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Charlotte

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Auf leisen Sohlen schleiche ich mich an der Wand entlang durch den Korridor des Schulgebäudes. Dabei komme ich mir fast vor wie irgendein Cop aus einem Actionreißer. Tendenziell Filme, die mich weniger interessieren, aber Mum will nicht, dass ich sie mir ansehe, was mich dann irgendwie immer dazu reizt es doch zu tun.

Als ich mich gerade auf die Mädchentoilette im Erdgeschoss verdrücken will, höre ich Schritte und beeile mich dermaßen, dass mein Rucksack von Eastpak lautstark gegen einen Türrahmen schwingt. Entsetzt beobachte ich, wie mein Smartphone über den Linoleumboden schlittert, während ich hoffe, dass die schwarze Hülle mit der weißen Aufschrift ‚Don’t touch my phone‘, jegliche Erschütterung abgefangen hat. Schnell haste ich dem Telefon hinterher, das vor einem Paar dunkler Lederschuhe zum Stehen kommt.

„Solltest du nicht im Unterricht sein, Charlotte Bothwell?“ Mr. Cummins, mein Erdkundelehrer, sieht mich streng an, wobei ich versuche, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen.

Eigentlich ist es mir auch völlig egal, was er jetzt denkt oder ob mein Fluchtversuch aufgedeckt wird und es irgendwelche Konsequenzen gibt. Es wäre nicht das erste Mal. Möglichst lässig ziehe ich einen Kaugummi von Wrigleys aus meiner Hosentasche, packe ihn aus und stecke ihn provokant in den Mund, dann zucke ich mit den Achseln.

„Sollte ich vielleicht.“

„Kannst du mir dann erklären, warum du hier bist und nicht in deinem Klassenzimmer?“ Sein ohnehin schon faltiges Gesicht zerfurcht sich noch mehr und beim Anblick seiner braunen Augen unter den schweren Lidern, kommt mir der Vergleich mit einem Basset in den Sinn.

Meine Großtante Jean hat einen – Sherlock. Sherlock ist der wohl dümmste Hund, den ich je in meinem Leben gesehen habe, was den Namen irgendwie grotesk macht, aber er würde fantastisch zu Mr. Cummins passen.

„Mir war nicht danach in den Unterricht zu gehen.“

Falls irgendwie möglich vertiefen sich seine Falten noch, wobei sein Blick langsam richtig ärgerlich wird.

„Und wonach war dir dann, Fräulein?“

Diese Anrede wiederum bringt mich richtig auf die Palme. Ich hasse es wenn jemand ‚Fräulein‘ auf diese herablassende Art sagt, noch schlimmer ist eigentlich nur ‚kleines Fräulein‘.

„Eigentlich wollte ich von hier verschwinden.“ Die patzige Antwort ist draußen, ehe ich mich noch zurückhalten kann.

„Das dachte ich mir fast.“

„Na, Sie sind ja ein ganz Schlauer…“

Ich kann förmlich sehen, wie Mr. Cummins anfängt kleine Rauchwölkchen aus den Nasenlöchern zu blasen, die schließlich zu einem ordentlichen Feuerstoß werden.

„SOFORT INS BÜRO DES DIREKTORS!“, faucht er mich an, was irgendwie dem Begriff ‚Bluthund‘ eine ganz andere Bedeutung gibt.

Ziemlich willenlos lasse ich mich am Arm packen und mitschleifen. Seine Finger graben sich unangenehm in die weiche Haut am Oberarm.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich ins Büro des Direktors muss, sodass ich den Weg fast im Schlaf finden würde. Genaugenommen ist es bereits das dritte Mal in diesem Monat, denn der Drang mitten am Tag einfach aus der Schule abzuhauen ist so übermächtig, dass ich ihm manchmal nicht widerstehen kann.

Auf den Korridoren ist niemand, da alle anderen im Unterricht sitzen, und so bleibt es mir wenigstens erspart, angestarrt zu werden, als wäre ich ein wildes Tier, das gerade gezähmt wird. Manchmal fühle ich mich auch so, aber das kann ich niemandem erklären. Ich wüsste auch nicht wie… In mir drin ist etwas, das mich zwingt abzuhauen, das frei sein möchte, das keinerlei Angst vor den Konsequenzen hat, wobei ich genug Erfahrung habe, um zu wissen, dass es welche geben wird. Es ist mir nur völlig gleichgültig, was mit mir passiert.

Der durch den Kaugummi süßliche Speichel rinnt meinen Hals hinunter. Ich verschlucke mich fast daran, als Mr. Cummins die Tür zum Sekretariat öffnet, um mich unsanft hineinzustoßen. Die Sekretärin empfängt mich mit dem genervten Blick, den sie auch schon die letzten zwei Male drauf hatte. Der ‚Du schon wieder‘-Blick.

Möglichst lässig lasse ich mich auf den Plastikklappstuhl fallen, der an der Wand vor ihrem Tresen steht. Was jetzt kommt, kenne ich schon zu Genüge. Ermahnungen, ein Brief an die Eltern, irgendeine harmlose Strafe wie Nachsitzen… Das Spiel beginnt mich zu langweilen.

Fassungslos hält mein Vater den Brief in den Händen, den die Schule mir mitgegeben hat.

Ich habe überlegt, ihn verschwinden zu lassen, aber das hätte keinen Sinn. Ich muss ihn schließlich unterschrieben wieder abgeben. Natürlich kann ich die Unterschrift meiner Eltern schon auswendig, aber in diesem ganz speziellen Fall hat man mir mitgeteilt, dass der gleiche Brief noch einmal per Post an meine Eltern rausgehen wird. Den ganzen Tag auf den Postboten warten, um den Brief abzufangen, könnte ich zwar; nachdem ich plötzlich so viel Freizeit habe, aber irgendwie will ich das gar nicht.

„Was hast du dir dabei gedacht?“ Der Brief in seiner Hand bebt vor Zorn.

„Ich hatte keine Lust.“

„Wie die letzten Male auch?“

Ich weiß, dass er nicht nur die zwei Male diesen Monat meint. Er meint die vielen anderen Male, die ich erwischt wurde. Er weiß nichts von den Gelegenheiten, da mich niemand bemerkt hat:

„Die Schule langweilt mich.“ Ich zucke gleichgültig die Achseln, versuche, mich besonders cool zu geben.

„Aber deswegen kannst du nicht einfach abhauen, wann immer du willst!“ Die Stimme meiner Mum ist schrill und tut mir in den Ohren weh.

„Wieso nicht?“, gebe ich mit herausforderndem Blick zurück. „Würdest du einen Job machen, der dich langweilt?“

Sie und mein Dad haben einen etwas verwirrten Ausdruck in den Augen, der mich zum Schmunzeln bringt. Ich weiß, dass meine Situation gerade nicht lustig ist, aber ich kann nicht anders. Ich habe sie einfach auf dem falschen Fuß erwischt. Wie so oft… Meine Mum geht gar nicht arbeiten, weil sie nämlich angeblich nichts findet, ‚was zu ihrem Potenzial passt‘.

„Geh in dein Zimmer, Charlotte!“

Das sagt mein Dad immer, wenn er nicht mehr weiter weiß. Dann wendet er sich mit einem Ausdruck abgrundtiefer Enttäuschung von mir ab, geht zum Kamin und starrt hinein, obwohl gar kein Feuer darin brennt. Es ist Sommer und viel zu heiß für einen Abend am Kamin.

Meine Mum misst mich von oben bis unten, dann tritt sie zu ihm. Vermutlich, um mal wieder mit ihm zu streiten.

Ich ziehe mich tiefer in die Falten meines schwarzen Hoodies zurück, während ich mich langsam davonmache. Die Treppen hinaufschreitend, lausche ich ihren Stimmen.

„Diesmal ist sie zu weit gegangen“, stößt mein Vater hervor, durch das Treppengeländer sehe ich, wie er sich durch das schwarze Haar fährt, das ich von ihm geerbt habe. Nur dass er nicht mehr ganz so viel davon auf dem Kopf hat.

„Ich weiß mir keinen Rat mehr, Brian. Wir haben doch schon so oft mit ihr gesprochen und alles was sie sagt, ist, dass die Schule sie langweilt.“

„Vielleicht wäre sie in einem Internat doch besser aufgehoben. Du weißt schon, wegen allem…“

Mein Herz beginnt aufgeregt zu flattern. Es ist nicht das erste Mal, dass sich meine Eltern darüber unterhalten, mich einfach abzuschieben. Doch ich muss mir eigentlich keine Sorgen machen, denn das können sie sich sowieso nicht leisten.

„Das ist keine Option, Brian, wie du sehr wohl weißt“, sagt meine Mum dann auch.

Ich atme erleichtert aus.

Ich habe keine Ahnung, warum ich nicht auf ein Internat will, denn hier zu Hause ist es auch unerträglich. In der Schule habe ich das Gefühl, dass ich ersticke. Ich bin nicht dumm. Ich sehe, dass es meinen Mitschülern nicht so geht. Also stimmt irgendwas nicht mit mir, das ist schon klar. Ich bezweifle aber, dass der Besuch eines Internats mir eine befriedigende Antwort geben wird.

„Herrgott, Liz! Dann bleibt uns nur noch eine Institution für schwererziehbare Kinder.“ Mit einem Ruck dreht sich Dad um, das Gesicht unendlich traurig, der Blick dennoch hart. Und ich weiß in dem Moment, es ist sein Ernst.

Plötzlich höre ich das Blut in meinen Ohren rauschen.

„Nein.“ Mums Stimme bettelt förmlich und das tut sie sonst nie bei Dad. „Ich könnte nochmal mit ihrem Klassenlehrer reden.“

Fast bin ich gewillt, hinunter zu laufen und ihnen zu sagen, dass ich mich bessern werde. Meine Füße wollen nur nicht gehorchen, denn ich weiß ganz genau, dass ich nichts versprechen kann, was ich am Ende nicht halte.

„Ich kann nicht mehr, Liz!“, schreit mein Vater sie jetzt an. „Ein Schulverweis! Weißt du, was das heißt? Nicht, dass sie Nachsitzen muss, oder mal für ein, zwei Wochen nicht kommen darf. Das heißt, dass wir uns sowieso eine scheißneue Schule suchen müssen, auf die Madame Mir-ist-so-langweilig sowieso nicht geht. Sollten wir uns da nicht langsam professionelle Hilfe suchen?“

„Das sollten wir. Das sollten wir wirklich…“ Sie spricht mit tränenerstickter Stimme. Gleich fängt sie richtig zu weinen an und Dad wird sie anschreien, dass ihr Rumgeheule auch nichts bringt. Idyllisches Familienleben eben. Ich mag es nicht, wenn sie sich meinetwegen streiten, aber das ist besser, als die Gleichgültigkeit, mit der sie sich sonst begegnen.

„Dann lass es mich endlich tun. Lass mich einen Platz für sie suchen.“

Ich setze mich auf die Treppenstufe, weil mich meine Beine nicht mehr tragen wollen. Sie fühlen sich an wie das Johannisbeergelee von Hartleys.

Ein wenig ist es wie mit einem unartigen Welpen, den seine Familie nicht mehr will, weil er einmal zu viel auf den teuren Perserteppich gepinkelt hat. Aber statt selbst in eine Hundeschule mit ihm zu gehen, wird er einfach ins Tierheim abgeschoben, wo sich ein anderer mit seinen Marotten herumschlagen kann.

„Ich werde mir etwas überlegen, Brian“, sagt Mum weinerlich.

Fast hoffe ich, dass sie irgendeinen Weg findet, herauszubekommen, warum ich so bin, wie ich bin. Ich weiß es ja selbst nicht. Aber ich bezweifle, dass sie sich viel Mühe geben wird. So ist das eben nicht zwischen Mum und mir.

„Dann heul hier nicht rum, sondern unternimm etwas“, knurrt Dad, dann stapft er wütend in sein Arbeitszimmer und knallt die Tür hinter sich zu.

Herzstolpern

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