Читать книгу PURPURUMHANG - Tartana Baqué - Страница 8

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„Und ich werde jetzt von 10 rückwärts bis 1 zählen. Mit jeder Zahl, die ich zähle, spürst du, wie Energie und Kraft durch deinen Körper fließen. Du wirst wacher und wacher. Alles, was dein Unterbewusstsein nicht erinnern möchte, wirst du vergessen. Voller Zuversicht wirst du diese Woche all die Dinge verwirklichen, so wie du es dir vorgestellt hast.“

Ich beobachte, wie Evas Brust sich langsam hebt und senkt und fahre weiter fort: „Wenn ich die Zahl 1 sage, dann öffnest du deine Augen und fühlst dich frisch und klar, als hättest du einen tiefen Schlaf getan, aus dem du nun erwachst.“

Eva atmet ein. Und ich spreche weiter: „Und jetzt beginne ich zu zählen: 10…9…8…7…6…“, nun hebe ich meine Stimme „5…4…3…2…“, und sage laut: „1.“

Langsam öffnet sie ihre Augen.

„Bleib noch liegen. Komm‘ erst zu dir.“

Eva streckt sich und schaut mich an. „Wie lange habe ich geschlafen?“

Ich blicke auf meine Uhr. „Fünfundzwanzig Minuten. Und, wie fühlst du dich?“

„Noch benommen.“ Sie stellt ein Bein nach dem anderen auf den Boden und setzt sich aufrecht hin. „Das war irre. Ich fühle mich zwar komisch, aber irgendwie befreiter.“

„So soll die Hypnose wirken.“ Ich nehme ein Übungsblatt vom Schreibtisch und gebe es ihr.

„Übe dein Ich-Stabilisierendes Selbstsicherheits- und Entspannungs-Training zu Hause. Mit der heutigen Hypnose habe ich das I.S.T. mental verstärkt. Du wirst dich ab sofort besser konzentrieren können. Auch kannst du jetzt intensiver lernen und alles Gelernte behalten.“

„Danke.“ Eva nimmt das Blatt und legt es in ihren Schnellhefter. „Steht unser nächster Termin?“

„Klar, wie immer sehen wir uns nächste Woche.“

Ich erhebe mich vom Schreibtischsessel und begleite sie zum Praxisausgang. An der Eingangstüre bleibt Eva stehen.

„Lass dich umarmen“, sage ich, weil ich weiß, dass sie darauf wartet.

Viele meiner Jugendlichen wollen umarmt werden. Ich habe das Gefühl, als ob es in den Familien weniger Körperkontakt gibt und die Jugendlichen darum meine Nähe brauchen. Dabei ist es wissenschaftlich bewiesen, dass Körperkontakt für Menschen lebenswichtig ist.

Zu Beginn unserer Therapie reagierte Eva stocksteif auf meine vorsichtigen Berührungen an ihrem Arm. Heute geht sie erst aus der Praxis, wenn ich sie umarmt habe.

„Ich bin mir sicher, dass du deine Prüfung am Montag schaffen wirst“, sage ich.

Für einen Moment spüre ich, wie sie sich an mich lehnt. Ich halte sie fest.

„Du kannst das“, flüstere ich ihr ins Ohr.

„Danke, Frau Bergheimer. Ich schreibe Ihnen eine WhatsApp, wie die Prüfung gelaufen ist.“

„Mach das. Wir sehen uns dann nächste Woche Freitag, um die gleiche Zeit.“

Die Praxistür fällt ins Schloss. Feierabend.

Ich falte die Decke auf dem Sofa zusammen. Drapiere die Kissen wie gewöhnlich; die zwei weißen Kissen kommen nach außen und die beiden gelben nach innen.

Es ist ein warmer Frühlingstag, und die Sonne erhellt meinen Praxisraum. Ich stecke meinen Kuli zu den anderen, die sich auf meinem Schreibtisch in dem schwarzen Becher angesammelt haben. Evas Akte verstaue ich im Sicherheitsschrank und schließe ihn ab. Ich drücke den Schalter, und die Rollos an beiden Praxisfenstern fahren herunter. Den Computer und den Drucker in meinem Büro schalte ich aus. Wie üblich ziehe ich die Stecker, weil die Geräte auch im Standby Strom verbrauchen. Mein Sohn Georg nervte mich früher damit. Und jetzt, wo er nicht mehr zu Hause wohnt, befolge ich brav seine Anweisungen und schalte alle elektronischen Geräte aus.

Ich bin froh, dass ich Peter überreden konnte, die Einliegerwohnung für meine Praxis zu nutzen. Wir bauten sie für Georg damals an. Aber nach seinem Abitur entschied er sich, in Berlin Medizin zu studieren. Vielleicht übernimmt er die internistische Praxis von seinem Vater. Es versetzte mir einen Stich, als Georg von seinen Zukunftsplänen erzählte. Ich dachte immer, dass er Psychotherapeut werden würde, denn er hatte mir als Sechzehnjähriger begeistert bei den Testauswertungen geholfen.

Über den Flur nehme ich den privaten Ausgang, um in unsere Wohnung zu gelangen. Angenehm kühl ist es in der Villa. Sie entstand in den Dreißigerjahren. Peter und ich sind stolz auf unsere Bauhausvilla, die wir vor zwanzig Jahren in Köln-Marienburg erworben haben.

Während in der Mikrowelle meine Lasagne vor sich hin brutzelt, überprüfe ich meine Handtasche: Autoschlüssel, Fahrzeugpapiere, Visakarten, Portemonnaie und Haustürschlüssel. Den kleinen Reisekoffer habe ich schon gestern Abend gepackt.

Mein rechtes Augenlid zuckt leicht. Ein Zeichen, dass ich angespannt bin. Nur nicht nervös werden. Ich brauche meine Konzentration.

Ende Mai, und ich will das Wochenende nutzen, um meine finanziellen Sorgen loszuwerden. Endlich werde ich Peter beweisen, dass ich eine brillante Taktikerin bin, die genau weiß, was sie tut. Wie oft hat er mir vorgeworfen, dass ich unser Geld verspiele.

Ich muss lächeln bei der Vorstellung, wie ich ihm meinen Gewinn auf den Tisch blättern werde. Ich weiß genau, wie ich diesmal vorgehen muss. Akribisch habe ich wochenlang die sechsunddreißig Roulette-Zahlen in meiner Kladde notiert. Jeweils zwölf Zahlen unter der Nummer 1, der Nummer 2 und der Nummer 3. Jede Reihe bildet eine Kolonne. Während meines Psychologiestudiums hatte ich vier Semester Statistik belegt und mich intensiv mit der Wahrscheinlichkeitstheorie beschäftigt. Ich bin mir absolut sicher, dass ich alles richtig berechnet habe.

Mein Handy klingelt.

„Hallo Lisa.“

„Hallo Julia, wie geht‘s? Alles gepackt?“

„Ja. Ich esse noch schnell einen Happen, und dann fahre ich los. Schade, dass du nicht mitkommst.“

„Finde ich auch. Aber meiner Mutter geht es immer noch nicht so gut.“

„Sag ihr gute Besserung von mir. Vielleicht fährst du das nächste Mal nach Bad Neuenahr mit. Ich würde mich freuen.“

„Ich denke auch, dass es dann klappen wird.“

„Du fehlst mir, Lisa. Wirklich. Mit niemandem habe ich so viel Spaß wie mit dir.“

„Geht mir genauso. Genieße jetzt dein Wochenende. Geh in die Sauna, und lass dich verwöhnen. Du kannst dringend etwas Entspannung gebrauchen. Vielleicht liest du auch mal ein Buch, anstatt nur Fachliteratur. Und … Julia … bleib vom Roulette-Tisch weg. Du hast in der letzten Zeit einfach kein Glück.“

„Ich passe auf! Mach dir keine Sorgen“, beschwichtige ich sie.

Mir ist der Gedanke unangenehm, wie viel Geld ich ihr schulde. Von meinem Plan erzähle ich ihr nichts. Sie würde ihn mir nur ausreden wollen.

Als Informatikerin denkt sie so schrecklich logisch. Von meinen Berechnungen und strategischen Spielzügen hält sie absolut nichts.

Doch ich habe selbst mehrfach erlebt, wie ich mit kleineren Einsätzen und meiner Spieltechnik gewonnen habe. Ich darf mich nur nicht ablenken lassen, keine anderen Spielzüge zwischendurch machen und ganz wichtig: Ich muss früh genug nach einem Gewinn den Spielsaal verlassen.

Ich verstaue den Koffer in meinem Mercedes Cabrio. Mit einem leisen Brummton verschwindet das Verdeck in den Kofferraum. Mein knatschrotes Auto war immer mein Kindheitstraum gewesen. Vor fünf Jahren hatte ich es kaum fassen können, als ich ihn als Jahreswagen ergattern konnte.

Laut drehe ich die Musik im Autoradio auf, fahre unsere Auffahrt runter und biege rechts auf die Maiglöckchenstraße ab. Sarah Conner singt gerade ihren neuen Song „Vincent“. Ganz schön mutig, überlege ich, während ich den Text mitsinge: „Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Mädchen denkt. “

Aber was passiert mit allen kleinen Jungen, die Vincent heißen? Ich höre schon die Eltern, die sich bei mir melden, weil ihr Kind in der Schule gemobbt wird.

Aber hat im Leben nicht alles immer positive wie auch negative Auswirkungen?

Zum Beispiel die Erfindung des Autos: Sie ist gut, weil wir mit Fahrzeugen große Entfernungen überwinden können. Sie ist schlecht, weil die Autoabgase unsere Luft verpesten und Menschen durch Verkehrsunfälle sterben.

Oder die Atomkraft: Sie ist gut, weil wir damit sehr viel Energie und Strom erzeugen. Sie ist schlecht, weil diese Kraft Städte, wie z. B. Osaka, ausrotten kann. Auch bei natürlichen Dingen wie unserer Nahrung, egal ob man Fleisch, Süßigkeiten oder Gemüse nimmt. Auch hier gilt: Es ist gut, was wir essen, weil wir ohne Nahrung nicht leben können. Aber sie ist ebenso schlecht, weil wir dadurch auch Allergien entwickeln könnten oder zu dick werden.

Bei Köln-Rodenkirchen geht‘s auf die Autobahn. Der Fahrtwind zerzaust mein Haar, und die Sonne scheint mir ins Gesicht.

Okay, ich gebe es zu: Ich fühle mich wie die Hauptdarstellerin in einem Rosamunde Pilcher-Film. Ich erfülle das absolute Klischee! In ihren Filmen fahren alle Hauptdarsteller ein Cabrio.

Ich drehe das Radio leiser.

Auch wenn es mir davor graut, aber ich muss Peter anrufen, denn wir hatten abgesprochen, dass ich heute für ihn die Praxisabrechnung mache.

Ich klicke seinen Namen auf der automatischen Wahlwiederholung in meinem Auto an.

„Julia? Was gibt‘s?“, höre ich seine Stimme, die seltsam angespannt wirkt.

„Sorry, Peter. Nur ganz kurz. Ich bin auf dem Wege nach Bad Neuenahr. Ich habe die Gemüsesuppe in den Kühlschrank gestellt. Frisches Baguette ist auch da. Sonntagmittag bin ich wieder zurück.“

„Wie stellst du dir das vor? Du weißt doch, dass du am Monatsende die Abrechnung für meine Privatpatienten machen musst.“

„Ja, ja. Mach kein Drama. Ich habe mir den Sonntagnachmittag dafür freigehalten.“

„Fährt Lisa mit? Oder spielst du wieder?“

Ich höre seinen typischen Zischlaut. Er entsteht, wenn Peter die Luft zwischen seinen Zähnen rauspresst.

„Du weißt, dass ich absolut gegen deine Spielerei bin. Von mir bekommst du keinen Cent mehr. Und deine Mutter hat angedeutet, dass du dir Geld von ihr geliehen hast.“

„Spiel du mal schön weiter Golf “, falle ich ihm ins Wort. „Wir können ja mal die Kosten gegenrechnen. Gerade wurde der Jahresbeitrag deines Luxusvereins erhöht. Wenn ich mir mal eine Auszeit in den Ahr-Thermen nehme, brauchst du nicht gleich los zu meckern.“

„Julia, lenk nicht ab. Du bist fast jedes Wochenende weg.“

„Und du?“ Ich stocke und meine Worte kommen kurz. „Du, du bist den ganzen Mittwochnachmittag und Freitag ab 4: 00 Uhr auf dem Golfplatz. Ich sitze ich am Wochenende allein zu Hause rum oder arbeite. Auch noch für dich.“

„Ich will jetzt nicht mit dir diskutieren.“ Seine Stimme wird schärfer. „Wenn du deine Pflichten als Ehefrau erfüllen würdest, wäre ich auch öfter zu Hause. Mit deiner Gefühlskälte jagst du mich aus dem Haus.“

Ich schlucke.

„Du brauchst mich jetzt nicht fertigzumachen“, brülle ich los. Tränen steigen mir in die Augen, fest umklammere ich das Lenkrad. „Ich habe dir immer den Rücken freigehalten. Wer macht dir denn jeden Monat die Abrechnung?“

Ich höre sein Schnaufen, und bevor er mich anschnauzen kann, sage ich schnell: „Peter, ich bin jetzt im Auto. Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren. Ciao.“

Abrupt drücke ich die Telefontaste am Lenkrad.

Es ist immer dasselbe. Wieso habe ich ihn überhaupt angerufen?

Mist, jetzt heule ich wieder. Wieso lasse ich mich von ihm in die Enge treiben?

Nach vierundzwanzig Ehejahren sollte ich doch darüberstehen. Und ich, dumme Kuh, mache ihm noch an meinem freien Sonntag die Abrechnung. Es ist seine Praxis und nicht meine.

Wütend auf mich und auf ihn trete ich mit aller Wucht auf das Gaspedal. Der Mercedes macht einen Satz. Der Tacho zeigt hundertsechzig Stundenkilometer. Die Autobahn ist frei. Leitplanken, Bäume und Sträucher fliegen an mir vorbei. Der Fahrtwind lässt meinen Wagen erzittern. Ich nehme den Fuß vom Gas und fahre diszipliniert die letzten zwanzig Kilometer nach Neuenahr. Mit Schwung fahre ich auf den Vorplatz des Spielcasinos. Gerade fährt ein gelber Porsche weg, und ich kann direkt vor dem Eingang parken. Die Parkgebühren habe ich schon mal gespart. Ins Hotel checke ich später ein. Vielleicht kann ich mir heute die Suite leisten, und nicht, wie sonst, das einfache Einzelzimmer.

Im Rückspiegel überprüfe ich mein Aussehen. Ich ziehe meine Lippen nach und kämme mir die zerzausten Haare glatt. Lisa hatte mir vorgeschlagen, dass ich meine Haare schwarz färben soll. Aber ehrlich gesagt, bin ich zu faul dazu. Wenn man erst mit dem Färben anfängt, dann muss man dranbleiben. Die paar grauen Haare und die paar weißen Haare an meinen Schläfen finde ich noch nicht so schlimm. Ich schüttle den Kopf und mein schulterlanges Haar fällt mir locker auf die Schultern. Fertig. Ich bin bereit für meinen großen Auftritt.

Das Jugendstil-Casino mit seinen Türmchen mag auf manche Menschen kitschig wirken, doch ich finde es wunderschön. Immer, wenn ich die große Freitreppe heraufschreite und durch die Eingangstüre das Spielcasino betrete, fühle ich mich wie in einer Märchenwelt.

Lisa und ich fahren seit zwei Jahren regelmäßig nach Bad Neuenahr. Am Anfang spielten wir manchmal aus Spaß und beobachteten die Leute, die total verbissen an den Spieltischen standen. Seit Lisa nicht mehr so oft mitfahren kann, analysiere ich das Roulette-Spiel systematisch.

Ich gebe zu, in der letzten Zeit spielte ich jedes Wochenende. Aber warum soll ich allein zu Hause zu bleiben? Dazu habe ich keine Lust. Peter ist auf dem Golfplatz. Früher bin ich öfter mit ihm gegangen, aber er hat mich wegen meines schlechten Abschlags geärgert und mich sogar vor seinen Freunden bloßgestellt. Darum spiele ich nicht mehr Golf. Seit mehr als zwei Jahren geht jeder von uns seine eigenen Wege.

„Guten Tag, Frau Bergheimer“, begrüßt mich die Garderobiere mit einem strahlenden Lächeln, „schön, Sie wiederzusehen.“

„Hallo Frau Schmidt, wie geht es ihnen?“

Ich mag sie, weil sie immer freundlich ist. Bei meinem letzten Besuch hatte sie mir erzählt, dass sie im Dezember achtundsechzig Jahre alt wird. Sie muss als Fünfundzwanzig-Stundenkraft im Casino arbeiten, weil sie von ihrer Rente nicht leben kann.

„Es muss, Frau Bergheimer, es muss“, sie nimmt mir meinen Mantel ab, „viel Glück heute Abend.“

„Danke, werde ich haben.“ Siegessicher lächle ich sie an.

Meine Handtasche fest unter meinen rechten Arm geklemmt, schreite ich durch die Eingangshalle. Ich gehe vorbei an den einarmigen Banditen, die in allen Farben leuchten und die unterschiedlichsten grellen Töne produzieren. Fast alle Plätze sind an den Maschinen besetzt, obwohl es erst früher Nachmittag ist. Ich verstehe die Leute nicht, die von solchen Spielautomaten abhängig sind. Sie sind der Willkür der Automaten ausgesetzt. Es ist reine Glückssache, ob sie gewinnen oder verlieren.

Alle vier Kassen sind offen. Hinter dicken Glasscheiben sitzen die Angestellten in ihren Uniformen. Ich stelle mich bei der Kasse 1 an.

„Tausend Euro. Bitte fünf in Hunderter und zehn in Fünfziger Chips“, weise ich den Kassierer an.

Ich reiche ihm meine Kreditkarte durch den unteren Schlitz. Gewissenhaft zählt er die blauen und goldenen Jetons laut ab. Einen Stapel nach dem anderen schiebt er mir durch den Spalt zu.

Die goldenen Fünfziger Plastikstücke lasse ich in meiner Kostümjacke verschwinden, weil ich in den tiefen Taschen genügend Platz für die Chips habe. Die blauen Hunderter stecke ich mit meiner Visakarte in meine Handtasche. Diese Jetons will ich erst einsetzen, wenn ich auf der Gewinnerspur bin. Denn je höher der Einsatz, umso höher der Gewinn.

Gedämpftes Licht umfängt mich, als ich den vorderen Bereich des Spielsaals betrete. Bodenlange beigefarbige Samtvorhänge verdecken die Sicht nach draußen. Der weinrot gemusterte Teppichboden verschluckt meine Schritte. Nur das Klackern der Kugeln und die Ansagen der Croupiers und zwischendurch das Jubeln eines Gewinners nehme ich wahr. Die prächtigen Kronleuchter verbreiten zeitlose Eleganz. Es ist, als ob die Zeit stillsteht, Tag und Nacht ohne Bedeutung.

„Möchten Sie etwas trinken?“, fragt mich ein Kellner.

„Gern. Bringen Sie mir einen trockenen Sekt an Tisch 10. Und, bitte extra Eiswürfel dazu.“

Er hebt seine Augenbrauen. „Der Sekt kommt direkt aus dem Kühlschrank!“

„Ich weiß“, antworte ich. „Bitte bringen Sie mir trotzdem Eis.“ Ihm zu erklären, dass ich mein Getränk mit Eis besser vertrage und nicht so schnell beschwipst bin, führt nur zu endlosen Diskussionen. Ich habe das schon oft genug erlebt. Alle meine Freundinnen, die ebenfalls den Sekt wie ich trinken, bleiben dabei.

An Tisch 10 wird direkt am Ende des Spieltischs ein Platz frei. Für mein Kolonnen-Spiel äußerst günstig, denn so habe ich die drei Spielreihen direkt vor mir. Ich setze mich auf den Stuhl und öffne den obersten Knopf an meinem Rockbund. Auf die Dauer wird mein Magen zu sehr eingeschnürt, und ich habe dann Schmerzen. Ich blicke in die Runde. Keiner meiner Mitspieler ist mir bekannt. Gut so. Den Croupier habe ich öfter gesehen. Ich nicke ihm kurz zu. Wortlos erwidert er meinen Gruß. Man kennt sich, aber man hält Distanz. Es wird im Casino nicht gern gesehen, dass man mit den Angestellten vertraut ist.

Langsam lasse ich zwei Eiswürfel in mein Glas gleiten, wobei ich höllisch aufpassen muss, dass der Sekt nicht überschäumt. Soviel zu der Ansage: Der Sekt kommt aus dem Kühlschrank!

Von der Anzeigetafel schreibe ich mir die letzten Zahlen ab. Damit ich weiß, welche Kolonnen am häufigsten gekommen sind, ordne ich sie gleich den richtigen Reihen zu. Zwei Spielrunden warte ich ab. Trinke einen Schluck aus meinem Sektglas.

Ich bin voll da und konzentriert.

Zuerst lege ich einen Chip auf das linke und einen zweiten auf das rechte Kolonnenfeld direkt vor mir. Die Mitte lasse ich frei. Es kommt die „1“. Meine linke Kolonne gewinnt. Meinen Chip lasse ich liegen. Meinen rechten Jeton zieht der Croupier mit seinem Rateu ein. Er wirft mir meinen Gewinn, zwei Stück zu. Reingewinn: 1 Chip, den ich sofort in die zweite meiner Jackentaschen verschwinden lasse. Ich lächle. Super, so kann es weitergehen.

Eine ältere Frau mit weißen Haaren und knallrot geschminkten Lippen sitzt mir schräg gegenüber. Sie nickt mir kurz zu.

Wie ich sehe, spielt sie auch Kolonne. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, entsteht zwischen uns eine Gemeinschaft, wir kämpfen um den Sieg. Mal schauen, ob ich ihr folge, wenn sie die Reihen wechselt.

Zwei Stunden spiele ich nun schon, und meine linke Jackentasche beult sich langsam aus.

Ich mache eine Pause und gehe an die Bar.

Vorsichtig hole ich meine Chips aus meiner Tasche und staple sie vor mir. Fünfhundert Euro habe ich gewonnen.

Was soll ich tun? Weitermachen oder Aufhören?

Ich blicke auf die Uhr. 18: 00 Uhr. Zu früh, um ins Hotel zu gehen. Ich will meine Glückssträhne ausnutzen. Bisher lief alles so gut, genau wie ich es erwartete habe. Ich bestelle mir noch ein Glas vom offenen Sekt und esse ein Sandwich mit Lachs und Gürkchen. Dann kehre ich in den Spielsalon zurück.

Mein alter Platz ist besetzt. Nach einigem Suchen finde ich an Tisch 12 einen freien Stuhl. Jetzt sitze ich direkt vor der roten Spielfläche Rouge, links neben mir die Kolonen. Sorgfältig schreibe ich den Verlauf von der Anzeigetafel wieder ab und beobachte das Spiel. Der Lautstärkepegel ist enorm gestiegen, denn es ist 20: 00 Uhr, und alle Spieltische sind geöffnet.

Aber ich konzentriere mich auf mein Spiel. Da ich mehr und schneller gewinnen will, setze ich nun meine blauen Hunderter-Chips. Neben dem Croupier bemerke ich einen älteren Mann im hellbauen Anzug, der mich dauernd anschaut. Bei meinem nächsten Gewinn nickt er mir freundlich zu und winkt einen Kellner heran. Kurz drauf bringt mir ein junger Mann ein Glas Sekt.

„Herr Winterthur hat Ihnen diesen Drink spendiert“, informiert er mich.

Herr Winterthur hebt sein Glas und lächelt mich an.

Mir ist das unangenehm. Ich will hier spielen, nicht flirten. Abgesehen davon, dass dieser schmalzige Typ mit seinem Lippenbärtchen absolut nicht mein Fall ist. Aber ich will nicht unhöflich sein. Ich hebe mein Sektglas und bedanke mich mit einem Lächeln. Allerdings bitte ich den Kellner, mir noch Eiswürfel zu bringen.

Schleppend ist diesmal mein Spiel. Ich gewinne und verliere im Wechsel.

Eine vollbusige Lady setzt sich neben mich, sie kann die Aufmerksamkeit meines Verehrers auf sich lenken. Ich bin erleichtert.

Vor zwei Wochen hatte ich einen Typen im Spielkasino kennengelernt, der unbedingt mit mir ins Hotel wollte. So etwas will ich heute auf keinen Fall erleben.

Plötzlich quetscht sich ein Mann zwischen mich und meine Sitznachbarin. Er rammt mir seinen Ellbogen in den Rücken. Hastig wirft er drei blaue Chips auf Rot.

Ich reibe mir die schmerzende Stelle.

„Sorry, tut mir leid“, sagt er und wischt sich mit einem großen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Dicht bleibt er hinter mir stehen.

Wie ich das hasse! Ich spüre seinen heißen Atem im Nacken.

Andere Spieler wechseln auch auf Rot. Das Feld ist überladen mit blauen, roten und sogar violetten Chips. Ich schaue auf die Anzeigentafel. Zehnmal ist Schwarz hintereinander gekommen. Das ist schon eine ganze Menge! Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie von D‘Alembert müsste jetzt Rot kommen. Denn so wie ich seine Theorie verstanden habe, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Rot kommen muss, je häufiger Schwarz fällt.

„Faites vos jeux“, ruft der Croupier und dreht den Kessel. Das ist meine Chance!

Schnell lege ich zwei blaue Chips auf Rot.

„Rien ne va plus“, kommt die Ansage, und der Casino Angestellte wirft die Kugel in entgegengesetzter Richtung in die Roulette Schale. Kein Laut ist am Tisch zu hören, nur das Klackern der Kugel. Nach mehreren Hüpfern bleibt sie im Fach der schwarzen 29 liegen.

Verloren! Mist!

Meine Wangen brennen.

Der Dicke hinter mir ist verschwunden.

Ich darf jetzt nicht aufgeben. Ich muss verdoppeln. So viel Geld habe ich noch. Es wäre ja gelacht, wenn ich mir meinen Verlust nicht zurückhole.

Erneut rollt die Kugel. Sie fällt in das Fach der roten 1 … und … springt in die schwarze 24.

Ich ziehe meinen hochgerutschten Rock zurecht. Mein Nacken tut mir weh. Ich überlege kurz, aufzustehen und eine Pause zu machen. Aber jetzt müsste Rot kommen. Bei so viel Schwarz!

Es ist zum Verrücktwerden!

Wieder fällt die Kugel in ein schwarzes Fach.

Meine Handtasche ist leer. Der Griff in die Jackentasche beruhigt mich. Noch habe ich einige Chips.

Mein Schädel brummt. Wie Libellen, die über dem Wasser tanzen und sich nicht vorwärtsbewegen, flirren meine Gedanken in meinem Kopf.

Ich darf nicht aufgeben! Jetzt keine Panik!

Ich werfe dem Croupier meine Praxiskreditkarte zu.

„Zehn Hunderter!“, höre ich mich sagen.

Ein No-Go, das weiß ich.

Ich sehe mich handeln, wie aus der zweiten Reihe. Setze, verliere, setze. Noch einmal fünf Blaue auf Rot!

„Rien ne va plus!“

Ich verknote meine Hände, bis meine Knöchel weiß hervortreten. Wage nicht die Augen zu erheben.

Klack, klack …

„Vingt-sept, siebenundzwanzig, Rouge, Impair!“, kommt die nüchterne Ansage des Croupiers.

Endlich, endlich habe ich gewonnen!

Jetzt beginnt bestimmt meine Gewinnsträhne.

Den Einsatz ziehe ich ab und lasse fünf Blaue auf Rot stehen. Mein Verlust ist zu hoch. Jetzt kann und darf ich nicht aufhören.

Mir stockt der Atem. Mein Herz klopft wie wild.

Fast wäre die Kugel auf Zero gefallen. Sie macht jedoch einen großen Satz, überspringt die rote 7 und landet in der schwarzen 8.

Tränen steigen mir in die Augen. Schnell senke ich meinen Kopf und ziehe meine Haare ins Gesicht.

Bloß nicht schlappmachen.

Ich bin so weit gegangen, jetzt kann ich auch die letzten Chips setzen. Nichts außer einem Gewinn kann mich noch retten. Wahllos setze ich – und verliere.

Ich atme tief durch. Packe meine restlichen Jetons auf den Tisch. Versuche einen Neustart. Ordentlich schreibe ich die Zahlen in meine Kladde. Suche einen Rhythmus, dem ich folgen kann. Aber ich finde keinen Einstieg ins Kolonnenspiel. Sinnlos setzte ich hier und dort. Jage verzweifelt meinem Gewinn hinterher.

Mit teilnahmsloser Miene zieht der Croupier meinen letzten Blauen von dem roten Feld mit den anderen Jetons zu sich heran.

Mit Mühe unterdrücke ich den Impuls, nach meinem Chip zu greifen. Will nicht zulassen, dass die große Harke ihn mir endgültig wegnimmt. Am liebsten würde ich dem Croupier zurufen, dass er ihn mir zurückgeben soll.

Weil es mein letzter ist.

Weil ich das Hotel nicht bezahlen kann.

Weil ich eigentlich gar nicht spielen wollte … weil ich alles verloren habe.

Mit flinken Fingern sortiert der Casinoangestellte die vielen bunten Chips nach Farben in die Holzkästen. Plastikstücke für ihn. Geld, Verlust, Zukunft und Leben für mich.

Der Mann neben mir nimmt einen blauen Jeton von seinem Gewinnstapel.

„Ein Stück für Sie!“, dröhnt es in meinen Ohren.

Mit seinem Rateu fängt der Croupier den Hunderter geschickt auf und lässt ihn in einem besonderen Schlitz im Spieltisch verschwinden.

Meinen finanziellen Tod scheint niemand bemerkt zu haben. Oder?

Mir gegenüber schaut mich eine Frau im schwarzen Kleid mit großen Augen an. Zeigt sich Mitleid in ihrem Gesicht?

Ruckartig stehe ich auf. Nicht losheulen. Keiner soll merken, dass ich verloren habe. Alles verloren habe.

Mit steifen Schritten, den Kopf leicht nach unten geneigt, gehe ich aus dem Spielsaal. Leises Gemurmel erfüllt den Raum. Nur die Ansagen der Croupiers und das Klackern der Kugeln sind zu hören.

Wie in Trance verlasse ich den Spielsalon. Unbeachtet, als wäre ich nie hier gewesen.

Eine andere Garderobiere reicht mir meinen Mantel, wünscht mir einen guten Abend.

Ich will nur noch weg. Der Schock hat mich nüchtern gemacht.

PURPURUMHANG

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