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Blatt 30: Radius Lehr hatte die westliche Richtung eingeschlagen

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Das Lindenbankhaus – Ihre Andere Bank

Auszug 35 159 23 5, Blatt 30

Aktueller Kontostand: ein ßilberling, ein Ende

RLG Radius Lehr hatte die westliche Richtung eingeschlagen. Ohne dass es ihm selbst so richtig bewusst wurde. Und die Gegend, in die er geraten war, erschien ihm fremder und fremder, umso mehr er sich der Westgrenze unserer Stadt näherte. Ja, war dem zweifelsohne nicht so? Der Krach, der ihn nun umgab, war unerträglich, schlichtweg, ein einziges Getöse und Gebrause von knallenden und donnernden Lastwagen und PKWs, einer nach dem anderen, wie auf einer nie endenden Perlenkette, sechsspurig war kein Ausdruck, nein, beileibe nicht, hin und her, her und hin. Bei allem dämmerte es in ihm dennoch, ja, es kam ihm so vor, als ob er doch schon mal hier gewesen wäre. Vor vielen, vielen Jahren, und es war ihm so, als ob es Wehmut war, Wehmut und Erinnerungen an längst Vergangenes. Unter Aufbringung all seines Wagemuts gelang es Radius Lehr tatsächlich, die sechs Spuren zu überschreiten, wo ein paar Schritte weiter ein paar wenige der uralten Schrebergärten nicht irgendwelchen kommunalpolitischen Modernisierungswahn zum Opfer gefallen waren, ja, ganz offenkundig war dem so, und obwohl der Duft der Süßgräser gegen den Gestank der Abgase kaum eine Chance mehr hatte, zeugten die Restbestände davon, wie schön es hier doch einmal gewesen war. Zusätzlich beglückt wurde Radius zudem, als er den uralten Trampelpfad entdeckte. Auch dieser gehörte also zu dem Wenigen, was belassen wurde, mit jedem weiteren Schritt wurden die Knie butterweicher und butterweicher, und es schmerzte in den Augenlidern und unter dem Gaumen, als er tatsächlich ihren uralten Verschlag erreichte. Ja, und war ihm nicht so, als ob am Zaun noch immer an der gleichen Stelle die Planken fehlten? Haargenau, aus einer der muffeligen Matratze, die er damals nicht nur mit Wallie teilte, kroch eine kleine Maus. Was nur aus ihr geworden war, und aus dem Jecki, und aus dem Loko, und wie sie alle geheißen hatten, mit dem Fuß erwischte er eine hoffnungslos verstaubte Bierflasche, die darauf gegen einen uralten Rekorder kullerte, nach einem eher ins Zögerliche neigendes Einschalten ertönte „Wooden Heart“. Nach ein paar Takten stockte die Musik, beim Entnehmen riss das Band. Hinter den Restbeständen der Schrebergartenanlage grenzte ein Waldstück, so dass nun durch die uralte Stille im Schuppen sogar das Rascheln von Bäumen zu vernehmen war, das Zwitschern der Vögel, und bei noch genauerem Hinhören das zischende Rauschen eines Flusses.

Nach einem Marsch der flockigen Art und Weise durch den Wald wurde ihm noch schummriger zumute, Schritt für Schritt, bis er sich der sogenannten goldenen Brunnenquelle näherte, die bis zu jenem Fluss plätscherte, wo er sich als Kind einst so wohlgefühlt hatte. Endlich den Schotterweg erreicht, ja, alles erschien wie unverändert, irgendwie, selbst die Spaziergänger, die ihn passierten, die Radfahrer nicht zu vergessen, vereinzelt freilich, von den Hundeführern ganz zu schweigen, ja, selbst sie schienen immer noch dieselben zu sein. Und das Rascheln der Bäume war ihm natürlich genauso vertraut wie damals, das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des guten, alten Flusses, doch von welchen warmen und kalten Schauern wurde er erfasst, als es nach all den Jahren erstmals wieder bis in die Ohren knarrte? Radius Lehr begann nun zu laufen, was das Zeug hielt, kaum mehr wollte er den feuchten Augen trauen: der uralte Holzsteg, ja, auch der war noch. Haargenau wie früher, mit zitternden Knien betrat er ihn, und mit Verzückung erspähte er die kleine Hütte am anderen Ufer wieder, dazu sorgten ein paar Leute an den Feuerplätzen für Belebung. Beziehungsweise Bewegung, mit letzten Kräften klammerte er sich am Steg fest, beinahe wäre er auch noch umgelaufen worden. Es war ein von hinten heran geeilter Judoka.

Joggender Judoka Sie – stehen Sie gefälligst nicht im Weg herum!

RLG Voller Glück beschaute Radius Lehr die uralte Holzbank, und als er sich schließlich hingesetzt hatte, streckte er alle vier von sich. Ja, ja, die Bäume, natürlich, die Vögel nicht zu vergessen, selbstverständlich, vom guten, alten Fluss zu schweigen, was sonst denn auch? Eine kühle Böe erfasste ihn unter dem Nasenflügel, nein, schließlich wäre es seines, in all den Jahren, na, dann eben nicht du blöder Kerl, eine fette Amsel hopste vor der Bank herum. Das Gebüsch hinter ihm, wie war sie noch? Das Lockenköpfchen? Hinter der Plexiglasscheibe? Geschmackvolle Kostüme? Eine Dame, von Monat zu Monat, tausende von Ziegelsteinen für irgendeinen dämlichen Turm, Stück für Stück, und wäre der am Ende wirklich von irgendeinem Nutzen? Verehrer hatte sie, wie viele schon einen Korb erhalten hatten. Nur ihm zuliebe, wie viele gemeinsame Jahre, die sie schon gehabt haben könnten. Einfach nur heiraten, wenn man denn nur gewollt hätte. Ja, und gehörten sie schließlich nicht zusammen, irgendwie, Radius Lehr und das Lockenköpfchen, irgendwie, ein kleiner Junge am Ufer schrie auf, vielleicht fünfjährig, ein Zeigefinger in die Höhe gehalten.

Fünfjähriger Papa, Papa!

RLG Ach, Papa, wo du nur bleibst? Auf der anderen Seite, ach ja, und der gute alte Ratskeller, ach ja.

Fünfjähriger Papa, Mama!

RLG Ach, Mama, wo bleibst du nur, und war heute nicht eigentlich der Tag, an dem der Aprikosen – und Pfirsichmarkt gehalten wurde? Irgendwo in der Stadt?

Fünfjähriger Mama, Mama!

RLG Eine blutjunge Frau bretterte über den Steg, streichelte übers Haar, liebkost wurde, und nicht zuletzt die Wunde am Fingerlein mit einer knallweißen Flatterserviette umwickelt.

Mutter des Fünfjährigen Kommst du dann auch gleich? Papa packt extra schon den leckeren Schafskäse aus dem Korb.

RLG Wieder alles gut, als der kleine Junge beinahe schon wie aus einem heiteren Nichts vor der Bank stand. Mit einer blauen Plastikhacke - in der unversehrten Hand.

Fünfjähriger Du weinst ja.

Radius Lehr Äh, ich, äh - nein ich doch nicht. Mir ist nur etwas ins Auge geflogen.

RLG Mit dem Ellenbogen wurde trockengewischt, was es trocken zu wischen gab.

Fünfjähriger Du willst es ja bloß nicht zugeben.

Radius Lehr Ach nein.

Fünfjähriger Nie wollen Erwachsene was zugeben.

RLG Von drüben riefen die Eltern, war der Käse wohl jetzt endlich ausgepackt? Der Fünfjährige lief über den Steg, und ganz bestimmt hatten sie noch mehr für ihn übrig! Im Picknickkorb wohlgemerkt. Noch mehr außer Schafskäse.

Neuer Kontostand: ein ßilberling, ein Ende

Hugo Bauklotz - Ein Zaun

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