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KILLIN, SCHOTTLAND

Time Zero: 15 Stunden

»Hast du schon mal auf einem Motorrad gesessen?«, fragt Kai.

»Nein. Nur auf einem Mofa.«

Kai klappt das Case hinten auf seinem Motorrad auf und holt etwas Rotes heraus. Einen Helm.

»Guck mal, ob er dir passt.« Ich setze den Helm etwas schief auf. Kai richtet ihn gerade. Steckt mir das Haar darunter.

»Bequem?«

»Ja, ist okay.« Ich zögere. »War das ihrer? Ich meine …«

»Ob es Calistas Helm war? Ja. Rot war ihre Lieblingsfarbe. Ihr Haar war so dunkel wie deins, nur …«

»Lang und glatt. Nicht so ein Mopp. Ich habe die falschen Locken-Gene abbekommen.« Fast hätte ich ihm von den Gen-Studien erzählt, die es eines Tages ermöglichen werden, meine Krause in den Griff zu bekommen – ohne stundenlanges Glätten. Denn wer hat dafür schon Zeit?

»Aber es steht dir.« Selbstvergessen spielt er mit einer Haarlocke, die unter meinem Helm hervorquillt. Und als würde ihm plötzlich klar, was er da macht, zieht er hastig die Hand weg.

Er hat mich gebeten, meine derbsten Stiefel anzuziehen, und ich stopfe nun meine Jeans hinein. Anschließend zeigt er mir, wie man aufsteigt und wo man sich festhält.

Dann geht’s los.

Garantiert fährt er meinetwegen langsamer als sonst, aber ich bin im Geschwindigkeitsrausch, genieße, wie die Straße unter uns hinwegfliegt. In Nullkommanichts sind wir in Killin, wofür ich mit dem Rad eine halbe Stunde brauche.

Auf Killins Hauptstraße mit den paar Geschäften, Cafés, der Kirche und dem Pub – was hier eben so als Zivilisation zählt –, drosselt er das Tempo. Strahlend blauer Himmel. Glitzernd spiegelt sich die Morgensonne in den Wasserfällen der Dorchart. Bäume und Berge tragen einen funkelnden Strahlenkranz. Es ist ein warmer Frühlingstag, aber auf den Gipfeln liegt noch Schnee.

Also gut, an einem Tag wie heute ist es ziemlich schön hier. Nur manchmal wäre es mir lieber, es gäbe mehr Menschen, sodass man anonym bleiben kann. Hier weiß jeder gleich, wer Einheimischer und wer Tourist ist. Und wer keines von beidem ist: ich. Trotz meiner schottischen Mutter bin ich offenbar vom anderen Stern.

Wir fahren an ein paar Mädchen aus meiner Schule vorbei, die schon früh am Samstagmorgen unterwegs sind. Ich spüre ihre Blicke im Rücken, als Kai das Motorrad parkt. Darüber können sie sich am Montag im Bus die Mäuler zerreißen. Aber wenigstens ist der Grund dieses Mal groß, blond und gut aussehend.

»War das okay?«, fragt Kai, als er den Helm abnimmt.

»Es war toll!« Ich strahle über das ganze Gesicht.

»Wir können ja mal eine richtige Tour machen, wo man auch ein bisschen Gas geben kann.«

In meinem Bauch kribbelt es. »Gerne«, bringe ich gerade so zustande.

Kai verstaut den Helm in der Box. Über sein Gesicht huscht ein seltsamer Ausdruck, als würde er die Einladung gerade bereuen. Wahrscheinlich hat er es aus reiner Höflichkeit gesagt. Bestimmt hat er es nicht so gemeint. Ich versuche, es mir nicht zu Herzen zu nehmen; Kai hat wirklich gerade andere Sorgen.

»Okay. Wo fängt der Weg an?«, fragt er.

»Komm. Ich zeig’s dir.« Wir laufen über die Straße zur Brücke, die über die Stromschnellen der Dorchart führt. Wie immer lausche ich der Musik des Wassers und ergreife erst wieder das Wort, als wir auf der anderen Seite sind und den Weg unterhalb des Pubs einschlagen. »Warum war deine Schwester überhaupt hier? Wo hat sie gewohnt?«

»Sie war mit Mum in unserem Ferienhaus. Es gehört zu einer kleinen Siedlung südlich des Sees.« Er deutet zum Loch Tay, der aber hinter den Bäumen verborgen liegt.

»Die kenne ich.« Dort stehen eine Handvoll sehr, sehr teure Häuser, die selbst in den Ferien kaum bewohnt sind. Übers Wasser sind sie gut zu erreichen, bloß zu Fuß muss man weit um den See herumlaufen. »Das ist aber ein ganz schönes Stück. Es gibt auch kaum Wege, da muss man an der Straße entlanglaufen. Oder ist sie gerudert?«

»Calista war immer gerne auf dem See. Und ist manchmal auch heimlich ganz allein rausgepaddelt. Doch unser Kanu war noch am Haus.«

»Mal angenommen, sie ist gelaufen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass sie keiner gesehen hat. Hier kennt jeder jeden, weiß, wer wohin gehört. Garantiert wäre sie jemandem aufgefallen.«

»Das hat der Detective auch gesagt. Also muss sie den Weg in den Wald eingeschlagen haben. Oder wurde vom Haus entführt.«

»Was ist mit deiner Mutter? Hat die was gesehen oder gehört?«

Kai schweigt.

»Tut mir leid, wenn ich dich so löchere.« Ich bleibe stehen und zeige zu einem Holperpfad. »Hier kommen wir auf den Fahrradweg. Weiter oben zweigt noch ein unmarkierter Pfad ab, der steil hochführt. Dem folgen wir dann.«

Unterwegs schaue ich immer wieder verstohlen zu Kai. Er wirkt verschlossen, beherrscht, als fürchte er, zu viel von sich preiszugeben.

»Tut mir leid«, sagt er schließlich. »Ist doch völlig in Ordnung, dass du Fragen stellst. Es fällt mir einfach nur schwer, darüber zu reden. Nein, unsere Mutter hat nichts mitbekommen. Als sie morgens spät aufgewacht ist, war Calista verschwunden. Mum hat sich keine Sorgen gemacht, dachte, sie wäre wohl spazieren gegangen oder auf dem See rudern. Aber es wurde immer später. Und als sie nachgeschaut hat, war das Kanu auch noch da. Sie bekam es mit der Angst und rief die Polizei an. Die vermutete, dass sich Calista im Wald verirrt hätte. Suchtrupps wurden organisiert. Tagelang hat man nach ihr gesucht. Keine Spur gefunden.«

»Glaubst du denn, dass sie sich verlaufen hat und …« Ich verstumme. Wie soll ich den Satz beenden?

»Das scheint die Theorie der Polizei zu sein. Dass Calista sich verlaufen hat und sie verletzt war. Und dass man ihre Leiche eines Tages im Wald finden wird.« Bei dem Wort Leiche zuckt er zusammen.

»Aber du glaubst das nicht.«

»Nein. Ich war überzeugt, dass ihr etwas zugestoßen ist. Verlaufen sieht ihr nicht ähnlich. Für ihr Alter war sie ziemlich vernünftig und hatte einen guten Orientierungssinn. Ansonsten gab es ja keinerlei Anhaltspunkte, nichts. Und weil da nichts war …«, er zuckt die Achseln, »hielt die Polizei an ihrer Theorie fest und gab auf.«

»Aber jetzt weißt du, dass ich sie gesehen habe.«

»Ja, nun müssen sie den Fall noch einmal aufrollen«, sagt Kai entschlossen.

Schweigend laufen wir weiter. Kai hat sich so gefreut, dass ich seine Schwester gesehen habe. Doch als er erfuhr, wie lange das schon her ist, habe ich all seine Hoffnungen wieder zunichtegemacht.

Dennoch ist jetzt klar, dass Calista sich nicht einfach verirrt hat. Nun muss die Polizei sich erneut auf die Suche nach ihr begeben. Und das scheint Kais gestrige Zuversicht wieder zu beflügeln.

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