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Kapitel 3

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Was für eine Nacht. Taylor hatte kaum ein Auge zugemacht. Obwohl er schon viele Morde und Schauplätze von Verbrechen gesehen hatte, war die Entdeckung der Leiche an der alten Mülldeponie etwas Besonderes für ihn gewesen. Die Art und Weise, wie sie drapiert worden war, ließ ihn erschauern. So eine perfide Darbietung bekam man selbst in New York nicht oft zu sehen.

Dass noch einige andere Einwohner Londonderrys verschwunden waren, ließ ihn bereits vom Schlimmsten ausgehen. Einem Serienmörder.

Gern hätte er Vidya gestern Abend weiter dazu befragt, doch das Aufgebot der Polizei, Tatortermittlung und Spurensicherung hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, alles im Auge zu behalten und vor allem klarzumachen, dass es sein Fall war. Und dass das auch so bleiben würde, komme was wolle!

Der Obduktionsbericht war vor etwa einer halben Stunde auf seinem Schreibtisch gelandet. Er war unglaublich informativ. Selten hatte er so viel Text in einer Akte vorgefunden.

Bei dem Opfer handelte es sich um Sarah Norrington, eine junge Frau, gebürtig aus Boston. Sie war vor vier Tagen als vermisst gemeldet worden. Der Todeszeitpunkt ließ sich eingrenzen auf den 15. Juli zwischen 9 und 15 Uhr. Als Todesursache war angegeben: massiver Blutverlust durch Fremdeinwirkung. An sich nicht weiter verwunderlich.

Doch alles andere war einfach nur ungewöhnlich. Anders konnte er es nicht beschreiben. Sarah wurde mit einer extrem scharfen Klinge aufgeschlitzt und anschließend ausgeweidet. Die unruhigen Schnittkanten ließen vermuten, dass sie währenddessen sogar noch gelebt haben musste. Zumindest anfangs. Wie barbarisch!

Die Hämatome an ihren Hand- und Fußgelenken sowie am Hals machten unmissverständlich klar, dass sie gefesselt wurde. Zuvor war sie allerdings durch einen Schlag gegen ihre linke Schläfe wehrlos gemacht worden. Sie hatte keine Chance.

Anschließend hatte sich der Täter die Mühe gemacht, den Körper des Opfers komplett zu enthaaren und ihm eine sündhaft teure, aber problemlos online bestellbare Perücke aus Echthaar aufzusetzen. Was für ein kranker Scheiß war das denn?

Taylor hatte ja schon einiges gesehen in seiner Zeit als Detective, doch dieser Fall war mehr als skurril. Entgegen seiner ersten Vermutung war sie keinem sexuellen Verbrechen zum Opfer gefallen, was ihm einen Seufzer der Erleichterung entlockte, und dennoch passte selbst das nicht wirklich ins Bild.

Sie war eine bildhübsche Frau. Gewesen. Der Ort, an dem ihre Leiche gefunden wurde, war nicht der Sterbeort, so viel stand fest. Jedoch musste es einen Grund geben, warum sie ausgerechnet dort abgelegt worden war. Auch die Inszenierung mit der Waage, der Feder und ihrem Herzen musste eine besondere Bedeutung haben. Womöglich war es eine Art Botschaft? Aber welche? Dieser Mord war einfach nur grausam und sadistisch. Ihm fiel auf Anhieb keine vernünftige Erklärung dazu ein.

Vielleicht sollte er sich zunächst einen anderen Fall vornehmen, um sich ein bisschen abzulenken. Taylor griff in seine Schreibtischschublade und holte eine andere Akte heraus. Eine, die dafür sorgte, dass seine Lippen eine dünne Linie bildeten. Gerade als er sie aufschlagen wollte, hörte er ein Geräusch. Es kam ihm merkwürdig bekannt vor.

»Guten Morgen, Detective!«, erkannte er ihre liebliche Stimme, kurz bevor er Vidya McMurran im Türrahmen zu seinem Büro entdeckte.

Sie hatte sich erneut an ihn herangeschlichen, dabei hätte er sie nun wirklich am Laut des Blindenstocks erkennen müssen!

»Miss McMurran!«, rief er erschrocken, fing sich aber sofort wieder und stand auf. »Ähm, ich meine natürlich Vidya. Guten Morgen! Kommen Sie doch herein.«

»Vielen Dank.« Sie lächelte zaghaft und wirkte amüsiert. Vorsichtig tastete sie sich zu dem Stuhl, in dem sie gestern bereits gesessen hatte. »Sie scheinen überrascht, mich hier zu sehen?«

Definitiv! So früh hatte Taylor nicht mit ihr gerechnet. Viel schlimmer allerdings war das Gefühl, dass sie ihn auf frischer Tat ertappt hatte. Rasch packte er die Akte wieder zurück in die Schublade.

»Sorry«, entschuldigte er sich sofort bei ihr, »ich habe kaum geschlafen, die letzte Nacht war sehr unruhig.« Das war die Wahrheit. Und er fand, dass sie es nicht verdient hatte, angelogen oder mit billigen Ausreden abgespeist zu werden.

»Wem sagen Sie das!«

Erst jetzt erkannte Taylor, dass Vidya ebenfalls etwas neben der Spur war. Sie schien betrübt und in sich gekehrt, ganz anders als gestern. Und obwohl es gegen alles sprach, an das er glaubte, musste er sie einfach fragen: »Hatten Sie wieder eine Vision?«

Er hörte, wie sie leise seufzte, kurz bevor sie ihm schilderte, was sie in ihren Träumen gesehen hatte. »Die junge Frau wurde geschlagen, gefesselt und ausgeweidet.«

»Ich weiß«, gestand Taylor und warf erneut einen Blick auf den Obduktionsbericht.

»Allerdings lebte sie noch, während er anfing, sie aufzuschneiden.«

Ihre Worte verursachten augenblicklich eine Gänsehaut bei ihm. Woher zum Teufel wusste sie das bloß alles?

»Sie sagen ja gar nichts mehr, Detective, also nehme ich an, das wussten Sie bereits.«

Ein wenig unbehaglich versuchte Taylor, die Contenance zu wahren. Es war unglaublich, aber alles, was sie sagte, stimmte. Schlimmer noch: es machte sie zur Hauptverdächtigen. Eigentlich.

Unter anderen Umständen hätte er sie längst verhaftet, doch dass diese Frau unschuldig war, roch er zehn Meilen gegen den Wind.

»Sie haben recht. Kurz bevor Sie hier aufgetaucht sind, habe ich den Obduktionsbericht gelesen. Dieser deckt sich eins zu eins mit Ihren Erzählungen.«

Er konnte es immer noch nicht fassen. Ein Medium? Nie im Leben hätte er an so einen Hokuspokus geglaubt. Und dennoch saß sie hier. Bei ihm. Und was sie sagte, traf zu.

»Ich habe es gesehen. Die junge Frau … und wie sie getötet wurde … ausgeweidet … bei lebendigem Leib. Es war fürchterlich.«

Erst jetzt konnte Taylor die Situation richtig einschätzen. Als er die bebende Stimme und ihren entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte, lief es ihm erneut eiskalt den Rücken herunter. Sie war geschockt und hatte vermutlich schreckliche Angst. Was war er nur für ein Idiot!? Er schalt sich selbst einen Dummkopf, dass er nicht gespürt hatte, wie sehr sie das Ganze hier mitnahm.

»Das glaube ich Ihnen, Vidya. Wenn Sie möchten, machen wir eine Pause und trinken einen Kaffee?«

»Das ist lieb«, belächelte sie seinen Versuch, sie abzulenken, »aber da ist noch etwas, das ich Ihnen zuerst erzählen muss.«

Oh je! Wieso zum Teufel beschlich ihn so ein ungutes Gefühl? »Immer raus damit«, forderte er sie auf, nicht ahnend, dass ihm die Lust auf einen Kaffee gleich vergehen würde.

»Ich weiß nicht, ob es etwas mit unserem Fall zu tun hat, aber ich habe noch mehr tote Menschen gesehen. Sie hingen irgendwo.« Sie schluckte schwer.

Detective Taylor fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Wie meinen Sie das, sie hingen?« Er hatte nicht vor, sie zu unterbrechen, doch das Wort hingen bereitete ihm Unbehagen.

»Es waren mehrere Körper … nebeneinander. Sie hingen kopfüber an Fleischerhaken. Und sie alle waren aufgeschnitten und ausgeweidet.«

Taylor sprang aus seinem Stuhl und lief nervös durchs Büro. »Von wie vielen Leichen reden wir hier?«

»Es waren bestimmt ein Dutzend.«

»Heilige Scheiße!«, fluchte er laut. Konnte so etwas möglich sein? Zwei verschiedene Fälle – und beide so unfassbar schrecklich? Oder hing das eine womöglich mit dem anderen zusammen?

»Allerdings!« Es war Vidyas ernste Stimme, die ihn zurück in die Gegenwart holte. »So eine Vision hatte ich vorher noch nie. Es ist, als würde es schlimmer werden.«

Taylor konnte sehen, wie nachdenklich sie plötzlich wirkte. Sie zog die Stirn kraus und schien irgendwie weit, weit weg. Das machte ihn stutzig.

Bevor er jedoch dazu kam, ihr weitere Fragen zu stellen, hörte er draußen vor seiner Tür ein Geräusch. Auch Vidya musste es gehört haben, denn ihr Kopf schnellte augenblicklich nach oben und ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich.

»Detective Scott«, rief Chief Butcher barsch, ehe er ins Büro platzte, »haben Sie etwa eigenhändig entschieden, dass …« Als er Vidya erkannte, blieb er wie angewurzelte stehen und verstummte.

»Guten Morgen«, begrüßte diese ihn zuerst, wobei ihre Stimme äußerst seltsam klang.

»Guten Morgen, Miss McMurran«, tat er es ihr nach. Es hätte höflich klingen können, wenn Taylor nicht gesehen hätte, wie sich dabei sämtliche Muskeln in seinem Gesicht anspannten. Sehr kurios!

»Was kann ich für Sie tun, Chief?«, fragte er so locker wie möglich. Die Stimmung im Büro hatte sich nämlich innerhalb weniger Sekunden um etliche Grad abgekühlt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht! Doch im Moment schien nicht der richtige Zeitpunkt, um der Sache nachzugehen. Außerdem war er mitten im Gespräch mit Vidya. Und die Art und Weise, wie Butcher sie ansah und wie er mit ihr sprach, war unmöglich. Es machte ihn beinahe rasend vor Wut.

»In fünf Minuten in meinem Büro!« Mit diesen Worten drehte er sich abrupt um und verschwand so schnell, wie er erschienen war.

»Ist er nicht ein Charmebolzen?«, fragte Vidya unmittelbar nach seinem Abgang und zog dabei eine Augenbraue hoch.

Diese Frau überraschte ihn immer wieder und brachte ihn zum Lachen.

»Ich dachte schon, ich sei der Einzige, der das so sieht!« Er amüsierte sich köstlich über ihren Humor und darüber, wie gelassen sie die Situation nahm, obwohl eindeutig etwas zwischen den beiden vorgefallen sein musste.

»Keine Sorge, da bin ich ganz bei Ihnen, Detective!« Erneut sah Vidya ihm direkt in die Augen. Wie auch immer sie das anstellte, es war so intensiv, dass Taylor mulmig wurde.

»Ich höre mal nach, was Butcher von mir will. Kann ich Sie so lange allein lassen?«

»Natürlich«, belächelte sie seine Frage. »Ich kann ja ohnehin nichts anstellen in Ihrem Büro.«

Das stimmte. Und dennoch war ihm nicht ganz wohl dabei. Nicht wegen seines Büros oder der vielen Unterlagen, es war vielmehr die Sorge, dass sie quasi schutzlos war. Dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Überhaupt nicht.

»Wobei ich schon gern wüsste«, setzte sie an, und wieder sah sie ihm völlig unverfroren ins Gesicht, »welche Akte Sie da vorhin versucht haben, vor mir zu verstecken. Zu schade, dass ich sie nicht sehen kann.«

Taylors Kinnlade klappte sprichwörtlich herunter. »Woher …?«

Vidya zwinkerte ihm frech zu. »Ich kann vielleicht nichts sehen, aber ich kann hören! Sehr gut sogar. Das sollten Sie nie vergessen, Detective.«

Garantiert nicht! »Ich werde es mir merken!« Unglaublich fasziniert von der jungen Frau, die er erst seit wenigen Stunden kannte, stand er auf und verließ das Büro.

Jede Faser seines Körpers spürte instinktiv, dass es keine so gute Idee war, sich auf sie einzulassen. Er war ihretwegen ständig in einem Zwiespalt der Gefühle. Und obendrein hatte sie etwas in ihm geweckt, wovon er nicht einmal mehr wusste, dass es ihn noch gab: seinen Beschützerinstinkt.

Was würde erst mit ihm passieren, wenn sie länger gemeinsam ermittelten? Seite an Seite?

Diese Frage wollte er sich lieber nicht beantworten. Zumal er es nicht ausstehen konnte, wenn Dinge nicht nach Plan verliefen. Er hatte gern alles unter Kontrolle. Genau wie jetzt. Er wusste bereits, dass der Chief ihm den Arsch aufreißen würde, weil er diesen Fall gegen seinen Willen an sich gerissen hatte, aber das scherte ihn nicht. Ganz im Gegenteil!

Er war ja nicht hier, um es allen recht zu machen.

Die Hand des Anubis

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