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Charlotte

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„Wir sind jetzt weg, Charlotte.“

Ich höre die Stimme meiner Mum, aber ich antworte ihr nicht. Dann fällt die Haustüre ins Schloss und eine willkommene Stille breitet sich aus. Ich gehe zu meinem Mansardenfenster, um zu sehen, wie Mum zu Dad ins Auto steigt, dann fahren sie in unserem silbergrauen VW Sharan davon. Ungeduldig warte ich, bis sie um die nächste Ecke gebogen sind, dann ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, um zu telefonieren.

„Du kannst jetzt kommen, sie sind weg“, sage ich nur kurz und knapp.

„Yep, bin in zehn Minuten bei dir“, antwortet Lewis, dann legt er auch schon auf.

Lewis ist mein ältester Freund und der einzige Mensch, mit dem ich offen über alles reden kann. Kennengelernt haben wir uns schon im Kindergarten, als ich ihm immer die Stifte weggenommen habe, die er gerade benutzen wollte, mit der Begründung, er könne sowieso nicht malen. Warum er sich trotzdem mit mir angefreundet hat, weiß ich nicht, aber es erklärt, warum er jetzt nicht schreiend vor mir davon läuft.

„Ich kenne die schreckliche Charlie schon“, sagt er immer achselzuckend, wenn ich ihn danach frage. Dann rückt er seine Brille gerade und grinst etwas schief. „Aber ich weiß auch, dass da drinnen eine sehr liebe Charlotte wohnt, sie ist nur gerade öfter mal verreist.“ Und dann piekt er mit dem Finger gegen mein Schlüsselbein.

Lewis wohnt nur wenige Straßen weiter und steht tatsächlich fünf Minuten später vor unserer Haustür. Für meine Verhältnisse extrem schwungvoll öffne ich und lasse ihn hinein, dann steuern wir sofort die Küche an.

„Ich nehme mal an, dass du hungrig bist“, sage ich zu Lewis und grinse ihm mit einem Blick über die Schulter zu.

„Wie immer, Charlie.“ Entschuldigend zuckt er die Achseln.

„Wenn es eine Konstante in meinem Leben gibt, dann dich, Lewis. Ich wüsste nicht, dass du dich in den letzten Jahren groß verändert hast – bis auf den Stimmbruch. Und wie kann man nur so dünn sein, wenn man den ganzen Tag isst?“

Ich schiebe zwei Scheiben Brot in den Toaster, dann hole ich Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank.

Wieder zuckt Lewis nur mit den Achseln. Mit dem Zeigefinger schiebt er seine Brille hoch, die ihm stets die Nase hinunter rutscht.

„Wie läuft es so in der Schule?“, frage ich betont gleichgültig, während ich seinen Toast schmiere.

Eine Strähne meines schwarzen Haares fällt mir ins Gesicht und ich streiche sie absichtlich nicht zurück, damit Lewis nicht sieht, dass ich wirklich neugierig bin zu hören, was in der Schule vor sich geht. Der Unterricht mag ja langweilig sein, aber es gibt schließlich auch noch anderes…

„Wenn du mich durch die Blume fragen willst, was dieser Idiot von Damon Roberts macht, sind meine Lippen versiegelt. Du weißt, dass ich es unter deiner Würde finde, dass du auf Newcastles größten Weiberheld stehst.“

„Ich stehe nicht auf ihn!“, protestiere ich halbherzig und schiebe Lewis seinen Teller zu. „Komm, lass uns nach oben gehen.“

„Ich dachte, deine Eltern sind eine Weile weg.“ Kauend folgt er mir die Treppe hinauf in mein Zimmer.

„Sie sind den ganzen Tag bei meiner Großtante Jean.“, bestätige ich.

„Sagtest du nicht, sie würden verzweifelt nach einer neuen Schule für dich suchen? Stattdessen machen sie Anstandsbesuche bei alten Tanten“, witzelt Lewis und schiebt sich genüsslich den letzten Rest seines ersten Toasts in den Mund. Er isst nicht nur viel, sondern auch extrem schnell.

„Es ist Sonntag“, erwidere ich, dabei verdrehe ich die Augen. „Da hat für gewöhnlich keine Schule geöffnet.“

Lewis lässt sich auf mein Bett sinken und stellt seinen Teller neben sich ab. Ich lümmele mich auf meinen Sitzsack und betrachte ihn schmunzelnd. Jeder andere Fünfzehnjährige würde sich vermutlich auf das Bett fläzen oder zumindest die Füße hochziehen, sich im Schneidersitz hinsetzen oder ähnliches. Nicht so Lewis Seymour, der vermutlich wohlerzogenste Junge den ich kenne. Er bleibt gesittet auf der Bettkante sitzen.

„Nun erzähl schon, reden sie in der Schule über mich?“

„Ich dachte, das wäre dir gleichgültig“, gibt er zurück.

„Ist es mir auch“, maule ich, dann angele ich von meinem Schreibtisch eine Packung Kaugummi und schiebe mir gleich zwei davon in den Mund.

„Dann muss ich dir ja nichts davon erzählen, dass sich alle das Maul über dich zerreißen.“ Lewis guckt ganz scheinheilig.

„Nein, musst du nicht.“ Trotzig verstaue ich meine Hände in den Taschen meiner Jeans.

Eigentlich interessiert es mich wirklich nicht, ob sich die Klatschweiber aus unserer Jahrgangsstufe über mich auslassen – was sie mit Sicherheit tun, wie mir Lewis indirekt bestätigt hat. Wenn ich in der Schule bin, redet außer Lewis sowieso niemand mit mir und ich habe auch nichts dagegen. Das ist schon so, seit wir zusammen die Gosforth Academy besuchen. Außer Lewis habe ich keine Freunde und das ist gut so. Meine Mum, der soziale Kontakte und Abende mit ‚ihren Mädels‘ total wichtig sind, bemängelt oft, dass ich nie eine Freundin mit nach Hause bringe. Wie sollte ich auch, wenn ich keine habe?

„Mich interessiert wirklich nicht, was eine Nell Jenkins und ihre Basketballclique über mich redet“, bekräftige ich noch einmal, wie um Lewis zu überzeugen.

„Das musst du mir nicht erzählen, Charlotte. Wenn es dich interessieren würde, was andere über dich denken, wärest du jetzt nicht in dieser Lage.“

„In welcher Lage?“, frage ich launig und spiele mit einer Haarsträhne, die ich unermüdlich um meinen Zeigefinger wickle und wieder entrolle.

„Dir ist schon klar, dass deine Eltern dich in eine andere Schule schicken müssen, die womöglich keinen so guten Ruf hat wie die Gosforth Academy?“

„Gut. Dann müssen sie nicht mehr so viel Geld für meine Schulbildung ausgeben. Darüber streiten sie nämlich immer.“

„Über deine Schulbildung?“

„Nein, über Geld“, seufze ich.

Wenn ich könnte, würde ich mich in meinem überdimensionalen Shirt noch viel kleiner machen. In meinem Kopf höre ich die laute, dröhnende Stimme meines Vaters und die sich hochschraubende, keifende meiner Mutter. Entschlossen schüttle ich den Kopf.

„Lass uns über etwas anderes reden.“

„Aber bitte nicht über Damon Roberts!“ Lewis verschränkt die Arme vor der Brust seines gestärkten, kurzärmeligen Hemdes, mit den korrekten Bügelfalten.

Selbst wenn wir nicht in der Schule sind, trägt er immer Klamotten, die wie eine Uniform aussehen. Dunkle Hose, hellblaues gebügeltes Hemd. Seine Mutter kauft seine Kleidung ein und ist, wie man nur unschwer erkennen kann, ein wenig spießig und die penibelste Hausfrau von Gosforth, wenn nicht von ganz Newcastle. Wenn ich könnte, würde ich mit Lewis einkaufen gehen und ihn komplett neu einkleiden. Andererseits ist das der Lewis, den ich seit Jahren kenne und da er mich so akzeptiert, wie ich bin, nehme ich ihn auch mit seinen Besonderheiten.

„Wir könnten irgendwohin gehen“, schlage ich vor.

„Du? Ich dachte, du hast Hausarrest.“

„Habe ich auch. Aber wer sollte es merken, wenn ich mit dir raus gehe? Meine Eltern kommen erst spät abends zurück, sagte ich doch schon. Tante Jean und Onkel Allan wohnen in Dumfries, das ist ein ganzes Stück entfernt.“

Lewis hat seine Marmeladenbrote längst verdrückt, also zuckt er gleichgültig mit den Achseln und fragt: „Und wohin möchtest du?“

„Wie wäre es mit einem Eis bei Creams?“, antworte ich mit einer Gegenfrage. Dabei verstecke ich mein Gesicht hinter einem dichten Haarvorhang, damit Lewis nicht sieht, wie mein Kopf die Farbe einer Tomate annimmt. Es ist ein heißer Sonntag im Juni und es besteht eine ziemlich gute Chance, dass Damon Roberts bei Creams ist.

Aber Lewis muss mich nicht ansehen, um das zu wissen. Er stöhnt leise, nickt aber trotzdem, während er aufsteht und seine Hose zurechtstreicht, bis sie keine einzige Falte mehr wirft.

Wie erwartet, ist es ziemlich voll im Creams, sodass ich erstmal keinen freien Tisch entdecke, als wir ankommen. Nach der Hitze auf der Straße draußen, die mich unwillkürlich an Kernschmelze denken lässt, tut es gut den kühlen Windhauch der Klimaanlage auf der Haut zu spüren.

Vor dem Café bis hin zum Tresen stehen Menschen an, die munter schnattern. Kinder drängeln an die Auslage, um die Eissorten zu studieren. Ich blicke mich so lässig wie möglich um. Wie erwartet entdecke ich Damon, der mit seinen Freunden an einem der Tische sitzt. Jeder von ihnen hält sein Handy in der Hand, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht miteinander kommunizieren. Sie stecken die Köpfe zusammen, zeigen sich gegenseitig irgendwelche Sachen auf ihren Smartphones. Ich starre wie gebannt zu ihnen hinüber.

„Wusste ich’s doch, dass wir nur wegen ihm hierher kommen“, flüstert mir Lewis mit einem Kopfrucken in Damons Richtung zu. „Bist du dir echt nicht zu schade, auf den größten Angeber der Schule zu stehen, Charlie? Ehrlich, ich hätte mehr von dir erwartet.“

„Kein Problem. Das Gefühl kenne ich schon.“, gebe ich so lässig wie möglich zurück, aber innerlich tut es ein bisschen weh.

Damon hebt den Kopf von seinem Display und schaut genau in unsere Richtung. Am liebsten würde ich mich noch weiter in meine Kapuzenjacke zurückziehen. Wenn er mich so sieht, wird er sowieso denken, dass ich einen ziemlichen Fehler im System habe. Wer trägt bei dieser Hitze eine Jacke? Doch zu meiner Überraschung, erscheint auf Damons Gesicht sein strahlendstes 32-Zähne-Lächeln und er winkt auch noch zu uns herüber. Er hat ein wirklich tolles Lachen, dabei bilden sich winzig kleine Fältchen um seine tiefbraunen Augen.

Obwohl es überhaupt nicht meiner Art entspricht, habe ich das Gefühl, ich müsse ihm zurückwinken. Es fühlt sich ein wenig seltsam an, denn ich war mir sicher, dass mich ein Typ wie Damon Roberts in der Schule überhaupt nicht bemerkt hat, geschweige denn, dass er mir jemals zuwinken würde. Ich überlege noch hin und her, ob ich jetzt zu seinem Tisch gehen soll, um zwanglos mit ihm zu plaudern – was sich irgendwie noch seltsamer anfühlt -, als mich von hinten links jemand überholt, der in eine Überdosis Wonderstruck von Taylor Swift gehüllt ist.

„Hi, Damon!“ Nell Jenkins drängt sich winkend an mir vorbei, rempelt mir dabei sogar den Ellenbogen in die Seite. Ihr ultrablonder Pferdeschwanz wippt auf und ab, als sie beschwingt auf Damons Tisch zusteuert.

Entsetzt beobachte ich, wie sie sich zu ihm beugt, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen, dann erst bemerke ich, dass ich meine Hand immer noch wie ein Idiot erhoben halte.

„Wem winkst du da eigentlich?“, fragt Lewis jetzt irritiert, dann wandert sein Blick zu Damon. „Charlie, bitte sag mir, dass du nicht diesen Superaufreißer begrüßt hast.“

„Ganz sicher nicht!“, fauche ich wütend, lasse meine Hand sinken, die nun neben mir hängt, als würde sie nicht zu mir gehören. Ich wünschte zumindest, sie würde tatsächlich nicht zu mir gehören.

Glücklicherweise hat Damon nicht gemerkt, dass ich ihn mit meiner idiotischen Winkerei meinte. Wie auch, er weiß vermutlich nicht mal, dass ich existiere. Aber Nell weiß es und sie hat sehr wohl mitbekommen, was ich getan habe. Sie wirft mir einen spöttischen Blick zu, dann rutscht sie zu Damon in die Bank und flüstert ihm etwas ins Ohr, dabei ruckt sie mit dem Kinn immer wieder in meine Richtung. Mir wird heiß vor Scham, deswegen drehe ich mich schnell zur Auslage.

„Mit einem Sitzplatz sieht es schlecht aus. Wir könnten uns aber für eine Kugel anstellen“, schlägt Lewis arglos vor, der die Sache mit dem Winken zum Glück nicht vertieft.

Ganz sicher werde ich mich nicht in diese endlose Schlange stellen, um den Blicken der Basketball-Asse der Gosforth Academy ausgesetzt zu bleiben. Mittlerweile sehe ich aus dem Augenwinkel, dass Damon mich anstarrt und dabei bis über beide Ohren grinst.

„Meine Sorte ist heute nicht dabei“, knurre ich deswegen nur unfreundlich, drehe auf dem Absatz um und verlasse das Creams so schnell wie möglich.

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