Читать книгу PURPURUMHANG - Tartana Baqué - Страница 9

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Ich eile, nein, ich renne zu meinem Auto. Bloß weg von hier. Mit zitternden Händen drehe ich den Zündschlüssel um. Der Motor heult auf. Mit quietschenden Reifen verlasse ich den Parkplatz.

Mein Leben ist ein Scherbenhaufen.

Mein heißgeliebtes Auto! Ich werde es verkaufen müssen.

Mein Kopf ist leer. Meine Augen brennen.

Irgendwann stehe ich vor unserer Villeneinfahrt auf der Maiglöckchen Straße. Wie ich gefahren bin? Ich weiß es nicht. Mein Auto hat mich gefahren.

Meine Beine sind schwer wie Blei, als ich die Auffahrt hochgehe. In unserem Schlafzimmer sehe ich Licht.

Mist, Peter ist zu Hause! Das hat mir gerade noch gefehlt!

Ich krame in meiner Handtasche. Warum muss der Haustürschlüssel immer ganz unten in einer Ecke versteckt sein?

Aber läuten will ich auf keinen Fall. Jetzt bloß keine blöden Fragen beantworten müssen.

Endlich spüre ich das kalte Metall des Schlüssels und schließe die Türe auf.

Das Flurlicht schaltet sich ein, und Peter steht am unteren Treppenabsatz, die Haare völlig zerzaust.

„Wieso bist du denn schon hier?“, faucht er mich an, dabei zupft er mit beiden Händen sein T-Shirt zurecht.

„Lass mich in Ruhe“, antworte ich betont ruhig und quetsche mich mit dem Koffer an ihm vorbei.

Im ersten Stock öffne ich die Schlafzimmertüre.

Im Halbdunkel stoße ich mit jemanden zusammen. Panik steigt in mir hoch. Ich lasse den Koffer fallen und greife zum Lichtschalter. Grell leuchtet die Deckenlampe auf.

Linh steht vor mir. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie mich an. Ihre Hände drücken das bisschen Stoff, genannt Nachthemd, an ihren Busen. Ihr nackter Po, ist umso besser zu sehen.

Linh? Ich kenne sie. Sie ist die vietnamesische MTA aus Peters Praxis.

Es ist mir nie der Verdacht gekommen, dass sie etwas mit Peter haben könnte.

Peter schubst mich beiseite und baut sich vor mir auf, sodass ich Linh nicht mehr voll im Blick habe.

„Ich sehe, du hast wieder gespielt! Und verloren! Leugnen ist zwecklos!“, schimpft er und fuchtelt dabei wild mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum.

Irritiert blicke ich ihn an.

Spinnt er? Was redet er da? Er betrügt mich. Er ist der Schuldige.

„Lenk‘ bloß nicht ab“, drohe ich ihm und hole tief Luft. Meine Stimme überschlägt sich, als ich losbrülle: „Ich will sofort, dass sie geht!“

Dabei recke ich meinen Kopf hoch und balle meine Hände zu Fäusten. „Und du … du kannst gleich mit verschwinden.“

„Ich gehe, wann ich will. Das ist mein Haus. Du wirst mich mit deiner Spielsucht nicht in den Ruin treiben“, schreit Peter zurück, und seine grauen Augen schimmern wie Eisberge: „Ab sofort sperre ich unsere gemeinsamen Konten. Am besten ich informiere auch noch den Westdeutschen Rundfunk darüber, was sie für eine feine Psychologin unter Vertrag haben!“

Ich stehe da wie in Stein gemeißelt. Begreife die Welt nicht mehr.

Peter schnappt sich seine Jeans und sein blaues T-Shirt. Ohne meine Antwort abzuwarten, wirft er Linh ihre Kleider zu. Schiebt sie an mir vorbei zur Tür.

„Du wirst noch von mir hören“, brüllt er und poltert die Treppen herunter. Mit einem dumpfen Knall fällt die Haustüre ins Schloss.

Totenstille.

Immer noch stehe ich da. Bewegungslos. Bin wie erstarrt. Langsam löst sich in mir ein Schrei. Laut hallt er durchs Haus und endet in einem heftigen Schluchzen. Wie ein angeschossenes weidwundes Tier, sacke ich zusammen. Bin nur noch ein Häufchen Elend auf dem kalten Parkettboden.

Wie lange ich dort gelegen habe, weiß ich nicht. Starr vor Kälte schleppe ich mich nach unten in die Küche. Wie ferngesteuert mache ich mir einen Pfefferminztee. Mit der heißen Tasse in den Händen gehe ich ins Wohnzimmer. Lasse mich auf die Couch fallen. Stopfe zwei Kissen hinter meinen Rücken und kuschle mich in die Tigerfelldecke. Zum Schluss packe ich mir mein Lieblingskissen auf meinen Bauch. Die Hitze der Tasse erwärmt langsam meine Hände.

Ist das alles nur ein böser Traum?

Fast bin ich geneigt, mich zu kneifen. Aber ich weiß es nur allzu gut: Es ist wahr. Alles ist passiert. Ich fühle mich wie in einem der schlimmsten Szenarien eines Films.

Nur das hier ist real.

Langsam tauchen Erinnerungsfetzen auf. Ich höre Peters laute Stimme, wie er mich anklagt. Sehe in das erschrockene Gesicht von Linh. Die Tragweite der Geschehnisse der letzten vierundzwanzig Stunden, wird mir mehr und mehr bewusst.

Ich greife zum Handy und wähle Lisas Nummer. Ihren analytischen Verstand brauche ich jetzt. Schon zu Schulzeiten war sie das ideale Pendent zu mir. Mehr als einmal hat sie mir geholfen, wenn ich mich in irgendwelche Phantasien verrannte.

Der Signalton ihres Handys ertönt. Jetzt das achte Mal.

„Julia? Weißt du, wie spät es ist?“

„Sorry, ich habe gar nicht auf die Uhr geschaut. Tut mir wirklich leid. Aber ich brauche dringend deine Hilfe.“

„Was ist passiert? Du hörst dich schrecklich an.“

„Peter betrügt mich.“

Endlich habe ich es ausgesprochen.

„Ich habe ihn heute Nacht mit Linh, seiner Arzthelferin, in unserem Schlafzimmer erwischt.“

„Das ist ja furchtbar. Soll ich zu dir kommen?“

„Nein, lass mal. Ich bin einfach nur müde, ganz, ganz müde. Zu kaputt, um jetzt irgendwelche Gespräche zu führen. Ich wollte nur deine Stimme hören. Eine Stimme, der ich vertraue.“

Meine Tränen kann ich nicht mehr zurückhalten.

„Beruhige dich, Julia. Wir werden schon einen Ausweg finden. Ich komme morgen früh. Gleich um 8: 00 Uhr zum Frühstück. Okay?“

„Danke, das ist lieb von dir.“ Ich schnaube in mein Taschentuch. „Danke, Lisa. Ich bin froh, dass ich dich habe.“ „Schlaf gut, Julia. Morgen sieht die Welt schon anders aus.“

„Ich versuche es. Bis morgen.“

Ich sitze auf der schwarzen Designercouch. Trage immer noch mein rotes Kostüm. Ins Schlafzimmer will ich nicht gehen. Achtlos werfe ich die Jacke und den Rock auf den Sessel. Nur mit Unterwäsche bekleidet, strecke ich mich auf dem Sofa aus. Im Fernseher läuft irgendwas. Ich lasse ihn an; höre Stimmen, die Leben bedeuten. Sie helfen mir, nicht nachzudenken. Traumfetzen quälen mich im Halbschlaf.

… mehrere Männer und Frauen sitzen nackt um einen Roulette-Tisch. Wer kein Geld mehr hat, muss aufstehen. Beim nächsten Run trifft die Kugel den Kopf des Spielers, der dann zerplatzt. Der Croupier fordert mit breitem Grinsen zum nächsten Spiel auf: „Faites vos jeux.“ Ich stehe auf …

Der Haustürgong ertönt. Ich schrecke hoch. Einige Sekunden brauche ich, um mich zu orientieren.

„Ich bin so froh, dass du da bist“, begrüße ich Lisa. Es ist bescheuert, doch als sie mich in ihre Arme nimmt, muss ich losheulen.

„Alles wird gut, Julia. Beruhige dich.“

Mein lautes Weinen wird leiser, bis ich verstumme.

„Geh erst einmal ins Bad und dusche dich“, fordert sie mich auf, „glaub mir, du fühlst dich danach viel besser.“ Vorsichtig löst sie unsere Umarmung. „Ich mache uns schon mal einen Kaffee und Frühstück.“

Ohne Widerspruch folge ich ihrer Anweisung. So ist sie nun mal, immer sieht sie sofort das Wesentliche.

Nach der Dusche fühle ich mich tatsächlich besser. Der Kaffeeduft weckt meine Lebensgeister. Im Wohnzimmer hat Lisa den Frühstückstisch gedeckt. Sie hat sogar eine Vase mit gelben Rosen auf den Tisch gestellt.

„Oh, wie schön“, bedanke ich mich, und endlich kann ich wieder lächeln, wenn auch zaghaft. Mein Magen knurrt laut, und wir lachen darüber.

„Du siehst“, sagt sie und zwinkert mir mit ihren blaugrauen Augen zu. „Das Leben fordert seinen Tribut.“

Nachdem wir etwas von dem Kaffee getrunken und zwei Bissen vom frischen Brötchen mit Honig gegessen haben, ergreift Lisa meine Hand.

„Und? Jetzt erzähl mir genau, was geschehen ist.“

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

„Am besten von Anfang an.“

„Okay.“

Ich schlucke, lasse ihre Hand los und bedecke meine Augen.

„Ach Lisa, ich weiß, ich hätte mit dem Spielen aufhören müssen.“

Ich rutsche auf die Stuhlkante, als wäre ich bereit zum Sprung.

„Ich weiß nicht, was mit mir los war, Lisa. Irgendwie hat mich der Teufel geritten. Glaub‘ mir, ich hatte alles genau geplant. Und eigentlich hätte ich gewinnen müssen.“ Ich nehme die Hände herunter, schaue auf den Tisch. „Jetzt habe ich alles verloren. Keinen Cent habe ich mehr.“

Mir laufen die Tränen über die Wange.

„Lisa, … ich … ich kann dir dein Geld nicht wie versprochen zurückzahlen.“

Lisa richtet sich auf und schaut mich mit ihrem typischen Röntgenblick an, dem meistens nichts verborgen bleibt.

„Das Geld ist mir jetzt nicht wichtig. Ich mache mir Sorgen um dich, Julia. Ich denke, du brauchst professionelle Hilfe. Als Psychotherapeutin weißt du doch am besten, wie man mit einer Sucht umzugehen hat.“

„Ich werde kein Spielcasino mehr betreten“, beteuere ich sofort. „Das verspreche ich dir … und dein Geld werde ich dir zurückzahlen. Sobald ich kann.“

Lisa setzt ihre Kaffeetasse ab und schaut mich ernst an. Ihre Stimme klingt traurig.

„Du weißt, dass du mit Versprechungen dein Problem nicht lösen kannst. Hast du schon mal daran gedacht, in eine Klinik zu gehen?“

Entsetzt fahre ich von meinem Stuhl auf.

„Bist du verrückt? Das werde ich bestimmt nicht machen. Ich bin doch nicht irre! Was soll ich denn als Psychotherapeutin dort?“ Ich stehe auf, muss mich bewegen, und mir ist der Appetit vergangen.

„Lass dir den Vorschlag durch den Kopf gehen, Julia. Du weißt selbst, dass es so nicht weitergehen kann“, beruhigt sie mich mit sanfter Stimme.

Meinen inneren Tumult besänftigt das nicht. Ich öffne die Terrassentüre.

„Lass uns nach draußen gehen. Das Wetter ist so schön warm.“

Wir legen die roten Polsterauflagen auf die grauen Rohrstühle. Die Sonne scheint uns ins Gesicht. Einen kleinen Moment sitzen wir still nebeneinander. Die Natur ist zauberhaft. Eigentlich möchte ich das hier nur genießen: die Sonne, die Luft und die gelben, roten und weißen Rosen, die ich vor Jahren als Begrenzung entlang der Terrasse gepflanzt habe. Doch wirklich gelingen will es nicht.

Immerhin: Langsam verschwindet meine Wut, und ich fühle mich ein bisschen ruhiger.

„Weißt du, Lisa. Die Spielerei ist gar nicht mal das Schlimmste.“

Ich hole tief Luft und stelle mein Wasserglas mit einem lauten Knall auf den Gartentisch.

„Mein Leben ist kaputt. Peter hat mich betrogen. Vierundzwanzig Jahre sind wir verheiratet.“ Ich stehe auf und laufe hin und her. „Und … und ich weiß noch nicht mal, wie lange er mit dieser Linh schon rummacht.“

„Die MTA in seiner Praxis, ja?“

„Genau die. Da mache ich für ihn die Abrechnungen, damit er Golf spielen kann, währen er …“ Ich schnappe nach Luft und verkrampfe die Hände ineinander.

„Wie kann ich nur so blöd sein!“ Tränen laufen mir über das Gesicht. „Ich hasse ihn. Ich hasse dieses blöde Arschloch!“

„Komm, Julia.“

Lisa steht auf und nimmt mich in ihre Arme. Ihre Wärme beruhigt mich.

Zusammengeknülltes Haushaltspapier liegt überall herum. Die Rolle ist leer.

„Weißt du, er will mich sogar beim WDR anschwärzen. Ausgerechnet jetzt, wo meine Einschaltquote als beratende Psychologin gestiegen ist. Wie soll ich denn meine Schulden bezahlen können, wenn mir dieser Job verloren geht.“

„Mach dich nicht verrückt. Er wird ganz bestimmt nicht den WDR anrufen. Er ist nicht so dumm. Er will schließlich nicht für deinen Lebensunterhalt aufkommen müssen.“

Lisa streichelt mir beruhigend über den Rücken.

„Er ist so gemein. Betrügt mich mit Linh in unserem Schlafzimmer. Will mir meine Existenz kaputtmachen. Und dabei habe ich immer alles für ihn getan. Ihm beim Studium geholfen. Seine Praxis mit aufgebaut. Immer habe ich mich um alles gekümmert. Und jetzt verlässt er mich für eine Jüngere.“

Ich klammere mich an Lisa wie ein kleines Baby.

Stille.

Plötzlich lässt Lisa mich los und schaut mich mit großen Augen an.

„Ich habe eine Idee: Du nimmst dir eine Auszeit. Geh drei Wochen weg, flieg in die Sonne, schalt mal ab. Keinen Menschen hören und sehen.“

„Meinst du?“

Ich strecke mich, als wäre ich in einem Schraubstock gewesen. Schnaube mir noch einmal die Nase und sammle alle Papiertücher auf. Dann blicke ich in ihr Gesicht. Typisch Lisa, sie denkt immer praktisch. Ich schwanke, überlege. Aber warum eigentlich nicht?

„Gute Idee. Aber wie soll ich das finanzieren? Ich habe ja kein Geld mehr. Und Peter hat bestimmt schon alle Kreditkarten gesperrt.“

„Hast du nicht eure gemeinsame Visa-Karte, die du immer bei deinen Internetbestellungen benutzt?“

„Ja, habe ich. Hoffentlich hat er die noch nicht gesperrt.“

„Dann lass uns schnell die Reise buchen.“

Wir gehen über die Terrasse zum Patienteneingang meiner Praxis. Dort fahre ich sofort den Computer hoch.

„An was hast du denn gedacht?“, frage ich sie.

„Ich war mal im Los Almendros Golf- und SPA-Hotel in Marbella. Dort hat es mir sehr gut gefallen“, sagt sie und holt ihr Handy raus. „Okay Google, suche Hotel Los Almendros in Marbella.“

Die Webseite des Hotels öffnet sich.

Lisa diktiert mir den Link.

Nach einigem Suchen finde ich die notwendigen Angaben. Ich buche für kommende Woche Mittwoch ein Zimmer mit Halbpension und einem Intensiv-Golftraining. Aus der Schreibtischschublade hole ich die Kreditkarte.

„So, das kann jetzt Peter bezahlen“, sage ich grimmig.

Ich tippe nacheinander Kartennummern in den Computer. Banges Warten. Endlich taucht die Bestätigung der Buchung auf dem Bildschirm auf.

„Und jetzt musst du sofort den Flug buchen“, stupst mich Lisa an, „dann hast du alles erledigt.“

Und ich habe Glück, denn einen passenden Flug für Mittwoch finde ich auch. Wir umarmen uns als hätten wir eine Schlacht gewonnen.

„Kannst du mich am Mittwoch zum Flughafen bringen?“

„Aber klar doch.“

„Danke! Du bist ein Schatz!“

Lisa schaut mir prüfend ins Gesicht: „Kann ich dich jetzt allein lassen?“

„Ja, kein Problem. Mir geht es schon deutlich besser“, beruhige ich sie. „Ich muss eine Menge erledigen. Es sind nur noch vier Tage, die ich zur Vorbereitung habe.“

In den darauffolgenden Tagen habe ich alle Hände voll zu tun. Das ist gut, denn mir bleibt dadurch kaum Zeit über Peter und mich nachzudenken. Meinen Kummer verdränge ich erfolgreich.

Eine positive Verdrängung, wie ich gelernt habe. Denn wenn ich mich jetzt meinen seelischen Schmerzen hingeben würde, hätte ich überhaupt keine Energie und Kraft, um mich aus meiner Misere zu befreien. Ich weiß das so genau, weil ich drei Jahre zuvor von einer Freundin sehr enttäuscht worden bin. Monatelang blockierte ich mich mit der Frage, warum sie mich so behandelt hat.

Dieses Mal will ich nicht depressiv in Selbstmitleid versinken. Mit dem Spielen will ich erst recht nicht anfangen. Die Idee, nach Marbella zu fliegen und mir eine Auszeit zu nehmen, kommt mir immer logischer und passender vor.

Sofort mache ich mich daran, eine To-Do-Liste zu erstellen. So viele Dinge muss ich noch erledigen, bevor ich fliege.

Ganz oben auf meiner Liste steht: Peter anrufen.

Sonntagnachmittag war geplant, dass ich die Abrechnung für seine Praxis mache. Aber ich denke im Traum nicht daran. Nein, das werde ich ums Verrecken nicht tun. Ich suche seine Telefonnummer in meinem Handy. Jedoch drücke ich nicht auf den grünen Hörer. Zu viele Gedanken gehen mir durch den Kopf.

Ich brauche noch Zeit.

Als zweiten Anruf habe ich meine Kollegin Katja eingetragen. Wir sind seit zehn Jahren in einer Inversionsgruppe, und wir haben dieselbe moderate integrative Einstellung zur Psychotherapie. Bei der KV haben wir uns gegenseitig als Vertretung bei Notfällen eingetragen. Und jetzt habe ich einen Notfall. Sie muss mir helfen und sich um einige meiner Patienten kümmern.

„Hallo Katja, ich bin‘s, Julia. Hast du kurz Zeit?“

„Ja, klar! Was ist los, dass du mich an einem Samstagnachmittag anrufst.“

„Ich muss überraschend für drei Wochen die Praxis schließen. Kannst du einige Patienten von mir übernehmen?“

„Ist was passiert?“

„Nicht direkt, aber ich brauche dringend eine Auszeit. Näheres erzähle ich dir später.“

„Wann brauchst du mich denn?“

„Ab diesem Mittwoch.“

Ich höre ein lautes Schnaufen. „Julia, das ist aber sehr knapp.“

„Ja, ich weiß. Sorry, wirklich. Kannst du heute Abend zu mir zum Essen kommen? Dann können wir die Patienten durchsprechen, die du vielleicht übernimmst.“

„Okay, ich komme gegen 19: 00 Uhr.“

„Danke, bis nachher.“

Geschafft. Ich lege das Handy beiseite und atme tief durch. Konzentriert arbeite ich weiter meine Liste ab. Dem WDR schreibe ich eine E-Mail. Ich werde erst im Oktober mit der neuen Staffel beginnen. Bis dahin habe ich genügend Stoff für meine Sendung gesammelt.

Ich wende mich nun meinen Patienten zu. Es ist nicht so einfach. Bei denen, die sehr lange bei mir sind, kann ich ein Schlussgespräch planen und die Therapie beenden. Die, die ich gerade aufgenommen habe, kann ich relativ einfach an Katja weitergeben. Schwieriger ist es bei den Patienten, mit denen ich gerade in einem intensiven therapeutischen Prozess bin.

Besonders leid tut mir, dass ich Eva vertrösten muss. Sie hat mir über WhatsApp geschrieben, dass sie die Klausur bestanden hat. Doch jetzt braucht sie einen Termin, weil sie sich mit ihrem Freund zerstritten hat. Auch eine Mutter mit ihrem siebenjährigen Sohn bittet dringend um einen schnellen Gesprächstermin. Die Schule meint, ihr Sohn sei Autist. Die Schulkinder aus seiner Klasse mobben ihn.

Ich blättere in meinem Kalender die Seiten hin und zurück. Nervös beiße ich mir auf die Lippe.

Ich komme mir so niederträchtig vor. Nur weil es mir nicht gutgeht, lasse ich meine Patienten im Stich. Ich fühle mich für ihr Wohl verantwortlich und überlege kurz, ob ich meine Reise nach Marbella nicht besser canceln soll. Dieses blöde Verantwortungsgefühl.

Ich lege den Kuli beiseite und stütze den Kopf in beide Hände. Mir ist klar, dass ich durch meine Erziehung geprägt wurde, weil ich schon früh die Verantwortung für meine Geschwister übernehmen musste. Jetzt sitze ich als Erwachsene da und bekomme ein schlechtes Gewissen, sobald ich zu jemandem nein sagen muss. Besonders schwer fällt es mir, einem Patienten abzusagen, wenn ich meine eigenen Interessen realisieren möchte.

Mit einem tiefen Seufzer stehe ich auf, hole die Patientenakten aus dem Schrank und staple sie auf meinen Schreibtisch. Die Unterlagen für mein Gespräch mit Katja lege ich auf das Regal. Die Patienten, mit denen ich eine Sitzung machen muss, bestelle ich per WhatsApp für Montag und Dienstag in die Praxis, und die restlichen Personen informiere ich per E-Mail.

Obwohl ich versucht habe, an nichts anderes zu denken, quält mich mein schlechtes Gewissen. Ich muss Peter sagen, dass ich seine Abrechnung nicht am Sonntagnachmittag machen werde. Einen kurzen Moment zögere ich und überlege, ob ich sie nicht vielleicht Sonntag früh machen könnte. Mit der flachen Hand klatsche ich auf meinen Schreibtisch.

„Nein! Nein! Nein!“ Ich rufe laut und schüttle heftig den Kopf. Fast wäre mir die Lesebrille runtergefallen. Ich werde diesen Sonntag nicht in seiner Praxis arbeiten.

Was sage ich?

Ich werde nie mehr in seiner Praxis etwas für ihn tun.

Mit einem Ruck drücke ich seine Nummer auf dem Display meines Handys und schalte den Lautsprecher an.

„Hallo?“ Es ist Linhs Stimme, die ich höre.

Mist, soll ich auflegen? Quatsch. Sie sieht meine Telefonnummer.

Bevor ich handeln kann, klingt Peters Stimme an mein Ohr.

„Was ist Julia?“

„Hallo, Peter. Nur ganz kurz. Ich fahre für drei Wochen weg.“

„Wie stellst du dir das vor?“

Ich nehme sehr wohl den drohenden Unterton in seiner Stimme wahr.

„Es ist Ende Mai, und du muss die private Abrechnung machen.“

„Für wie blöd hältst du mich?“, kontere ich, schiebe den Schreibtischstuhl vom Tisch und stehe auf. „Linh kann die Abrechnung machen. Ich habe es ihr oft genug gezeigt.“

„Ist das jetzt deine Rache?“, brüllt Peter „Das mit Linh, hast du dir selber zu zuschreiben. Deine Frigidität hat mich aus dem Haus getrieben.“ Er zischt, wie immer. „Dass ich deine Touren zum Casino überhaupt so lange toleriert habe, hast du nur meiner verständnisvollen Art zu verdanken. Ich arbeite hart, und du? Du verspielst unser Geld. Also halt den Ball flach, bevor du mir vorwirfst, dass ich fremdgehe!“

„Weißt du, ich habe dir immer den Rücken freigehalten, damit du drei Mal in der Woche Golf spielen kannst.“ Ich stocke. Kämpfe mit den aufsteigenden Tränen. „Und, und du? Wie ich jetzt weiß, hast du mit Linh rumgemacht. Du brauchst mir nichts vorzuwerfen.“

Ich bemerke, dass er tief Luft holt und sage schnell: „Lass es gut sein, Peter. Ich will keinen Streit. Mittwoch fliege ich nach Marbella und werde mein Handicap verbessern. Das war dir doch immer so wichtig“, füge ich schnell hinzu. „Wenn du mich sprechen willst, du hast ja meine Nummer. Ciao.“

Ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, drücke ich den roten Telefonhörer auf meinem Display.

Ich setze mich auf den Sessel. Unbeweglich bleibe ich sitzen. Weinen kann ich nicht mehr. Meine Augen brennen. Ich war doch immer für ihn da. Habe ihm geholfen, wo ich konnte.

Bin ich jetzt unfair? Lasse ich ihn im Stich?

Entschlossen stehe ich auf.

Was soll der Quatsch?

Er betrügt mich, und ich mache mir Gedanken, ob ich ihm gegenüber unfair bin?

Lisa hat mir vor Jahren schon gesagt, dass ich mich zu meinem Nachteil verändert habe.

Aber meine Familie ist mir immer wichtiger gewesen als ich selbst. Ich habe für alle eine heile Welt aufgebaut, die aber auf meine Kosten ging. Stimmt, langsam wird mir klar, dass mein Anteil am Leben immer schmaler wurde und meine Freiheiten sich kontinuierlich verringerten. Peter habe ich zum allmächtigen wunderbaren Arzt hochstilisiert und meine Mitspracherecht in der Partnerschaft, meine Persönlichkeit und meine Bedürfnisse hintenangestellt.

Unschlüssig stehe ich vor dem Kleiderschrank. Drei Wochen sind eine lange Zeit. Es ist bestimmt zehn Jahre her, seit ich mit Peter auf den Malediven war. Mit einem Ruck hole ich den großen Reisekoffer vom Schlafzimmerschrank.

Jetzt bitte keine Sentimentalitäten.

Ich habe keinen Schimmer, was ich einpacken soll. Lieblos eng aneinander gequetscht hängen Kleider, Hosen und Jacken auf der Stange. Das eine oder andere Kleid ziehe ich raus. In letzter Zeit habe ich mir gar nichts Neues gekauft, realisiere ich.

Ich schaue in den Kleiderschrankspiegel. Eine vollschlanke Frau mit einem dicken Bauch und Fettröllchen, die rechts und links am seitlichen Rücken hervorquellen, schaut mich müde an.

Auch nicht gerade vorteilhaft, meine heutige Kleiderwahl. Das graue Leinenkleid mit einem weißen Rundkragen wirkt bieder und farblos. Die altrosa Strickjacke verstärkt noch den Eindruck einer älteren Frau. Mein blasses, verhärmtes Gesicht mit der braunen Lesebrille strahlt überhaupt keine Energie aus. Ich setze die Brille ab, um mich besser sehen zu können. Aber das nutzt auch nichts. Ich stelle fest, dass meine ehemals schwarzen Haare doch ganz schön grau geworden sind. Straff nach hinten zusammengebunden wirke ich noch älter als ich bin.

Traurig drehe ich meinem Spiegelbild den Rücken zu. Ich sehe wie sechzig aus.

Aber bitte, wann habe ich mal Zeit für mich? Jeder will was von mir! Peter, Georg, meine und seine Patienten. Keiner fragt mich, wie es mir geht. Alle wollen nur, dass ich für sie da bin.

Ich wuchte den großen Koffer wieder auf den Schrank.

Das werde ich ändern! Ich werde mich jetzt um mich kümmern. Ich bin wichtig!

Kurz entschlossen nehme ich den kleinen Reisekoffer. Zwei Kleider, zwei kurze Hosen, Golfdress, Badeanzug und das Übliche. Zum Schluss noch die Schuhe. Ich setzte mich auf den Koffer. Mit Ach und Krach schaffe ich es, den Reisverschluss zu schließen.

Mittwoch steht Lisa pünktlich um 14: 00 Uhr mit ihrem Auto vor der Villa.

„Hast du alles dabei? Ausweis, Tickets, Handy, Schlüssel?“, fragt sie und schaut mich abwartend an.

Meine Mutter hätte mich auch so anschauen können.

„Alles okay“, rufe ich ihr zu.

Vorsichtshalber kontrolliere ich noch einmal den Inhalt meiner Handtasche, bevor ich die Haustüre abschließe. Wie in Zeitlupe drehe ich den Schlüssel im Schloss. Einmal. Zweimal.

Meine Hände zittern.

Der Schlüssel fällt zu Boden.

Ich bücke mich und hebe ihn auf. Für einen kurzen Wimpernschlag stehe ich plötzlich vor einer massiven hölzernen Haustüre mit goldenem Löwen-Drehknauf in der Mitte. Rechts und links daneben zwei schwere Terrakottablumentöpfe mit Oleandersträuchern, die voller weißer Blüten sind. Die Türe öffnet sich, und ich sehe zwei breite Treppen in einer hohen Eingangshalle. Plötzlich rieche ein herbes Männerparfüm. Durch eine riesige Fensterfront schaue ich auf das weite Meer …

„Brauchst du Hilfe?“, höre ich Lisa rufen. Sie kommt die drei Stufen zu mir hoch.

Irritiert erwache ich und drehe mich um.

„Ich nehme dir das Gepäck ab.“ Lisa nimmt meine Golfausrüstung.

„Ja, danke. Es fällt mir schwer, weißt du. Es ist mir, als ob ich hier nie mehr glücklich sein werde. Ich habe Angst vor dem, was kommt. Was wird mit mir und Peter werden?“

„Komm Julia, denk nicht so viel nach.“ Lisa verstaut mein Gepäck und startet den Motor.

Ich gucke aus dem Autofenster und sehe, wie sich eine Wolke vor die Sonne schiebt. Die Bäume werfen große Schatten auf die Villa. Die heruntergelassenen Rollos vor den Fenstern verdecken den Blick ins Haus. Dunkle Löcher starren mich an. Ich friere.

„Hast du noch was von Peter gehört?“, fragt Lisa, nachdem wir eine kleine Weile auf der Autobahn gefahren sind.

„Ja, ich habe am Samstagnachmittag mit ihm telefoniert.“

„Und?“

„Er wohnt bei Linh. Sie war zuerst am Telefon. Doch ich habe es geschafft, ihm zu sagen, dass ich für drei Wochen weg bin. Und dass er seine Abrechnung ab sofort von Linh machen lassen kann.“

„Das war richtig. Endlich denkst du mal an dich.“

Ich recke mich in meinem Autositz.

„Hat er mich überhaupt jemals geliebt?“

Lisa legt ihre Hand auf meinen Arm. „Komm Julia, denk an deinen Urlaub. Peter wird sich nie ändern. Ich habe es dir immer gesagt. Er nutzt dich nur aus.“

Ich dämmere ein bisschen vor mich hin. Zu viel ist in den letzten Tagen auf mich eingestürmt.

„Aufwachen!“

Lisa stupst mich an. Sie nimmt den Fuß vom Gas und lenkt den Wagen auf den Parkplatz direkt vor dem Terminal D des Köln-Bonner Flughafens. „Soll ich dich noch zum Schalter bringen?“

„Nein, lass mal. Es geht schon wieder. Das Schlimmste habe ich geschafft. Er ist einfach ein Egoist. Ich wollte es nur nie wahrhaben.“

Wir holen den Koffer und die Golftasche aus dem Kofferraum. Lisa reicht mir meine Handtasche, wobei sie schnell einen weißen Umschlag in die Seitentasche steckt. Kurz umarmen wir uns.

„Ciao Julia, ruf mich an, wenn du in Marbella bist.“

„Versprochen, mache ich.“

„Und schicke mir Fotos von deinem Golflehrer“, ruft sie laut hinter mir her.

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

PURPURUMHANG

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