Читать книгу Herzstolpern - Tara McKay - Страница 4
Lauren
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„Sie müssen sich eine Aktivität außer Haus suchen.“
Dr. Walker sieht mich über den Rand seiner schwarzgeränderten Brille streng an. Ich sitze auf einem roten IKEA-Sessel vor ihm und starre wie hypnotisiert auf sein dichtes gewelltes Haar, das er mit irgendetwas sorgfältig zurückgekämmt hat.
„Benützen Sie Pomade?“, frage ich ehrlich interessiert, völlig ignorierend, was er zu mir gesagt hat.
„Bitte?“ Leicht konsterniert sieht er mich an.
„Ob Sie… Ach, vergessen Sie’s…“ Ein wenig zu spät erkenne ich, dass die Frage völlig unpassend ist. Und gibt es so etwas wie Pomade überhaupt noch?
Dr. Walker räuspert sich, setzt wieder eine ernste Miene auf und beugt sich weit vor, als wolle er gleich über den Schreibtisch klettern.
„Sie igeln sich zu sehr ein“, fährt er mit dem ursprünglichen Thema fort. Er spricht in einer altväterlichen Art zu mir, die nicht zu seinem nur leicht ergrauten Haaransatz und dem sonnengebräunten Gesicht eines wohlhabenden Mannes Mitte vierzig passt, der vermutlich jedes Sommerwochenende auf seiner Yacht im Royal Forth Yacht Club von Granton verbringt.
„Ich bin krank“, gebe ich fast schon panisch zurück.
Das Letzte was ich will, ist, mir eine ‚Aktivität außer Haus‘ zu suchen.
„Das sind Sie nicht“, protestiert Dr. Walker leicht tadelnd. „Sie bilden sich ein, krank zu sein. Das ist ein meilenweiter Unterschied.“
„Ich habe Probleme zu atmen.“ Ich atme probeweise ein und aus. Es fällt mir schwer, die Luft tief in die Lungen zu ziehen.
„Machen Sie die Übung, die ich Ihnen gezeigt habe?“, fragt mein Gegenüber und zieht eine seiner dunklen Augenbrauen hoch.
„Ich zähle bis vier beim Einatmen und mindestens bis sechs beim Ausatmen.“
„Machen Sie das immer, wenn Sie rausgehen?“
Ich spiele verlegen an meinem silbernen Armband herum. Ich gehe nicht gerne raus und Dr. Walker weiß das auch. Genaugenommen unternehme ich nur die Wege, die absolut nötig sind. Allein hier zu sitzen, kostet mich eine Menge Kraft und das einzige, was mich von einer aufsteigenden Panikattacke ablenkt, ist, das Haar des Arztes zu betrachten und zu überlegen, welcher Person in meinem neuen Roman ich einen so vollen, prächtigen Haarschopf zuschreiben soll.
„Ich gehe nicht oft raus“, gebe ich schließlich zähneknirschend zu.
„Genau das meinte ich. Sie müssen sich eine Aktivität außer Haus suchen. Sie haben es nicht nötig rauszugehen, da Sie von zu Hause aus arbeiten. Dabei wäre es gerade für Sie so wichtig zu erleben, dass die Außenwelt nicht gefährlich ist. Kaufen Sie wenigstens selbstständig ein?“
„Ähm…ja…sicher…“, lüge ich eine Spur zu schnell und denke, wie praktisch es doch ist, dass der Supermarkt drei Straßen weiter einen Lieferservice anbietet.
Ein schmalbrüstiger, pickliger Teenager mit flammend roten Locken, der sich nach der Schule etwas dazuverdienen möchte, bringt mir alles, was ich bestelle. Das Internet macht’s möglich. Und genaugenommen kaufe ich selbständig ein, nur eben nicht außer Haus.
Dr. Walker zieht eine Augenbraue fragend hoch.
„Wann verlassen Sie sonst noch das Haus?“
„Ich gehe zu Terminen mit meiner Lektorin.“
Mehr fällt mir beim besten Willen nicht ein. Natürlich hätte ich lügen und irgendwelche Restaurantbesuche mit Freunden erfinden können, die nie stattgefunden haben. Nicht umsonst habe ich eine blühende Fantasie. Aber irgendwie kommt es mir nicht richtig vor, meinen Hausarzt zu belügen. Schon die Sache mit dem Einkauf macht mich nervös und ich frage mich, ob er mich nicht durchschaut. Vermutlich schon.
„Kontakte zu Freunden?“, fragt er auch prompt.
„Ich habe eine Freundin, die mich regelmäßig besucht.“
Selbst in meinen Ohren klingt das ziemlich armselig und ich schrumpfe in meinem roten Sessel förmlich zusammen.
„Haben Sie weitere Freunde? Besuchen Sie diese?“
„Ist das nicht ein wenig zu persönlich?“
„Ich denke nicht, wenn ich Ihnen helfen soll.“
„Vielleicht sollten Sie meine Lunge genauer untersuchen. Ich denke, ich muss zu einem Spezialisten.“
„Das ist nicht nötig, Miss Anderson.“
Dr. Walker steht auf und umrundet seinen Schreibtisch, bis er bei meinem Sessel ankommt. Er legt mir seine große Hand, auf deren Rücken ein paar schwarze Härchen sprießen, in einer vertraulichen Geste auf die Schulter.
„Sie sind gesund. Das einzige was Ihnen fehlt, sind soziale Kontakte. Sie leiden unter Panikattacken, sobald Sie das Haus verlassen und es gibt nur eine Möglichkeit, die Angst zu bekämpfen: Sie müssen rausgehen und sich dem stellen, was Sie nervös macht.“
Das Atmen fällt mir plötzlich noch schwerer, wenn ich nur daran denke, mich länger als nötig außerhalb meines Hauses aufzuhalten.
„Das geht nicht.“, presse ich hervor und stehe auf.
Ich will jetzt nur noch hier raus. Die Wände erscheinen mir zu eng, es ist heiß im Raum und ich zupfe nervös am Ausschnitt meines H&M-Oberteils herum, das ich im Internetshop günstig ergattert habe.
„Miss Anderson, Sie wollen doch irgendwann am Leben wieder teilnehmen.“ Dr. Walker sieht mich eindringlich an. „Bitte nehmen Sie sich meinen Rat zu Herzen. Und suchen Sie sich einen Therapeuten. Ich habe ihnen doch schon vor Monaten ein paar Adressen mitgegeben.“
„Natürlich“, verspreche ich halbherzig.
An dem skeptischen Blick, den er mir zuwirft, sehe ich, dass er mir nicht glaubt. Kein Wunder. Ich glaube mir nicht mal selbst und ich bin ziemlich gut darin, mich zu belügen.
Eilig nehme ich meine Tasche vom Boden auf, drücke Dr. Walker die Hand und lächle ihm so gut es geht zu. Dann fliehe ich förmlich aus der Praxis.
Auf der Straße angekommen atme ich so tief als möglich ein und sehe mich um, als wäre ich noch nie hier gewesen. Der Weg nach Hause ist nicht weit, dennoch bedeutet er für mich eine Herausforderung. Es ist ein ziemlich heißer Tag für schottische Verhältnisse.
„Gott, ich hasse Sonne.“, schimpfe ich leise vor mich hin, presse meine riesige schwarze Handtasche an mich und wappne mich. Das Sonnenlicht sucht sich einen Weg durch die kleinen Reihenhäuser von Portobello, sodass es kaum möglich ist im Schatten zu laufen. Grell fällt es auf die helle Sandsteinfassade von Dr. Walkers Haus. Sorgsam versuche ich die Umgebung auszublenden und nur ans Zählen zu denken, dann marschiere ich mit gestrafftem Rücken los.
1,2,3,4 – einatmen
1,2,3,4,5,6 – ausatmen
Es klappt für eine Weile, ganz so, wie ich es gewohnt bin, doch bereits an der nächsten Straßenbiegung nimmt mir die Angst so sehr die Luft zum Atmen, dass ich nur noch mühsam beim Ausatmen bis vier komme. Mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln und ich beschleunige meine Schritte. Ein fataler Fehler, wie ich weiß, denn dadurch fällt mir das gleichmäßige Atmen nur noch schwerer. Doch das einzige, was ich jetzt wirklich will, ist, möglichst schnell wieder in meinen vier Wänden sein. Meine strassbesetzten FlipFlops klatschen laut auf den Boden, mit jedem Schritt den ich mache.
Ich renne schon fast, als ich in die Brunstane Road einbiege, wo ich von weitem mein Häuschen sehen kann. Menschen gehen an mir vorbei, die an diesem schönen Tag auf dem Weg zum Strand sind und ich habe das Gefühl, als würden sie mich anstarren. Als stünde auf meiner Stirn: Ich habe gerade eine Panikattacke.
Wenigstens stirbst du nicht allein, denke ich und haste weiter. Jeden Moment wird mir die Luft ausgehen, da bin ich ganz sicher. Was danach kommt, weiß ich genau. Ich werde nicht sterben, soviel ist klar, wenngleich ich das gerne mal ausblende.
Vor meinem Haus angekommen, suche ich mit zittrigen Fingern die Schlüssel. Nachdem ich durch das schmiedeeiserne Gartentor geschlüpft bin, schaffe ich es gerade noch die Tür aufzuschließen und lasse mich dann ermattet auf den riesigen Ohrensessel sinken, der in der Garderobe steht. Meine Hände beginnen taub zu werden, es kribbelt bis in die Arme hinauf und mein Kopf fühlt sich an, als sei er voller Watte. Doch jetzt bin ich endlich zu Hause, der Atem strömt wieder völlig gleichförmig in meine Lungenflügel und wieder hinaus.
Geschafft!
Die Symptome ebben diesmal schnell ab. Meine Finger entkrampfen sich, das Kribbeln in meinen Armen lässt nach und verschwindet schließlich ganz. Ich bin in meinem sicheren Hafen angekommen.
Noch ein wenig wackelig auf den Beinen stemme ich mich aus dem rosa geblümten Chintzsessel hoch und hebe meinen Schlüsselbund auf, der in aller Eile nicht auf dem dafür vorgesehenen weißlackierten Holztischchen gelandet ist, sondern auf dem abgewetzten lindgrünen Teppich, mit dem sowohl der Flur, als auch die Treppe nach oben ausgelegt sind.
Ich sollte ihn austauschen.
Nicht zum ersten Mal denke ich über die Renovierung des kleinen Reihenhäuschens in Portobello nach, das ich von meiner Patentante Mhairi geerbt habe. Die Teppiche und Böden sind alt und abgewohnt und befinden sich hier im Haus seit ich denken kann – und vermutlich noch viel länger. Eine Renovierung kommt jedoch nicht in Frage, alles erinnert mich hier an glückliche Tage mit meiner Großtante. Erinnerungen, die ich gerade jetzt nicht aufgeben kann, wo ich das Gefühl habe, dass es mir jeden Tag schlechter geht. Auch wenn ich das nur ungern zugebe.
Das Telefon klingelt und reißt mich aus meinen Gedanken. Da ich die schlechte Angewohnheit habe, es überall liegen zu lassen, ist es meist unauffindbar oder der Akku leer. Das Klingeln kommt aus dem Wohnzimmer, wo ich es schließlich unter einem dicken Sofakissen finde.
„Ja?“, frage ich misstrauisch, als ich auf den Knopf mit dem Hörer drücke. Meist sind es Anrufe von einer Telefongesellschaft, die mir unbedingt ihre günstigen Tarife andrehen will. Für derartige Gespräche habe ich keinen Nerv.
„Liebes, wie war es beim Arzt?“ Meine Mutter schreit in den Hörer, als wäre sie tausende von Meilen entfernt auf dem Kontinent und nicht im selben Land wie ich.
„Gut“, antworte ich wortkarg und könnte mich in den Hintern beißen, dass ich ihr von meinem Verdacht, etwas könne mit meiner Lunge nicht in Ordnung sein, erzählt habe.
„Wie, gut? Hast du nun etwas oder nicht?“
Die Antwort ‚gut‘ sollte ihr eigentlich sagen, dass ich an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leide, das versteht doch nun wirklich jeder. Nicht so meine Mutter. Sie ist Meisterin darin, nicht zu verstehen, was ihre Umgebung ihr sagen will oder Dinge falsch zu interpretieren. Was wohl der Grund dafür ist, dass keiner ihrer Geschwister noch mit ihr spricht. Das oder dass sie mit Vorliebe über jeden herzieht, egal ob er ihr nahesteht oder nicht.
„Nein, ich habe nichts.“ Zumindest nichts, was ich nicht wüsste.
Meine Mutter zieht die Luft laut ein. Ein äußerst missbilligendes Geräusch.
„Du bist ein ebensolcher Hydrodingsda wie dein Vater.“
„Hypochonder“, verbessere ich sie genervt.
Ich versuche nicht mal, meiner Stimme einen freundlicheren Klang zu geben. Danach ist mir nun wirklich nicht zumute. Die letzte Panikattacke hat zwar nicht lange angedauert, aber mich nichtsdestotrotz ziemlich ausgelaugt.
„Sag ich doch.“ Ich sehe förmlich vor mir, wie sie beleidigt das Gesicht verzieht.
„Ich bin kein Hypochonder, Ma.“
Sie besteht schon seit ich klein bin darauf, dass ich sie ‚Ma‘ nenne und sieht sich gerne als Mutter aus der Serie ‚Die kleine Farm‘. Nun gut, sie ist blond und kümmert sich gerne um ihre Familie, aber da hört die Ähnlichkeit auch schon auf.
„Wenn du sagst, dass dir etwas fehlt und dann ist es doch wieder ein Fehlalarm, dann bist du eben das. Dein Vater stirbt auch bereits seit Jahren und ist immer noch da.“
„Wie geht es Da?“, versuche ich das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Mein Vater hat sich standhaft geweigert, dass ich ihn ‚Pa‘ nennen soll, weil er Mas Vorliebe für amerikanische Serien und Filme nicht teilt. Das etwas altmodische, schottische ‚Da‘ hat sich als Kompromiss durchgesetzt.
„Er rechnet stündlich mit einem Herzinfarkt, aber ansonsten ist alles in Ordnung. Ich habe ihn dazu verdonnert, den Rasen zu mähen.“
Ich sehe meine Vater förmlich vor mir, wie er in seinen khakifarbenen Shorts und einem seiner unvermeidlichen Polohemden, den Schlapphut gegen die Sonne tief ins Gesicht gezogen, über den Rasen trabt und seinen uralten roten Rasenmäher vor sich herschiebt. Sein Traum ist so ein Ding, auf das man sich draufsetzen kann, aber da er damit in dem kleinen Quadrat, das zu dem Reihenhäuschen meiner Eltern gehört, gerade einmal hin und zurück fahren könnte, wird er den wohl nie bekommen. Eine Welle der Zärtlichkeit überkommt mich und das überwältigende Gefühl, nach Hause fahren zu wollen.
„Sag ihm liebe Grüße, Ma“, sage ich stattdessen. „Ich muss jetzt noch zur Arbeit.“
Bevor meine Mutter noch weitere Fragen stellen kann – und das würde sie mit Sicherheit gerne tun, man muss bei ihr ziemlich auf der Hut sein -, lege ich rasch auf. Dann bleibe ich auf dem Sofa sitzen, als wäre ich dort festgetackert.
Ich muss jetzt noch zur Arbeit…
Eine ziemlich dreiste Lüge, angesichts der Lage. Denn was meine Eltern nicht wissen: vor über einem Jahr habe ich meinen sicheren und gar nicht so schlecht bezahlten Job als Lehrerin an der Portobello High School gekündigt und verdiene meinen Lebensunterhalt als Schriftstellerin. Das klingt nun wirklich nicht so schlimm, dass man es vor seinen Eltern geheim halten müsste. Es sei denn…
„Es sei denn, man kann nicht mehr arbeiten gehen und hat glücklicherweise ein Hobby, das recht erträglich ist und ein Haus, für das man weder Miete, noch eine Hypothek zahlen muss.“
Ich stöhne auf und raufe mir die roten Locken, während ich in der Küche an dem kleinen Tisch aus Kiefernholz sitze und warte, dass Izzy mit dem Tee fertig wird, den sie gerade aufbrüht.
„Wann willst du es ihnen denn endlich sagen?“, fragt meine beste Freundin und stellt einen dampfenden Becher vor mich hin.
Der Duft von Kamillenblüten steigt mir in die Nase und ich atme tief ein und aus.
„Nie.“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Das kannst du nicht machen!“
„Kann ich nicht? Du siehst doch, wie gut das geht.“
„Irgendwann werden sie es merken.“
„Was? Dass ich nicht mehr in der Schule arbeite? Ich wüsste nicht, wie sie es erfahren sollten.“
„Das meine ich nicht.“
Izzys Stimme klingt ungeduldig und versetzt mich in einen Zustand permanenter Anspannung. Meine Handflächen beginnen feucht zu werden und mein Herz klopft etwas heftiger als noch kurz zuvor.
Natürlich weiß ich, was sie mir sagen will - und was sie mir mit Sicherheit mit der schonungslosen Offenheit einer besten Freundin an den Kopf schleudern wird. Fast bedauere ich, dass ich sie nach meinem Telefonat mit Ma angerufen habe, um sie für heute einzuladen.
„Dein Radius wird immer kleiner, Lauren.“
„Das ist nicht wahr“, protestiere ich schwach, will hinzufügen, dass sich mein Zustand seit meinem großen Zusammenbruch vor etwas über einem Jahr nicht verändert hat. Aber es wäre eine Lüge und tief in mir drinnen weiß ich das auch. Vor einem Jahr bin ich noch einkaufen gegangen. Nicht gerne und nicht oft und am Liebsten auch nicht alleine. Aber ich bin gegangen.
„Wohin gehst du, außer zum Arzt?“
Mist! Mit dem Zusatz ist sie meiner Antwort zuvor gekommen. Außerdem habe ich irgendwie das Gefühl, als hätte ich ein Déja-vu. Nur mit Izzy als Großinquisitor statt Dr. Walker.
„Ich fahre ab und an zu dir.“
Izzy schüttelt den Kopf mit dem glatten blonden Haarschopf und ahmt das Geräusch eines Buzzers nach, wie bei dieser Castingshow, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann.
„Du warst schon ewig nicht mehr bei mir, denn dazu müsstest du ja Bus und Bahn fahren oder in dein Auto steigen.“
„Ich fahre Auto!“ Triumphierend hebe ich den Zeigefinger in die Luft. „Ich bin regelmäßig bei Heather im Büro.“
Zufrieden sehe ich Izzy an, muss aber feststellen, dass sie wieder nur den Kopf schüttelt.
„Du triffst Heather nur, wenn es sich per Email nicht erledigen lässt. Was äußerst selten der Fall ist. Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“
Ich muss nachdenken, was ja tendenziell eher schlecht ist. Es kann sein, dass es ein Weilchen her ist, da ich bei meiner Lektorin war. Genaugenommen drei Monate, als mein neuestes Buch fertiggestellt war und sie mit mir Vorschläge für das Cover durchgehen wollte. Außerdem ist mein Verlag in Leith, was bedeutet, dass ich nicht weit fahren muss. Schweiß rinnt mir den Rücken hinab, als ich daran denke, wie ich vor gut drei Monaten das letzte Mal in meinen Vauxhall Corsa gestiegen bin und mein Atem beschleunigt sich allein bei der Vorstellung, es wieder tun zu müssen.
Ich knabbere verlegen an meiner Unterlippe herum und sage gar nichts.
„Bis nach Leith ist es ja nicht allzu weit. Aber wann warst du das letzte Mal bei mir in North Berwick?“
„Warum musstest du mit Rory auch so weit weg ziehen?“, antworte ich mit einer Gegenfrage, dabei ziehe ich einen Schmollmund.
„So weit ist eine Autofahrt von einer Stunde nun wirklich nicht. Aber darum geht es doch auch gar nicht. Dieses Haus ist wie ein Gefängnis, Lauren. Zugegeben, ein recht nettes Gefängnis. Aber du kannst nicht dein ganzes Leben nur hier verbringen.“
„Ich weiß“, flüstere ich leise und umfasse meinen heißen Becher mit beiden Händen, als könne ich mich an der trostspendenden Wärme festhalten. „Ich war heute bei Dr. Walker.“
Izzy ist wenig überrascht. Schließlich gehören die Besuche bei Dr. Walker zu meiner Routine und Izzy, als meine beste Freundin – und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, meine einzige noch verbliebene – kennt mich sehr genau.
„Lass mich raten… Er hat dir zum wiederholten Male bestätigt, dass du kerngesund bist und nichts weiter getan.“
Ich grummele irgendwas zwischen Zustimmung und Verneinung und senke den Kopf, um an meinem Tee zu schnuppern. Er riecht irgendwie tröstlich.
„Wie oft soll er dir noch sagen, dass du nichts hast?“ Izzy beugt sich über den abgenutzten Holztisch zu mir hinüber und legt ihre Hand auf meine. „Dir fehlt nichts.“
Ich blicke zu ihr auf, weiß nicht so genau, was ich empfinden soll. Einerseits steigt Wut wie ein roter Feuerball in mir hoch. Ob auf Izzy oder auf mich selbst kann ich nicht so genau sagen. Andererseits will ich gerne an ihrer Aussage herumkritisieren, aber mir ist selbst klar, dass sie Recht hat. Also überwiegt das bleierne Gefühl der Trauer, das mich so oft umgibt, wenn ich darüber nachdenke, wie ich seit nun fast einem Jahr lebe und es breitet sich rasend schnell in meinem Körper aus und legt sich auf meinen Brustkorb, der sich plötzlich seltsam schwer anfühlt und ich merke kaum, wie mir Tränen in die Augen treten.
„Lass uns rausgehen“, bettelt Izzy wenig später, während ich mir geräuschvoll die Nase putze.
Vermutlich ist sie leuchtend rot von meinen wiederholten Bemühungen, sie endlich wieder frei zu bekommen. Was ich am Heulen am Meisten hasse, ist nicht, dass meine Nase nicht mehr hübsch aussieht, denn das tut dieser Zinken ähnlich einer Skiabschussrampe ohnehin in meinen Augen nie, sondern dass sie so schrecklich verstopft ist, dass ich gezwungenermaßen durch den Mund atmen muss. Und zwar nur durch den Mund.
In der dritten Klasse hat uns unser Klassenlehrer, Mr. MacGillivray, erklärt, dass das Herz doppelt so viel arbeiten muss, wenn man durch den Mund einatmet und man es dadurch dauerhaft schädigt. Ich habe nur sehr wenig behalten, was dieser Mann mir beigebracht hat, denn ich konnte ihn nicht besonders leiden, aber genau das habe ich mir gemerkt und obwohl ich mir nie die Mühe gemacht habe, nachzulesen, ob er Recht hatte, schiebe ich jetzt immer Panik, wenn ich nur durch den Mund atmen kann. Dass die Schleimhäute durch das wiederholte Schnäuzen nur weiter gereizt werden, ignoriere ich komplett.
„Ich kann nicht“, antworte ich mit näselnder Stimme.
Izzy zieht einen Schmollmund, der jeden Mann um den Verstand bringen würde. Einen guten Mann hat sie sich damit schon eingefangen: ihren Ehemann Rory. Das könnte aber auch daran liegen, dass sie insgesamt einfach umwerfend aussieht und dazu noch unkompliziert und nett ist – eine seltene Kombination.
„Natürlich kannst du das. Komm, wir gehen was trinken.“
„Rory wird dich vermissen“, protestiere ich schwach, woraufhin Izzy nur lacht.
„Der ist heute bei seinen Eltern, und ich bin heilfroh, wenn ich nicht mitkommen muss. Es reicht schon, wenn sie ihn um den Verstand bringen, ich will meinen noch behalten.“
Ich bringe ein schwaches Grinsen zustande.
„Vermutlich sehe ich nicht präsentabel aus.“
Izzy zuckt mit den Schultern.
„Die Ausrede gilt nicht, dagegen kannst du nämlich was tun.“
Ich blase die Backen auf und lasse geräuschvoll die Luft entweichen. Die Vorstellung in ein Pub zu gehen ist nicht gerade verlockend und lässt meine Handflächen bereits wieder feucht werden. Schlechte Luft, viele Menschen, Alkohol…
„Bitte!“, bettelt Izzy mit ihrem besten Dackelblick. „Wir könnten doch nur auf einen Sprung ins Piratenpub gehen.“
Das Piratenpub heißt eigentlich The Dalriada, aber mit Sicherheit sind Izzy und ich nicht die einzigen, die es nach ihrem Eyecatcher benennen. Es liegt am Strand von Portobello und eine riesige Piratenfigur steht an der Eingangstür. Wäre es Jack Sparrow, würde ich sie eines Nachts heimlich klauen und mit nach Hause schleppen, auch wenn das ein ziemlich schweres Unterfangen wäre.
Ich nage ein wenig ratlos an meiner Unterlippe, während sich die gewohnte Unruhe in meinem Körper ausbreitet. Was mich dann doch dazu bewegt, zustimmend zu nicken, ist die Tatsache, dass wir nicht allzu weit dorthin laufen müssen, sodass ich jederzeit wieder in meine Höhle zurückkriechen kann. Außerdem ist es immer noch warm draußen, obwohl es bereits Abend ist, und wir können in dem kleinen Vorgarten mit Blick auf den Strand sitzen und dort unsere Getränke zu uns nehmen.
Rasch gehe ich nach oben, um mich ein wenig herzurichten. Im Hinaufgehen höre ich noch, wie Izzy bei Rory anruft und sich für diesen Abend entschuldigt. Ich grinse in mich hinein. Ein Abend mit ihrer komplizierten Freundin scheint immer noch besser zu sein, als Essen mit den nervtötenden Schwiegereltern, die ständig nach Nachwuchs fragen und entsprechend enttäuscht sind, wenn es in der Hinsicht nichts zu vermelden gibt.
Ein Blick in den Spiegel zeigt mir mehr als deutlich, dass eine umfassende Renovierung meines Äußeren nötig ist. Mein Outfit wird schnell mit ein paar blütenförmigen Ohrringen und einer mit kleinen Perlchen besetzten Kette von Accessorize aufgepimpt, die zu dem schlichten rosa Jerseytop passen, das ich zur grauen Jeans trage. Ein Blick auf meine FlipFlops mit den silbernen Strasssteinchen bestätigt mir, dass hier kein Handlungsbedarf ist.
Schnell schlüpfe ich ins Bad, benetze meine gerötete Haut mit eiskaltem Wasser und genieße die wohltuende Kühle im Gesicht. Wenn ich nicht außer Haus müsste, würde ich mich jetzt pudelwohl fühlen und mich vielleicht, trotz der Hitze, die mir immer Angst macht, auf meine kleine Terrasse setzen. Doch da ich weiß, dass ich bald meine vermeintlich schützende Umgebung verlassen werde, bricht mir schier der Schweiß aus. Vor meinen Augen beginnt mein Gesicht im Spiegel zu verschwimmen, in meinem Kopf dreht sich alles.
Haltsuchend stütze ich mich am Waschbecken ab und taste mich dann zum Badewannenrand, auf dem ich mich niederlasse. Kühl und glatt schmiegt er sich an meine Handflächen. Gerne würde ich jetzt hier einfach sitzenbleiben, bis es Zeit ist, um ins Bett zu gehen. Manchmal verharre ich stundenlang in einer Position, weil ich mich nicht traue sie zu verlassen, bis mich unendliche Müdigkeit überkommt und ich nur noch ins Bett wanken muss, wo ich dann mit viel Glück durchschlafen kann.
Doch dieses Mal weiß ich, dass Izzy unten auf mich wartet. Dass sie heraufkommen und mich holen wird, wenn ich nicht von alleine komme. Und aus irgendeinem Grund will ich mir plötzlich selbst beweisen, dass ich es schaffen kann, wenigstens die wenigen hundert Meter bis zum Pub zu laufen und dort mindestens ein Stündchen zu verweilen. Also stemme ich mich hoch, blicke mein Spiegelbild grimmig an und mache mich daran, mich sorgfältig zu schminken.