Читать книгу Die Hand des Anubis - Tessa Jones - Страница 11
Kapitel 5
Оглавление»Wohin gehen wir?«
»Wir genehmigen uns jetzt den Kaffee, von dem ich vorhin gesprochen habe«, erklärte Taylor und führte Vidya erhobenen Hauptes aus dem Polizeirevier. Er wusste, dass er das Gesprächsthema schlechthin war. Erneut spürte er all die neugierigen, beinahe entsetzten Blicke seiner Kollegen und Kolleginnen im Rücken. Und genau wie gestern störte es ihn nur marginal.
Seit der Standpauke des Chiefs waren nicht einmal fünf Minuten vergangen und dennoch hatte er völlig vergessen, was er ihm alles an den Kopf geworfen hatte. Er war es eben nicht gewohnt, Befehle zu befolgen. Das lag einfach nicht in seiner Natur.
In New York war er das Alphamännchen gewesen, der Anführer der Task Force. Da würde er hier in Londonderry, trotz Degradierung, nicht damit anfangen, kleine Brötchen zu backen. Und dass er einen Fall an Land gezogen hatte, der Kreise ziehen würde, stand so fest wie das Amen in der Kirche.
Wenn er ganz ehrlich war, wusste er längst, dass das eine Nummer zu groß für das Londonderry P.D war. Gut, dass er da war. Lächelnd führte er Vidya zu seinem Pick-up und half ihr beim Einsteigen.
»Dafür, dass Butcher Ihnen gerade ordentlich den Kopf gewaschen hat, sind Sie verdammt fröhlich«, schmunzelte sie. Ihre Stimme klang amüsiert und ihr Lächeln erreichte sogar ihre Augen, was er äußerst faszinierend fand.
Sobald er hinter dem Steuer seines Wagens saß, ging er auf ihren Kommentar ein. »Natürlich ist er verärgert. Sogar mehr als das! Ich habe über seinen Kopf hinweg entschieden! Das kratzt an seinem Ego.«
»Verstehe!«, stimmte sie ihm zu und nickte aufrichtig.
Während er den Pick-Up geschmeidig über die Straßen von Londonderry lenkte, schaute er immer wieder verstohlen zu seiner Beifahrerin. Warum zum Henker war der Chief so schlecht auf sie zu sprechen? Er hatte wirklich vorgehabt, ihn darauf anzuhauen, aber mal ganz davon abgesehen, dass er kaum zu Wort gekommen war, wollte er die Stimmung nicht noch weiter aufheizen. Und seine Zeit verschwenden schon mal gar nicht!
Außerdem wusste er, dass Vidya in seinem Büro saß und auf ihn wartete. Auf ihn. Es war merkwürdig, beinahe magisch, wie schnell er sich an sie gewöhnt hatte. An eine blinde Frau, die er erst seit kurzem kannte.
Nachdem sind den Parkplatz des Diners erreicht hatten, hielt er ihr erneut seinen Arm hin, den sie dankbar annahm. Ein Windstoß zerzauste ihre Haare, was ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Gleichzeitig hatte er den Geruch von Vanille in seiner Nase. Was für ein interessantes Shampoo!
Gemeinsam nahmen sie in einer kleinen Nische am Ende des Diners Platz und bestellten sich zwei Kaffee. Sie trank ihn schwarz, genau wie er. Das gefiel ihm. Wieder einmal bewunderte er ihre schlanke Silhouette, ihre dunklen Haare und vor allem ihre blau-grauen Augen. Was für eine exotische Kombination.
Nicht, dass es in New York keine schönen Frauen gab, aber so grazil und anmutig wie sie waren die wenigsten. Irgendetwas hatte diese Frau an sich, die einerseits so klug und vernünftig rüberkam, andererseits irgendwie auch schräg. Noch immer wusste er nicht, was er von ihren Visionen halten sollte. Er war lediglich in dem einen Punkt weitergekommen, dass er sich ein paar alte Akten angesehen hatte, um herauszufinden, was an ihren Behauptungen dran war.
Gegen seine ursprüngliche Vermutung, sie sei eine Schwindlerin, sprach auf jeden Fall, dass sie schon bei einigen Fällen hier in Londonderry geholfen hatte. Sie war keine Unbekannte. Na gut, bis gestern war sie das noch gewesen. Zumindest für ihn.
Heute war er gar nicht mehr so traurig darüber, dass seine Kollegen ihn absichtlich ins offene Messer hatten laufen lassen. Ganz im Gegenteil!
Ihre Anwesenheit veränderte ihn. Er hatte zwar keinen blassen Schimmer, wieso und weshalb, aber er war bereit, es herauszufinden.
»Also, Detective, verraten Sie mir nun endlich, was Ihnen durch den Kopf geht?«
»Nichts Gutes«, maulte er mürrisch und nahm noch einen Schluck von seinem Kaffee. Hätte er jetzt ehrlich geantwortet, hätte er ihr sagen müssen, dass er soeben an sie gedacht hatte. Doch wohin das geführt hätte, wollte er sich lieber nicht ausmalen, von daher lenkte er das Gespräch rasch in eine andere, ernstere Richtung. »Das Opfer, Sarah Norrington, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Die Drapierung ihrer Leiche, dann die Sache mit der bronzenen Waage. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Ich auch nicht«, antwortete sie leise, und erneut war zu spüren, wie sehr sie das Ganze mitnahm. »Ich hatte schon viele Visionen. Wirklich. Doch im Moment … habe ich das Gefühl, sie werden um einiges intensiver.«
»Wie meinen Sie das?«, hakte er direkt nach. Ihr Zögern war ihm nicht entgangen.
Vidya atmete tief ein und aus. »Das ist schwer zu beschreiben«, seufzte sie, »außerdem würden Sie mir ja doch nicht glauben.«
Diese Anspielung verstand Taylor sofort. Und irgendwie hatte er sie ja auch verdient. »Nun ja, Versuch macht klug, oder wie heißt es so schön?«
Er lehnte sich etwas zurück und fokussierte sein Gegenüber. Ihm war schon daran gelegen, dass sie ihm alles erzählte, was für den Fall relevant war. Ob er ihr dann glaubte, stand allerdings auf einem anderen Blatt.
»Na gut. Wie Sie wollen!« Leicht trotzig hob sie ihren Blick und sah ihm direkt in die Augen. Gruselig. »Bisher war es immer so, dass ich Dinge gesehen habe. Szenen … Ausschnitte … und diese konnte ich nach und nach zusammensetzen. Jetzt ist es beinahe so, als wäre ich ein Teil dieser Szenen.« Sie schluckte hart. »Ich konnte alles sehen. Den weit geöffneten, leeren Brustkorb, ihr Herz in der bronzenen Waage. Die Feder. Die Schmucksteine auf ihren Brustwirbeln. Der Blick aus ihren Augen, schmerzverzerrt.«
Taylor war schockiert. Irgendwie hatte er nicht mit einer so detaillierten Beschreibung gerechnet. »Das ist ja fürchterlich!«
»Allerdings!« Als Vidya ihn erneut ansah, bekam er einen Kloß im Hals. Ihre Augen waren feucht. »Es ist keine Gabe, auch wenn viele das denken …«
»Es ist ein Fluch«, beendete er ihren Satz, woraufhin ihr eine Träne über die Wange rollte und sie hastig nickte. Aus Reflex griff er nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, sie zu berühren, das war so gar nicht seine Art, und dennoch hatte er aus einem Impuls heraus gehandelt.
Vidya schien nicht weniger überrascht von seiner Reaktion, doch sie zog ihre Hand nicht weg. Stattdessen lächelte sie und nahm erneut einen Schluck aus ihrer Tasse. Es war ihm ein Rätsel, wie sie trotz ihrer Blindheit so geschickt im alltäglichen Umgang mit Gegenständen sein konnte.
»Keine Sorge, Detective«, versuchte sie, die Stimmung ein wenig aufzuhellen, »ich komme schon klar.«
»Wirklich?« Er hatte nicht vor, so besorgt zu klingen, aber er war nun mal skeptisch. Von Geburt an.
»Ja. Wirklich!« Ihr zaghaftes Lächeln verwandelte sich in ein lautes, herzliches Lachen. »Man könnte ja meinen, Sie machen sich Sorgen?«
Er wusste, dass sie ihn nur aufzog, dennoch wollte er antworten. »Natürlich. Jetzt wo wir gemeinsam ermitteln.« Er wählte mit Bedacht dieselben Worte wie sie gestern und ließ sie einen Moment lang nachwirken.
Augenblicklich zuckten ihre Mundwinkel. »Es freut mich, dass wir nun Partner sind, Detective.«
»Ich hatte noch nie einen Partner«, gestand Taylor ehrlich und gab der Bedienung ein Zeichen zum Nachschenken.
»Es gibt für alles ein erstes Mal!« Vidyas anzügliche Antwort überraschte ihn nicht. Sie hatte Feuer, das hatte er gleich gespürt. Und damit spielte sie gern. Trotzdem musste er versuchen, sie als das zu sehen, was sie war. Sie stand ihm lediglich beratend zur Seite, eine Art Arrangement, darauf hatte er sich mit dem Chief geeinigt, und er trug die alleinige Verantwortung. Für sie beide.
»Das ist wahr!« Amüsiert beobachtete er die Kellnerin, die zuerst Vidya und dann ihm erneut nachschenkte. Ihr Lächeln war freundlich, ihre Stimme zuckersüß. Der Ausschnitt ihrer Bluse allerdings ein bisschen zu tief für seinen Geschmack. Er wollte nicht ihren Bauchnabel sehen. Wenn Frauen große Brüste hatten, war das in Ordnung, aber sie mussten ihm nicht gleich auf einem Silbertablett serviert werden. Etwas weniger auffällig wäre auch nett.
Nachdem sie sich wieder von ihrem Tisch entfernt hatte, richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf seine neue Partnerin, die ihn ziemlich ungeniert von oben bis unten ansah. Doch schon einen Bruchteil von einer Sekunde später fiel ihm wieder ein, dass sie blind war. Und dennoch … es war, als würde sie ihm bis auf den Grund seiner Seele blicken. Und sie hatte etwas auf dem Herzen. Das stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.
»Was ist los?«, fragte er, und reduzierte dabei ein wenig seine Lautstärke. Es musste ja nicht jeder hören, worüber sie sprachen. »Sie sehen aus, als würden Sie gleich platzen.«
»Ich bin beeindruckt, Detective!« Zum Beweis zog sie eine Augenbraue hoch. »Sie sehen also zumindest, wenn Ihr Gegenüber etwas von Ihnen will.« Sie machte eine kurze Pause, um ihm Raum zum Nachdenken zu geben. »Aber was sich direkt vor Ihren Augen abspielt, das Offensichtliche, sehen Sie nicht. Das ist interessant!«
Erneut wirkte sie amüsiert, beinahe belustigt. Dabei hatte er keinen blassen Schimmer, was los war. Worauf wollte sie hinaus? Er hoffte auf ein Zeichen, irgendetwas, damit er endlich verstand, was sie ihm sagen wollte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie ihn hatte schmoren lassen, folgte er ihrem Blick Richtung Tresen, zur Bedienung.
»Die Kellnerin?«, rief er überrascht. »Was ist mit ihr?«
»Echt jetzt?« Sie trank genüsslich einen Schluck Kaffee, bevor sie ihn endgültig erlöste. »Haben Sie das nicht bemerkt? Das Zittern in ihrer Stimme, bedingt durch die Nervosität? Der herbe Duft ihres Parfums? Ihre Atmung, die sich beschleunigte, sobald Sie mit ihr gesprochen haben?«
Was? Erschrocken blickte er zuerst Vidya und dann die freundliche Kellnerin an, die seinen Blick umgehend erwiderte. Seine Kinnlade klappte ihm herunter. War das möglich?
»Keine Sorge, Detective«, lachte sie leise, »ich werde Ihnen nicht im Weg stehen.«
»Ha!«, schnaubte er abfällig. Soweit käme es noch. »Ich schätze, Sie interpretieren da zu viel hinein. Außerdem haben wir weitaus Wichtigeres zu tun.« Um ihr gar nicht erst die Gelegenheit zu geben, weiter über die Bedienung zu reden, lenkte er das Gespräch zurück auf ihre Visionen. »Sie haben heute Morgen noch von einer anderen Vision gesprochen. Können Sie mir noch einmal genau erzählen, was Sie gesehen haben?«
»Für Sie? Immer gern!« Vidya atmete tief ein und aus, straffte ihre Schultern und griff erneut zu ihrer Kaffeetasse. Dieses Mal hielt sie sie so krampfhaft fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Mir war kalt. Eiskalt. Und überall um mich herum hingen gut ein Dutzend Körper an massiven Fleischerhaken, mit dem Kopf nach unten und mit glänzenden Ketten, die um ihre Fußknöchel geschlungen waren. Sie alle waren mit Reif überzogen.«
Sie erschauerte, das bemerkte er sofort. Die Gänsehaut auf ihren Armen war nicht zu übersehen. Wenn er ehrlich war, ging es ihm ähnlich. Zwar gruselte er sich nicht so sehr wie sie, dennoch spürte er einen kalten Schauer über seinen Rücken jagen. »Und dann?«
»Tja, dann bin ich aufgewacht. Wobei …« Sie zog die Stirn kraus und presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Irgendetwas war da noch. Das wusste er. »Kurz bevor ich aufwachte, sah ich Licht. Es kam durch einen Spalt in der Tür, aber es war … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.«
»Versuchen Sie es!«, ermutigte er sie. »Sie machen das hervorragend.« Seine Worte waren keine leeren Floskeln, denn er glaubte ihr. Oder wollte es zumindest.
»Ich glaube, es war kein Licht wie von einer Lampe. Es muss etwas anderes gewesen sein, denn es bewegte sich. Es flackerte, wie bei einer Fackel, glaube ich. Aber das klingt seltsam, oder?«
»Garantiert nicht! Es wäre nicht das Schrägste, das ich in den letzten 24 Stunden gesehen habe.« Sofort zermarterte er sich das Gehirn. Ein Kühlraum. Fackeln. Das war tatsächlich sehr bizarr. »Sie sagten, die Leichen wären ebenfalls alle aufgeschnitten gewesen, oder?«
Vidya nickte, bevor sie antwortete. »Ja, genau.«
»Hrm. Irgendwie habe ich das Gefühl, diese Fälle hängen zusammen, aber sicher bin ich mir nicht. Dennoch haben wir jetzt zumindest einen Anhaltspunkt!«
»Ach ja?« Sie klang überrascht.
»Das Kühlhaus. Ich denke, da sollten wir ansetzen. Das ist unsere beste Spur.«
Nun lächelte sie, und endlich verschwanden die Sorgen und Ängste aus ihrem Gesicht. »Na dann, worauf warten wir noch?«
Taylor schmunzelte. Diese Frau war wirklich ganz nach seinem Geschmack. Rasch winkte er der Kellnerin. Da er wusste, dass Vidya alles mitbekam, blieb er freundlich, gab ordentlich Trinkgeld und reichte ihr dann erneut seinen Arm. Sie strahlte, als sie sich bei ihm eingehakt hatte und sie gemeinsam zu seinem Pick-up gingen. Fast so, als ob sie etwas wüsste, das er nicht wusste.
Als er einen Blick auf die Quittung warf, traute er seinen Augen nicht. Lucy, die Bedienung, hatte ihm tatsächlich ihre Handynummer auf die Rückseite gekritzelt. Scheiße!
Das durfte Vidya auf gar keinen Fall erfahren, andernfalls würde sie ihn vermutlich ewig damit aufziehen.