja trotzdem helfen, obwohl ich den Besteckkoffer ausnahmsweise mal daheim gelassen habe“, mischt sich Kieran ein. Mit dem Daumen deutet er hinter sich ein Stück die Promenade hinunter. „Ich könnte euch Messer, Gabel und sogar Löffel aus dem Dalriada borgen.“
Ich sehe ihn an, etwas verunsichert, ob sein Vorschlag ernst gemeint ist. Kieran hebt fragend die dunklen Augenbrauen.
„Das wäre wirklich total nett“, bringe ich gerade so raus. Um mich dreht sich schon wieder alles, mein Herz macht seltsame kleine Aussetzer.
„Bin gleich wieder zurück.“ Er zwinkert mir zu, dann joggt er lässig durch den Sand davon.
Erst als ich ihm nachsehe, fällt mir auf, dass er eine Sporthose und ein T-Shirt trägt und eine leuchtendrote Wasserflasche in der Hand hält, die beim Laufen vor und zurück schwenkt. Ganz offensichtlich ist er einer dieser Sportfreaks, die jeden Abend hier an der Strandpromenade ihre Runden drehen.
„Wer war das denn?“, fragt Charlotte neugierig zwischen zwei Bissen Bananenbällchen.
Ich lasse mich wieder zu ihr auf die Picknickdecke sinken, kann aber nur die Achseln zucken und Charlotte lässt es dabei bewenden.