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Lauren

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Ich wache mit einem schalen Geschmack im Mund auf und fühle mich nicht annähernd ausgeschlafen, wie so oft. Eigentlich meistens, denn abends steigt meine innere Unruhe kometenhaft an und lässt mich oft nicht vor zwei Uhr nachts müde werden und selbst wenn ich dann die Augen nicht mehr offenhalten kann, wecken mich nächtliche Panikattacken alle paar Stunden.

Die Sonne schickt ihre Strahlen durch das Fenster meines Schlafzimmers, wie um mir ein schlechtes Gewissen zu machen, dass ich immer noch im Bett liege. Ziemlich zerschlagen krieche ich unter der leichten Sommerdecke hervor, tapse auf bloßen Füßen über die Dielen zum Badezimmer und blicke in mein von der gestrigen Schminke verschmiertes Gesicht. Sofort sind die Erinnerungen an den Abend im Dalriada wieder präsent. Unliebsam aufdringlich, begleitet von einem Knoten im Magen.

„Oh Gott, ich habe mich so blamiert.“ Ich stöhne leise, während der Gedanke laut von meinen Lippen kommt. Meine Hand fährt durch wirre Locken, die mir in die Stirn fallen. Ausgeschlossen, dass ich je wieder ins Dalriada gehen kann, wo mir jemand begegnen könnte, der meinen peinlichen Auftritt mitbekommen hat – allen voran der attraktive Barkeeper.

Zum Glück reißt mich das aufdringliche Klingeln meines Telefons aus meinem Gedankenkarussell, das beginnt, sich unaufhörlich zu drehen, sodass mir schon ganz schwindelig ist. Ich stolpere die Treppe hinunter und fliege förmlich den letzten Absatz hinunter, auf das Kästchen zu, wo das Telefon ausnahmsweise mal auf seiner Station liegt. Unsanft lande ich mit der Hüfte an der Ecke des Möbelstückes und ich schreie leise auf, als ich den Anruf entgegennehme.

„Was ist los?“ Ich höre Izzys alarmierte Stimme, als sie meinen gedämpften Schmerzensschrei vernimmt.

„Nichts. Ich bin mal wieder über meine eigenen Füße gestolpert“, murre ich, dabei reibe ich über die leidgeplagte Hüfte, die schon so manches Eck mitgenommen hat. Das gibt garantiert einen blauen Fleck.

„Das ist ja nicht das erste Mal.“ Izzys Grinsen kann ich förmlich hören.

„Bist du gestern noch gut heimgekommen?“, frage ich, um vom Thema abzulenken. Allerdings bekomme ich sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich Izzy gestern im Pub alleine gelassen habe.

„Ja, bin ich. Sonst könnte ich wohl kaum heute frisch und munter bei dir anrufen.“ Sie sagt es fröhlich, aber ein vorwurfsvoller Unterton ist deutlich merkbar.

Früher ist mir Izzy bei solchen Aktionen hinterhergelaufen, weil sie Angst um mich hatte. Das macht sie schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Ich knabbere verlegen an meiner Unterlippe, weil ich mir plötzlich ziemlich dumm vorkomme.

„Es tut mir leid, dass ich so plötzlich abgehauen bin.“

„Das ist ja nicht das erste Mal.“

„Hmpf.“ Mehr fällt mir dazu nicht ein.

„Lauren, es wird immer schlimmer mit deiner Angst. Merkst du das denn gar nicht?“

„Es ist alles in bester Ordnung“, fauche ich zurück, denn obwohl ich weiß, dass sie Recht hat, fühle ich mich angegriffen.

„In bester Ordnung? Du bist schon aus Supermärkten weggelaufen, wenn dir die Schlange an der Kasse zu lang war. Ein paar Mal hast du auch schon fluchtartig ein Café oder Restaurant verlassen, wenn es dir zu voll geworden ist oder der Kellner schlicht zu lange gebraucht hat. Aber so schnell wie gestern warst du noch nie irgendwo raus. Wir waren ja kaum im Piratenpub angekommen, da bist du schon davongelaufen, als wäre der Teufel hinter dir her. Was um alles in der Welt wolltest du eigentlich am Tresen? Dein Glas war doch noch fast voll.“

Genervt stoße ich die Luft aus. Izzys Frage ist durchaus berechtigt. Aber so genau kann ich sie nicht beantworten.

„Mir tat der arme Liam einfach leid.“

„Wer?“

„Liam.“ Mir fällt ein, dass sie nicht wissen kann, wie der Typ heißt, deswegen ergänze ich: „Der Barkeeper mit den roten Haaren.“

„Oh, das Leckerchen, das die ganze Junggesellinnenbande mit Haut und Haaren auffressen wollte.“ Sie kichert.

„Genau der.“ Ich bin froh, dass man durch das Telefon nicht sehen kann, wie mir die Röte ins Gesicht schießt.

„Warum wolltest du ihn denn retten? Gefällt er dir vielleicht?“, fragt Izzy hoffnungsvoll. Es ist ewig her, dass ich mich für einen Mann interessiert habe. Vor lauter Angst habe ich für solch profane Dinge keinen Kopf mehr, weiß aber, dass Izzy förmlich darauf brennt, dass ich jemanden kennenlerne. Sie vertritt die Theorie, dass eine richtig romantische Affäre meine Ängste vertreiben könnte – warum auch immer.

„Spinnst du?“ Ich schüttele energisch den Kopf, dann tapere ich mit dem Telefon in die Küche, um mit einer Hand Teewasser aufzusetzen.

„Also so abwegig ist das ja nun nicht. Er ist nicht unattraktiv und verdammt gut gebaut.“

„Ich glaube, ich habe genug Baustellen. Einen Mann brauche ich im Moment garantiert nicht.“ Und der Gedanke daran macht mir, ehrlich gesagt, auch ganz schön Angst. Ich komme so schon nicht mit meinen Gefühlen zurecht. Noch schlimmer wäre es, wenn zu meiner tagtäglichen Aufregung auch noch die übliche Nervosität des Verliebtseins hinzukommen würde – ganz egal, welche Auffassung Izzy hat.

„Apropos Mann. Der andere Barkeeper – der, vor dem du weggelaufen bist – hat sich bei mir erkundigt, ob mit dir alles in Ordnung ist.“

„Oh nein!“ Mir rutscht fast die Tasse aus der Hand, die ich gerade aus dem Schrank hole. Jetzt ist ganz klar, dass ich leider nie wieder ins Dalriada gehen kann. Was ich ehrlich bedauere. Dass man draußen sitzen kann, findet meine Angst nämlich ziemlich gut. „Was hast du ihm gesagt?“

„Dass du total irre bist?“, meint Izzy trocken. „Quatsch! Ich habe ihm gesagt, dass du dich die ganze Zeit schon nicht wohlgefühlt hast und dir wahrscheinlich übel war. Ich bin dann auch gegangen. Du verzeihst mir, dass ich nicht mehr bei dir vorbeigeschaut habe?“

„Schon gut“, murmele ich beschämt.

„Ich weiß ja, dass du am Liebsten deine Ruhe haben willst, wenn die Panik abebbt.“

Das stimmt. Nach einer schlimmen Angstattacke – und nichts anderes ist es, das weiß ich, auch wenn ich mir gerne einrede, dass ich körperlich krank bin – bin ich meist ziemlich erschöpft. So auch gestern. Ich bin ins Bett gekrochen ohne mich abzuschminken und trage immer noch das rosafarbene Top. Lediglich Schuhe und Hose habe ich mir noch abgestreift, ehe ich todmüde umgefallen bin, so ausgelaugt, als hätte ich einen Marathon hinter mir.

„Du weißt schon, dass wir jetzt nie wieder ins Piratenpub gehen können?“

„Echt jetzt? Langsam wird’s aber verdammt eng. Du verlässt Portobello nicht, bist aber aus fast jedem Restaurant oder Pub dort schon mal geflüchtet, weshalb du nie wieder hingehen willst. Kommt gar nicht in Frage, dass wir nicht mehr ins Dalriada gehen“, protestiert Izzy energisch.

„Aber das ist mir total peinlich. Was denkt dieser Typ jetzt über mich?“

„Keine Ahnung! Dass du zum Abendessen Fisch hattest, der nicht mehr ganz frisch war?“ Izzy prustet in den Hörer und gegen meinen Willen muss ich mitlachen.

„Das ist ja nun nicht das Schlimmste“, gebe ich zu.

„Dann gehen wir gleich am Freitag wieder hin. Und dieses Mal bleibst du, bis ich sage, dass wir nach Hause gehen. Ein Glas Wein ist Pflicht.“

„Aber…“, beginne ich zu protestieren.

„Von einem Glas bist du ja nicht gleich völlig von Sinnen. Wovor hast du also Angst?“

Wenn ich nur daran denke, dass ich wieder außer Haus gehen soll, wird mir jetzt schon schlecht. Der Gedanke an Alkohol macht es nicht besser. Trotzdem sage ich zu. Absagen kann ich ja kurz vorher noch.

Mein neuester Roman nimmt langsam Fahrt auf. Nachdem ich die Protagonisten – einen Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen und eine herzensgute, ziemlich taffe Krankenschwester - ein wenig vorgestellt habe, steige ich jetzt voll in die Handlung ein. Meine Liebesromane sind sicher nicht jedermanns Geschmack. Aber sie sind unterhaltsam, romantisch und haben immer ein Happy End. Mehr, als man vom wirklichen Leben oft sagen kann. Und gerade deswegen schreibe ich sie so gerne. Es macht mir unglaublich viel Spaß, meine Personen mit Leben zu füllen und eine spannende Geschichte darum zu weben, wie sie sich kennen und lieben lernen. Dabei ist durchaus nicht immer alles eitel Sonnenschein. Und die Verkaufszahlen geben dieser Art von Romanen ihre Berechtigung, sind sie doch durchaus beliebt und ich kann meinen Lebensunterhalt davon finanzieren.

Als Lehrerin war ich nicht so der Knaller. Nicht, dass mir das jemals jemand gesagt hätte, aber ich habe mich nie wirklich wohl gefühlt. Manche der Schüler strotzten nur so vor Selbstbewusstsein, sodass ich mir dagegen richtig klein und unscheinbar vorkam, was als Autoritätsperson nicht gerade förderlich ist. Ich schüttele mich unwillkürlich, als ich an meine Zeit in der Portobello High denke und stelle mir, wie so oft, die gleiche Frage: „Würde ich überhaupt wieder als Lehrerin arbeiten wollen, wenn ich keine Angst mehr hätte?“ Aber es ist müßig, darüber nachzudenken, denn ich habe sie. Und keinerlei Hoffnung, dass sie in absehbarer Zeit weggehen wird.

Ich spähe durch das kleine, langgezogene Fenster meines Arbeitszimmers auf die Straße und trinke einen Schluck Wasser (ich halte mich ziemlich streng an diese „Drei Liter am Tag,“-Empfehlung, weil ich damit meinen Körper gesund halten möchte – wenigstens der sollte einwandfrei funktionieren), als ich mich fast an diesem verschlucke. Prustend und keuchend springe ich auf, dann starre ich auf das Auto hinab, das gerade vor meinem Haus äußerst präzise und langsam einparkt. Ich kenne dieses Auto und ich kenne diese Art einzuparken – sehr gut sogar. Da hat einen Hang zur Genauigkeit, den man fast schon penibel nennen kann; etwas, was ich zum Glück nicht von ihm geerbt habe. Obwohl das Auto für jeden anderen Menschen schon ordentlich in der Parklücke steht, hat er den Zwang, noch etliche Male zu rangieren, bis es in seinen Augen wirklich akkurat geparkt ist. Ungläubig starre ich auf den grauen Ford Focus, der jetzt im Abstand von fünfzehn Zentimeter zum Bordstein vor meinem Gartentürchen steht, vor ihm mein knallroter Vauxhall Corsa.

Mein Auto ist über und über mit Staub bedeckt, der vom nahegelegenen Strand heraufweht. Ganz im Gegenteil zu dem meines Vaters, das strahlt, als hätte er es heute Morgen erst poliert. Was bei Da durchaus der Fall sein kann.

Ich fühle mich ein wenig wie paralysiert, kann nur dastehen und zusehen, wie meine Mutter aus der Beifahrertür steigt. Ihr Zetern dringt bis zu mir hinauf.

„Du meine Güte! Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute noch aussteigen darf, Allan“, blafft sie meinen Vater an, der jetzt etwas verloren neben seiner Fahrertür steht. Dann streicht sie über ihre Frisur, als würde nicht jedes Haar perfekt sitzen; keine Strähne würde es je wagen, auf Jean Andersons Kopf aus der Reihe zu tanzen.

„Ich hole dann mal den Hund raus.“ Da trottet gutmütig zum Kofferraum, um ihn zu öffnen, dann hebt er Sherlock vorsichtig heraus. Nicht, dass er nicht springen könnte, aber meine Eltern behandeln ihren Hund wie ein rohes Ei und außer laufen, darf er eigentlich nichts selbständig machen. Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich durfte als Kind auch keinen Schritt tun, ohne meine Eltern davon zu unterrichten und meist begleiteten sie mich dann bei allen möglichen Aktivitäten. Spätestens als Teenager fand ich das ziemlich nervig.

Mir ist leicht flau im Magen, während ich meine Eltern beobachte. Ich habe sie nicht hergebeten und spüre einen deutlichen Widerwillen, dass sie in mein Territorium eindringen. Mein Haus ist so etwas wie mein Hort des Friedens, wo Panikattacken nichts zu suchen haben – auch wenn sich diese nicht immer an diese Regel halten. Aber alleine der Anblick von Ma und Da stresst mich schon und mir bricht der Schweiß aus. Verärgert drücke ich beide Hände auf den Magen.

„Verdammt, Lauren, es sind nur deine Eltern, die dir spontan einen Besuch abstatten wollen“, schimpfe ich laut mit mir selbst. Aber ich kann mich nicht wirklich beruhigen, denn mein Vater ist alles andere als spontan und wenn er meine Mutter hierher fährt, dann ist das kein Höflichkeitsbesuch, weil wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben.

Langsam mache ich mich auf den Weg nach unten. Jede Schnecke könnte mich überholen, so krieche ich dahin, denn ich verspüre keinen Drang die Türe zu öffnen. Dennoch tue ich es und setze sogar noch ein freundliches Lächeln auf. Ich nenne es gerne mein ‚Arbeitslächeln‘, denn als Lehrerin muss man stets gute Laune verbreiten. Für die Schüler, die Eltern, die Kollegen… Jeder erwartet irgendwie, dass man immer gut drauf ist, auch wenn das natürlich nicht der Fall ist.

„Wir dachten, wir kommen einfach mal bei dir vorbei, wenn du schon nicht zu uns kommst“, flötet Ma, während sie eine Begrüßung einfach mal weglässt und sich an mir vorbei ins Haus schiebt.

Mein Vater trabt ihr hinterher, bleibt aber bei mir stehen und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Sherlock ist währenddessen damit beschäftigt, meinen Buchsbaum zu markieren, wobei er beim Beinchen heben gefährlich schwankt. Mit dem Gleichgewicht hat er so seine Schwierigkeiten, aber das darf man wohl auch wenn man so alt ist wie Sherlock, der mit seinen zwölf Jahren schon als Großvater zu bezeichnen ist.

„Kann ich euch etwas anbieten?“, frage ich, aber Ma flattert bereits in ihrem Fledermausoberteil in die Küche.

„Ich mache das schon, Lauren. Ich weiß doch, wo bei dir alles steht.“

Resolut macht sie sich ans Werk, um einen Tee zu kochen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als resigniert zu seufzen, dann fange ich einen Blick von Da auf, der entschuldigend lächelt.

„Dann setzen wir uns eben schon mal ins Wohnzimmer“, beschließe ich mit einem weiteren aufgesetzten Lächeln, aber der Knoten im Magen wird immer größer, die Übelkeit ebenfalls.

„Du weißt, wie deine Mutter ist…“ Da zuckt die Achseln, lässt Sherlock von der Leine und folgt mir dann ins Wohnzimmer. Sein Blick schweift über die alte Einrichtung von Tante Mhairi, seine Züge werden weicher, entspannter, gleichzeitig beginnen die Augen zu glänzen.

„Es ist schön, dass du nichts verändert hast. Ich erinnere mich an so viele schöne Jahre, die ich hier verbracht habe. Zuerst als ich selbst noch ein Kind war und jeden Sommer nach Portobello zu Tante Mhairi geschickt wurde, damit sie während der Ferien auf mich aufpasst. Meine Eltern haben immer gearbeitet, für so etwas wie Urlaub hatten sie keine Zeit.“ Bei der Erinnerung legt er seine Stirn in tiefe Sorgenfalten, sodass er Sherlock ziemlich ähnlich sieht. Doch dann hellt sich seine Miene wieder auf. „Als ich Jean kennenlernte und bald klar war, dass wir heiraten wollen, habe ich ihr gleich gesagt, dass ich jeden Sommer mit ihr in Portobello verbringen möchte.“

„Und das haben wir ja dann auch getan, Da.“ Wir lassen uns beide auf die abgewohnte Couch sinken, die ich bereits kenne, seit ich denken kann. In nostalgische Gedanken versunken ignorieren wir völlig, dass sie unter unserem Gewicht ächzt. „Wir sind jeden Sommer hergekommen und Tante Mhairi hat sich jedes Mal gefreut, als hätten wir eine Weltreise auf uns genommen. Dabei sind wir nur die knapp 80 Meilen von Dumfries nach Edinburgh hochgefahren.“

„Deine Großtante war eine alte Frau, die niemals irgendwohin gereist ist. Sie lebte in diesem Haus seit ihrer Kindheit und ist, soweit ich weiß, niemals herumgekommen.“

Ich schlucke unwillkürlich, erinnert mich das irgendwie an mich. Auch ich verschwende in letzter Zeit keinen Gedanken mehr ans Reisen und die zweistündige Fahrt nach Dumfries wäre für mich eine Qual, während der ich vermutlich von einer Panikattacke in die nächste fliegen würde.

„Wollte Tante Mhairi nie weg oder konnte sie nicht?“, frage ich zögerlich.

Mein Vater legt den Kopf schief und sieht mich merkwürdig an, das Gesicht ein wenig sorgenvoll. In diesem Moment poltert Ma mit einem Tablett beladen ins Wohnzimmer, sodass mein Vater nicht mehr dazu kommt zu antworten.

„Kann mir das mal jemand abnehmen?“, fragt sie schwer schnaufend, als würde sie gerade Gewichte stemmen.

Sofort springe ich auf. Das Tablett ist, wie erwartet, nicht sonderlich schwer. Meine Mutter übertreibt gerne ein wenig, um immer die volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist vermutlich normal, wenn man mit sechs Geschwistern aufgewachsen ist. Da und ich finden ihr Verhalten manchmal sehr befremdlich, schließlich können wir das als Einzelkinder nicht nachvollziehen.

Als schließlich alle mit einer Tasse Tee dasitzen, versuche ich, meinen Eltern ins Gesicht zu sehen, doch sie starren beide wie gebannt in das dampfende Gebräu, als wollten sie mir ausweichen.

„Hast du heute gar keinen Nachmittagsunterricht?“, fragt Ma schließlich mäßig interessiert.

„Nein.“

Sonst wäre ich ja kaum hier, würde ich gerne ergänzen, beiße mir aber auf die Zunge.

„Schön.“ Sie nippt an ihrem Tee, verzieht das Gesicht, weil er noch zu heiß ist und stellt die Tasse auf dem Tisch ab. Dann fährt sie sich mit beiden Händen über das blondgefärbte Haar, das wie ein Helm an ihrem Kopf anliegt und dreht die Spitzen ein, als würden sie es jemals wagen, sich nach außen zu drehen. Es ist eine Angewohnheit von ihr, ständig ihr Äußeres zu kontrollieren, so wie sie alles um sich herum im Griff haben will. Dabei sieht sie immer gut aus; ein wenig wie Olivia Newton-John finde ich, allerdings ohne Botox und Schönheits-OPs.

„Was führt euch denn an einem Montagnachmittag zu mir?“, wage ich einen Vorstoß.

„Als wenn wir, deine Eltern, dich nicht einfach mal besuchen dürften.“ Beleidigt verzieht Ma das Gesicht.

Da starrt zu Boden und studiert eingehend das Muster des Perserteppichs, den er bestimmt schon tausend Mal gesehen hat.

„Was sagst du dazu, Allan?“, ereifert sich meine Mutter, ihre sonst so blassen Wangen färben sich sofort scharlachrot. „Da beschließt man spontan eine zweistündige Autofahrt auf sich zu nehmen, um sein einziges Kind zu besuchen, und dann wird man so empfangen.“ Theatralisch breitet sie die Hände aus, ihre weiten Ärmel flattern, sodass sie tatsächlich große Ähnlichkeit mit einer Fledermaus hat.

Der Knoten in meinem Magen wird immer größer, drückt nun sogar gegen meine Rippen und nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich stelle meine Tasse ein wenig zu heftig auf dem Couchtisch ab, damit ich die Hände frei habe. Schützend lege ich sie auf den schmerzenden Oberbauch.

„Jean, sie hat doch nur gefragt…“ Mein Vater blickt gequält auf.

„Ich weiß schon, was sie gefragt hat. Warum wir einfach hier auftauchen. Aber weißt du was, junge Dame…?“ Sie erhebt den Zeigefinger.

Ich hasse es, wenn sie ‚junge Dame‘ zu mir sagt, als wäre ich noch ein kleines Kind; als wüsste sie nicht, dass ich dieses Jahr bereits fünfunddreißig Jahre werde.

„Nun lass sie doch, Jean.“ Beschwichtigend legt Da eine Hand auf ihren Arm.

Selbst Sherlock eilt mir zu Hilfe und schmeißt sich an Mas Bein, den tieftraurigen Blick zu ihr erhoben. Vermutlich will er einfach nur einen Cookie erbetteln, aber irgendwie hat seine Aktion eine positive Wirkung, denn Ma seufzt tief und lässt die Hand sinken, um den Hund unterm Kinn zu kraulen. Dabei kann sie es aber nicht lassen, ihm zuzugurren, dass er der einzige in der Familie ist, der nett zu ihr ist. Ich presse die Lippen feste zusammen, damit meinem Mund nicht irgendetwas Boshaftes entfleucht.

Das Schweigen, das sich ausbreitet, hat etwas Unangenehmes. Es gibt zwei Kategorien von Schweigen. Mit Izzy kann ich schweigen und es fühlt sich kein bisschen komisch an, wir genießen es manchmal, nebeneinander zu sitzen und einfach nichts zu sagen. Ganz anders ist das mit meinen Eltern. Bei ihnen fühlt sich Schweigen immer schlecht an, wie eine stumme Anklage. Ma nippt verdrießlich an ihrem Earl Grey, Da betrachtet begehrlich die Cookies, traut sich aber nicht, davon zu nehmen, aus Angst, dass seine Cholesterin- und Blutzuckerwerte darunter leiden könnten, die bereits seit 20 Jahren von schwankender Qualität sind. Sein Arzt hat ihm zwar versichert, dass das kein Grund zur Besorgnis sei, aber Da glaubt nicht wirklich daran. Was ich sehr gut nachvollziehen kann.

„Es ist schön, dass ihr mich besucht“, bringe ich schließlich vor, auch wenn ich es nicht so meine. Die drückende Stimmung, die mit ihrer Ankunft hier eingezogen ist, muss ich danach irgendwie wieder loswerden. Izzy wird sicher irgendeinen Zauber kennen, mit dem man die Atmosphäre reinigt, sie glaubt an kosmische Schwingungen, Karma und ähnliches. Als wir noch zusammen in diesem Haus gewohnt haben, hat sie nach Partys immer Unmengen an Räucherstäbchen abgebrannt, um das Haus wieder zu ‚entgiften‘. Vielleicht habe ich ja noch ein paar von diesen Dingern von ihren früheren Duftorgien.

„Tatsächlich?“, fragt Ma spitz und dreht ihre Teetasse versonnen in den Händen hin und her. Sie fixiert irgendeinen Punkt im Raum, um mich nicht ansehen zu müssen. „Liz hat uns gestern besucht. Sie freut sich, wenn sie uns sieht.“

„Ach…“ Mehr fällt mir dazu nicht ein.

„Du erinnerst dich an deine Cousine Liz?“

„Natürlich erinnere ich mich, Ma. Liz war früher oft bei uns auf Besuch, weil du immer wolltest, dass wir uns anfreunden.“

„Was du nie getan hast.“ Mas Blick schwenkt zu mir, aber nur, um mich anklagend anzusehen.

„Sie ist fünf Jahre älter als ich, wir hatten nicht besonders viel gemeinsam.“

Ich erinnere mich an Liz sehr gut. Sie sieht aus wie eine Kopie meiner Ma und ich kam mir neben ihr immer ziemlich unscheinbar vor, was zu einem guten Verhältnis zwischen uns sicherlich nicht beigetragen hat.

„Ich mochte Liz immer ausgesprochen gerne“, betont Ma unnötigerweise. Das weiß ich schon. Liz war die Tochter, die sie gerne gehabt hätte. Stattdessen hat sie mich.

„Wie geht es ihr?“, frage ich, denn ich merke, wie sich die Erinnerungen daran, wie Ma lieber mit Liz als mit mir ins Einkaufszentrum ging, unliebsam ins Gedächtnis drängen und das möchte ich auf keinen Fall. „Lebt sie jetzt nicht in England?“

„Bereits seit etlichen Jahren.“ Wieder klingt Mas Stimme anklagend; als müsse ich das doch wissen. Aber ehrlich gesagt, bin ich froh, dass wir uns aus den Augen verloren haben, als ich nach der Schule zum Studium nach Edinburgh ging. „Sie ist dort mit einem Zahnarzt verheiratet.“

„Stimmt. Bert soundso“, rate ich, während ich mein Gehirn nach Infos durchforste.

„Brian“, korrigiert Da schnell, bevor meine Mutter wieder beleidigt gucken kann. „Dr. Brian Bothwell.“

Ich erinnere mich vage an die Hochzeit. Er war mir nicht sonderlich sympathisch, dieser tolle Fang, den meine Cousine laut meiner Ma gemacht hat. Einen Zahnarzt zu heiraten scheint in ihrer Welt der Gipfel des Olymp zu sein. Den ich natürlich noch nicht erklommen habe – und aller Wahrscheinlichkeit auch nie erreichen werde, selbst wenn irgendwann eine Beziehung wieder denkbar wird.

„Hm… Ja… Also, wegen Liz…“ Es ist einer der wenigen Momente, in denen meine Mutter um Worte verlegen ist. Das ist so ungewöhnlich, dass mein Körper vergisst, Angst zu haben. Der Druck auf meine Magen lässt minimal nach.

„Weißt du noch, dass Liz eine Tochter hat?“, fragt sie schließlich bemüht beiläufig.

„Ja, ich kann mich erinnern, dass sie mit ihrer Familie auf der Party zu deinem fünfzigsten Geburtstag war.“

„Ach Gott, das ist ja schon fast zehn Jahre her!“, ruft Ma aus, als könne sie nicht glauben, dass die Zeit tatsächlich auch vor ihr nicht Halt macht. „Was mich dazu bringt, dass du noch nicht zugesagt hast, ob du im August zu meinem Geburtstag kommst. Naja, vermutlich hast du gedacht, dass du als meine Tochter nicht explizit auf die Einladung antworten musst. Natürlich kommst du! Aber ich schweife irgendwie vom Thema ab… Wo waren wir? Ach ja, mein fünfzigster Geburtstag… Nun, damals war Charlotte noch ein süßes, kleines Mädchen.“

Mich interessiert Charlotte nicht weiter, meine Gedanken beginnen schon um Mas Party zum Sechzigsten zu kreisen, die in wenigen Wochen stattfinden wird. Ich habe nicht zugesagt, weil ich immer noch überlege, wie ich mich davor drücken kann. Mein Mund wird trocken, wenn ich nur an die Reise dorthin denke, deswegen wende ich meine Aufmerksamkeit lieber Sherlock zu. Ich klopfe mit der Hand auf den freien Platz neben mir auf der Couch, damit er zu mir kommt und ich ihn besser streicheln kann. Es hat etwas ungeheuer Beruhigendes an sich, einen Hund an seiner Seite zu haben und vielleicht sollte ich mir einen zulegen. Aber den Gedanken verwerfe ich schnell wieder. Ein Hund braucht seine regelmäßigen Spaziergänge, was ich aufgrund der Angst nicht gewährleisten kann.

Suchen Sie sich eine Aktivität außer Haus, höre ich Dr. Walker sagen. Er fände die Sache mit dem Hund bestimmt total super. Trotzdem tut mir das Tier einfach zu sehr leid, denn ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das mit den Spaziergängen hinbekomme. Aber für jetzt ist es irgendwie schön, als sich der warme Körper an mich drängt und ich die seidigen Ohren streicheln kann.

„Lauren? Kannst du dich jetzt mal auf mich konzentrieren? Nur dieses eine Mal?“

Dieses eine Mal? Mit viel Mühe kann ich ein ironisches Schnauben unterdrücken. Vor allem, da mein Vater mich so eindringlich ansieht.

„Lauren, das ist jetzt wirklich wichtig“, sagt er dann auch. „Deine Cousine ist in echten Schwierigkeiten und deine Mutter meint…“

„Du musst zugeben, dass die Lösung naheliegend ist, Allan“, sagt Ma im Brustton der Überzeugung.

Und ich verstehe jetzt wirklich nur noch Bahnhof.

„Von was redet ihr eigentlich?“ Mein Zeigefinger kreist nervös um Sherlocks riesige Schlappohren.

„Liz‘ Tochter, Charlotte, hat ein paar Probleme in der Schule. Nun ja, um ehrlich zu sein, bekam sie einen Schulverweis und muss nun wechseln. Liz und ihr Mann sind völlig überfordert mit der Situation. Deswegen hat deine Cousine mit mir gesprochen und mich um Rat gefragt und ich dachte, wenn jemand ihr helfen kann, dann bist das du.“

„Ähm…“ Etwas verlegen knabbere ich an meiner Unterlippe, dann zucke ich die Achseln. „Natürlich versuche ich Liz so gut es geht zu helfen. Sie kann mich gerne anrufen.“

Da räuspert sich umständlich, was mir vermutlich eine Warnung sein soll. Allerdings ahne ich nicht im Entferntesten, was da auf mich zukommt.

„Ich dachte eigentlich, dass deine Hilfe über ein Telefonat hinausgeht.“ Jetzt tut Ma wieder so seltsam verlegen, räuspert sich ebenfalls und verstummt dann.

„Herrgott, dann sag doch einfach, was ich tun soll“, entfährt es mir ungehalten. Ich werde ganz sicher nicht nach England fahren, um meiner ach-so-tollen Cousine vor Ort Erziehungstipps bezüglich pubertierender Teenager zu geben. Wenn ich es nicht mal zu Izzy nach North Berwick schaffe – und da möchte ich wirklich gerne hinfahren -, dann ist alles hinter Schottlands Grenze so gut wie unerreichbar.

„Ich denke, es ist das Beste, wenn Charlotte ihr Umfeld wechselt. Manchmal bewirkt das ja Wunder, so wie bei Die strengsten Eltern der Welt.“

Meine Mutter lächelt triumphierend, so als wäre das Leben tatsächlich eine dieser Reality-TV-Shows, die sie so gerne sieht. Was sie sagt, sickert nur langsam in mein Gehirn, das plötzlich wie gelähmt ist. Dafür verstärkt sich parallel dazu der Druck auf meinen Magen und mein Herz beginnt zu rasen.

„Deswegen dachte ich, dass es sicher das Beste ist, wenn Charlotte erstmal zu dir zieht. Du kennst dich mit Kindern in dem Alter aus und sie kann auf deine Schule gehen. Es ist sicher gut, wenn du den ganzen Tag ein Auge auf sie hast. Sie ist ein wenig… nun, sagen wir, sie ist ein wenig schwierig. Eine Schulschwänzerin.“

Das letzte Wort flüstert sie hinter vorgehaltener Hand hervor. Es ist zum Schießen, wie sie dabei die Augen aufreißt, um die Dramatik zu verstärken, aber mir ist irgendwie gerade nicht nach Lachen. Eine Panikattacke rollt unweigerlich auf mich zu.

„Lauren?“

Ich sehe, wie mich meine Eltern erwartungsvoll ansehen. Gut, Da sieht ein wenig skeptisch aus und zwirbelt nervös an seinem rot-graumelierten Schnauzbart herum, aber Mum ist eindeutig voller Hoffnung, dass ich ihre Idee genauso logisch finde, wie sie selbst. Meine Zungenspitze fährt nervös über meine trockenen Lippen, der Mund fühlt sich wie ausgedörrt an.

„LAUREN?“, versucht es meine Mutter nun etwas lauter.

„Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist“, krächze ich und schüttele den Kopf. Mein Magen tut so unendlich weh, Übelkeit steigt in mir auf.

„Natürlich ist es das. Es ist ja nicht für immer. Nur, bis sich Charlotte wieder gefangen hat.“

„Vielleicht überfordert das Lauren ein wenig“, wirft mein Vater zögerlich ein. „Schließlich hat sie selbst keine Kinder und…“

„Sie arbeitet jeden Tag mit Mädchen und Jungen in demselben Alter wie Charlotte. Warum sollte sie sich nicht auskennen?“

Eigentlich sollte ich mich freuen, dass Ma mir so viel zutraut. Das tut sie sonst eigentlich nicht. Aber irgendwie kann ich sie nur anstarren, als wäre sie ein Alien, und nicht die Frau, die mich großgezogen hat. Ich meine, ich kenne Mas seltsame Einfälle, aber das ist der mit Abstand schlimmste, den sie jemals hatte.

„Ihr entschuldigt mich“, murmele ich, die Hand immer noch auf meinen Magen gepresst und stehe abrupt auf. Um mich dreht sich alles.

Ich muss hier weg.

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