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5. KAPITEL

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Carter rief Mallory gleich nach dem Frühstück im Hotel an und schlug vor, er solle im Verlauf des Vormittags zu ihm nach Hause kommen. Als Mallory eintraf, führte Carter ihn ins Eßzimmer, wo auf dem Tisch zwei Karten in großem Maßstab ausgebreitet waren. Anscheinend Generalstabskarten, nur daß sie mit diversen Symbolen übermalt und die Erklärungen und Anmerkungen auf deutsch statt auf englisch waren.

Als Mallory sich über die Karten beugte, deutete Carter mit einem Bleistift darauf.

»Sie können sehen, daß hier keine zweispurige Straße nach Portsmouth eingezeichnet ist und die Straßen in ost-westlicher und nord-südlicher Richtung direkt durch den Stadtkern von Chichester führen, obwohl der ganze Bereich um das Market Cross jetzt als Fußgängerzone ausgewiesen und für den Verkehr gesperrt ist.

Das kommt daher, weil diese Karten aus dem Jahr 1938 stammen, und die Erklärungen sind alle auf deutsch, weil diese Karten vom deutschen Generalstab für das ›Unternehmen Seelöwe‹ angefertigt wurden – die Invasion von England.

Jetzt schauen Sie sich mal das hier an. Fishbourne. Anderthalb Kilometer außerhalb der Stadt gelegen. Ein kleines Dorf. Aber Sie können auch sehen, daß ein langer, schmaler Bach direkt vom Kanal zum Dorf führt. Das sollte der Hauptlandepunkt für eine amphibische Panzerdivision werden.«

Er fuhr mit dem Finger über die Landkarte nach oben.

»Und hier ist Midhurst, gleich nördlich von uns. Dort sollte am Abend des ersten Tages das vorgeschobene Hauptquartier für alle deutschen Truppen aufgeschlagen werden. Ein Bauernhaus am Military Canal in der Nähe von Appledorn in Kent sollte das Hauptquartier der zweiten Gruppe werden, und die Rennbahn von Goodwood ist als Lager für britische Kriegsgefangene ausgewiesen.« Carter richtete sich auf und schaute Mallory an. »Sie werden sich fragen, weshalb ich Ihnen das zeige.«

»Nein. Ich glaube, ich weiß, warum.«

»Sagen Sie’s mir.«

»Vermutlich haben Sie das Gefühl, daß die jungen Leute von heute nicht begreifen, welche Opfer im Krieg gebracht wurden, und den Mut und die Aufopferung der Beteiligten nicht zu schätzen wissen. Und Sie meinen, ich würde das, was damals geschehen ist, nach heutigen Maßstäben beurteilen.«

»Es ärgert mich, Mallory. Es waren nicht nur die Männer und Frauen, die gedient haben. Auch die Zivilisten waren betroffen. Halb verhungert haben sie in den Fabriken Überstunden geleistet, und nachts mußten sie in die Luftschutzbunker. Und jetzt kommen ein paar Jammerlappen daher und raufen sich die Haare, weil wir die Bombe auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen haben. Oder wegen der Bombardierung von Hamburg und Dresden. Die Bomben auf Coventry und Birmingham erwähnen sie nicht. Und sie verlieren auch kein Wort darüber, wie die Welt aussähe, wenn wir verloren hätten. Weil es nämlich, und merken Sie sich meine Worte, genau diese Mistkerle sind, die die Deutschen willkommen geheißen hätten.«

»Die Leute nehmen sie gar nicht zur Kenntnis, Major.«

»Glauben Sie nur das nicht, mein Junge. Warum, zum Teufel, sitzen Sie denn jetzt hier in meinem Eßzimmer?« Er hielt inne und schaute Mallory an. »Weil irgendein Widerling von einem Revolverblatt schnell ein bißchen Geld mit sogenannten Enthüllungen verdienen will, indem er schildert, wie wir die Russen sechsundvierzig daran gehindert haben, über die Grenze vorzurücken.«

»Hatten sie denn wirklich vor, über die Grenze vorzurücken?«

Carter schaute Mallory eine Zeitlang an, dann sagte er: »Sie müssen noch eine Menge lernen, junger Mann.«

Mallory lächelte leicht. »Vielleicht können Sie es mir beibringen.«

»Genau das wollte ich vorschlagen. Wenn Sie einverstanden sind.«

»Sie sagten, es würde eine ganze Weile dauern, bis ich es verstünde. Wie lange?«

»Mehrere Stunden. Vielleicht Tage.«

»Dann muß ich erst meine Chefs um Erlaubnis fragen.«

»Sie brauchen sie nicht zu fragen.«

»Ich fürchte, doch.«

»Ich habe bereits mit ihnen gesprochen, und sie sind einverstanden. Nicht gerade Feuer und Flamme, muß ich zugeben. Aber sie sind einverstanden.«

»Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit Toby Young und anschließend mit Mike Daley.«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich bei ihnen rückversichere?«

»Das wäre nicht klug.«

»Warum nicht?«

»Benutzen Sie doch Ihren Grips. Die haben Ihnen einen Auftrag gegeben. Und das entscheidende dabei war doch, daß Sie unabhängig sind. Nicht einfach Befehle ausführen. Die versuchen, das Spiel ehrlich zu gestalten. Wenn Sie letzten Endes berichten, daß es für das, was da geschehen ist, keine Rechtfertigung gibt, dann wissen sie wenigstens, wo sie stehen. Wenn aber in Ihrem Bericht steht, daß es notwendig und Ihrer Überzeugung nach vollkommen gerechtfertigt war, dann haben sie eine Antwort, die die meisten Menschen akzeptieren werden.«

»Nicht die Opposition.«

»Seien Sie da mal nicht so sicher. Die können es sich nicht leisten, allzu unpatriotisch dazustehen.«

»Und die Medien?«

»Die haben die Wahl, ob sie eine anti-britische Story bringen oder über Mut und Opferbereitschaft berichten wollen. Letzteres wird wesentlich länger nachwirken als ein Skandal, der eigentlich jedem scheißegal ist.«

Mallory lächelte. »Und wie sollen wir all das bewerkstelligen?«

»Wir unternehmen eine Art Pilgerfahrt. In die Vergangenheit.«

»Und was ist, wenn ich es letzten Endes doch nicht so sehe wie Sie?«

»Gar nichts. Aber Sie werden es so sehen wie ich.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil Sie selbst bei der Army waren. Wenn auch eher in einem kalten Krieg als in einem heißen. Aber das ist fast dasselbe.«

Carter ging zur Anrichte, ergriff ein ledergebundenes Fotoalbum und brachte es an den Tisch. An zwei Stellen waren Papierstreifen zwischen die Seiten geklemmt. Carter schaute Mallory einige Sekunden schweigend an und sagte dann: »Ich möchte Ihnen drei Dinge zeigen, bevor wir anfangen. Um sicherzugehen, daß wir unsere Reise nicht mit einem falschen Eindruck Ihrerseits beginnen.«

Er schlug das Album beim ersten Lesezeichen auf und deutete auf eine Seite mit Fotos. »Das ist das, was von einer deutschen Stadt namens Hildesheim übriggeblieben ist, nachdem sie von der US Air Force bombardiert worden ist. Sie wurde bei einem vierzigminütigen Flächenbombardement zu achtzig Prozent zerstört. Es war eine mittelalterliche Stadt, so ähnlich wie Stratford-on-Avon. Keinerlei Truppenstationierung, keine Fabriken.« Er deutete auf ein Bild, auf dem ein großes Haus samt Grundstück zu sehen war, vor dem zwei Jeeps und eine Mercedes-Limousine standen. »Das war mein Hauptquartier, unmittelbar nach der Kapitulation.« Dann deutete er auf das dritte Foto. Es zeigte einen jungen Mann im Kampfanzug. Sein Gesicht war ernst, so als ließe er sich nur ungern fotografieren. »Das bin ich«, sagte Carter. »Ich kam gerade von hier zurück ...« Er blätterte zu dem zweiten Lesezeichen. Auf dem Bild sah man einen Trupp britischer Soldaten, die auf einen Haufen nackter Leichen starrten. Im Hintergrund stand eine Gruppe Männer in gestreiften Uniformen. »Ich stehe rechts außen, unter den Soldaten. Der Ort heißt Bergen-Belsen, ein Konzentrationslager. Zwei Stunden nach der Befreiung.«

Mallory schaute sich das Bild lange an. Es ähnelte denen, die er in Illustrierten und Büchern gesehen hatte. Nur daß auf dem hier ein Mann zu sehen war, den er kannte. Das jugendliche Abbild des Mannes, der neben ihm stand. Er wandte sich an Carter. »Sie sprachen von drei Dingen.«

»Allerdings.«

Er legte die Hände mit der Innenseite nach oben auf den Tisch. »An beiden Daumenwurzeln können Sie zwei ähnliche Narben sehen. Die weißen Stellen. Die hat mir das NKWD zugefügt. Ich wurde damals beim Grenzübertritt erwischt. Aber ich bin davongekommen. Dort, wo die Narben sind, haben sie meine Hände auf einen Tisch genagelt. Und wie Sie sehen können, ist mit meinen kleinen Fingern etwas nicht in Ordnung. Sie haben sie beide gebrochen. Normalerweise haben sie sie nach hinten gebogen und am unteren Gelenk gebrochen. Das ist zwar schmerzhaft, aber die Sanitäter kriegen das wieder hin. In meinem Fall haben sie sie am oberen Gelenk zur Seite gebogen. Da kann man nichts mehr machen.« Er zuckte die Achseln. »Das gehörte zum Spiel. Aber damals war niemand dabei, der die Grundregeln festlegte.«

Mallory nickte. »Danke, daß Sie mir das alles gezeigt haben ... Ich habe es kapiert.«

»Das haben Sie nicht, mein Junge. Noch nicht. Noch lange nicht. Ich habe erst ein paar Hinweise für Sie ausgelegt. Wegweiser sozusagen.«

»Und wann fangen wir an?«

»Heute abend. Kommen Sie her, und essen Sie mit Trixie und mir zu Abend. Danach können wir uns in meinem bescheidenen Arbeitszimmer unterhalten.«

Trixie hatte Getränke, Gläser, Tassen und ein Service mit Zuckerdose und Milchkännchen bereitgestellt. Carter schenkte sich einen Glenlivet ein, Mallory nahm Kaffee.

Carter lehnte sich in seinen Armsessel zurück. »Wir fangen am besten am Anfang an. Der Krieg mit Deutschland war am achten Mai neunzehnhundertfündundvierzig um Mitternacht zu Ende. Ich war Offizier beim Intelligence Corps, dem militärischen Nachrichtendienst, damals noch als Captain, und war dem Hauptquartier des 30. Corps zugeteilt.«

Drecksarbeit

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