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Kapitel 6

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Schweißgebadet und mit einem Schrei fuhr Vidya im Bett auf. Dabei katapultierte sie ihren überrascht fauchenden Kater durchs Schlafzimmer. Sie hörte ihn hinter dem Fußende auf den Boden plumpsen, war aber viel zu aufgewühlt, um sich gedanklich auf das Tier einstellen zu können.

Noch gefangen im Traum betastete sie ihren Oberkörper, davon überzeugt, dort warme Nässe, Blut, zu spüren. Vor Erleichterung schluchzte sie auf, als ihre Finger nur über die feuchte Seide ihres Nachthemdes glitten. Mit zittrigen Knien stand sie auf und ging um das Bett herum.

»Zorro? Komm her, Dicker.« Sie hockte sich hin und streckte die Hand nach ihm aus. Ein Nieser erklang, gefolgt von dunklem Schnurren. Hart stieß der große Katzenkopf gegen ihre Finger. »Tut mir leid, mein Großer. Das wollte ich nicht.«

Mit beiden Händen kraulte sie den Kater hinter den Ohren. Er begleitete sie, seitdem ihre Eltern ihr das orangerote Kätzchen mit den Bernsteinaugen zu ihrem zwölften Geburtstag in den Arm gelegt hatten. Mittlerweile war aus dem tapsigen Baby ein stattlicher Maine-Coon-Kater geworden. Er verteidigte sie und sein Revier, die Wohnung, gnadenlos. Wen er nicht mochte, bekam das sofort zu spüren. Es hatte fünf Anläufe gebraucht, bis er zugelassen hatte, dass sich zweimal die Woche eine Putzfrau um Haushalt und Wäsche kümmern durfte. »Computer, Uhrzeit.«

Die künstliche Intelligenz reagierte mit einem leisen Piepsen und gab dann gehorsam Antwort. Ihr Star Trek verrückter Vater hatte den Namen des Gerätes geändert und Vidya hatte sich daran gewöhnt. Es war seine Art, ein Auge auf seine Tochter zu haben.

Sie stand auf und ging, gefolgt von Zorro, in die Küche. Zielsicher griff sie in den Kühlschrank und gab eine Portion Frischfleisch-Katzenfutter in den Napf. Während der Kater frühstückte, bereitete sie sich einen Kaffee zu. Mit der Tasse in der Hand trat sie auf ihre kleine Dachterrasse und drehte das Gesicht in Richtung der aufgehenden Sonne. Die warmen Strahlen streichelten ihre Haut und halfen, den Schrecken der Nacht zu verdrängen. Oft hatte sie ihre Hellsichtigkeit schon zum Teufel gewünscht. Grade am Anfang, als ihr noch niemand glauben wollte. Als jeder ihre Visionen auf die Nachwehen des Unfalls und die Hirnschwellung zurückführte. Selbst ihre Eltern versuchten, ihr einzureden, sie würde sich alles nur einbilden. Bis ihre „Träume“ anfingen, sich zu bewahrheiten. Dadurch wurde es aber eher schlimmer als besser. Ihr Freundeskreis schwand. Die eine Hälfte wandte sich von ihr ab, weil sie beunruhigt und verunsichert waren, was sie von der Sache halten sollten. Die andere bedrängte sie regelrecht, wollte gezielt dies und das erfahren. Und als sie ihnen nicht geben konnte, wonach sie verlangten, ließen sie sie fallen.

So wie der Detective es jetzt scheinbar tat. Fast eine Woche hatte die Polizei nun schon sämtliche Kühlhäuser der Stadt und des näheren Umlands ge- und durchsucht. Mit jedem neuen Fehlschlag war Scott wortkarger und verschlossener geworden. Sie spürte, dass er begann, an ihren Worten zu zweifeln. Das schmerzte, hatte sie doch das Gefühl gehabt, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte. Nun hatte sie seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört.

»Wäre ja auch zu schön gewesen«, murmelte sie in ihre Tasse – die ihr in der nächsten Sekunde fast vor Schreck aus der Hand gefallen wäre, als es an der Haustür klingelte. Zorro strich ihr um die Beine, als sie zur Tür ging und die Gegensprechanlage betätigte. »Ja, bitte?«

»Hier ist Detective Scott. Ich … ähm, darf ich reinkommen? Es gibt neue Erkenntnisse in unserem Fall.«

Vidya ließ den Knopf los, als hätte sie sich daran verbrannt. Er war hier. Sie hatte an ihn gedacht und nun stand er vor ihrer Tür. Mit bebenden Fingern drückte sie den Türöffner, lauschte seinen Schritten im Flur. Im selben Moment, in dem sie die Wohnungstür aufzog und er scharf einatmete, wurde ihr bewusst, dass sie immer noch nur ihr kurzes, verschwitztes Nachthemd trug. Eine Entschuldigung stammelnd ließ sie ihn in der Tür stehen und eilte ins Schlafzimmer, um sich etwas überzuziehen.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Taylor grade dabei, den dumpf knurrenden Kater zu beruhigen.

»Gutes Kätzchen. Braves Kätzchen. Ich tu dir nichts, wenn du mir nichts tust.«

Vidya lachte auf. »Keine Sorge, Detective, Zorro ist harmlos. Er ist Fremden gegenüber nur ein wenig … voreingenommen. Beachten Sie ihn einfach nicht weiter. Kaffee?«

Mit dem Fuß schob sie ihren felligen Mitbewohner zur Seite und lud ihren Besucher mit einer Geste ein, ihr in die Küche zu folgen.

»Ehm, ja, gern. Was geben Sie dem Vieh zu fressen, das es so riesig geworden ist? Der könnte problemlos den Westhighland Terrier meiner Nachbarin erlegen.«

Stoff raschelte, als er seinen Mantel über die Stuhllehne hing und sich setzte. Vidya grinste, nahm eine weitere Tasse aus dem Schrank und schenkte ihm Kaffee ein.

»Er frisst nur Chihuahuas«, lachte sie und nahm ihm gegenüber Platz. »Was führt Sie zu mir, Detective?«

Vorwürfe, dass er sich nicht mehr gemeldet hatte, wollte sie ihm keine machen. Sie hörte, wie er einen Schluck trank und die Tasse wieder abstellte.

»Die Kühlhäuser haben sich als Sackgasse erwiesen. Keines war auch nur im Geringsten so ausgestattet, wie Sie es gesehen haben. Aber wir haben eine neue Spur. Unsere Forensiker haben Fotos der Waage und der Schmucksteine gemacht. Und bei der Ursprungsermittlung kam nun heraus, dass die Vorlagen der Steine in Boston im Museum liegen. In der ägyptischen Abteilung – in der auch eine Darstellung des Totengerichts inklusive Waage aufgebaut ist.«

Seine Stimme bebte vor Begeisterung, vor Jagdfieber. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sehr seine Augen in diesem Moment leuchteten und auch wie triumphal er vermutlich gerade grinste.

»Das sind ja wunderbare Neuigkeiten. Ich freue mich, dass Sie vorankommen.«

Impulsiv legte sie ihre Hand auf seine. Wie er es umgekehrt im Diner getan hatte. Seine rauen Finger auf ihrer Haut waren angenehm gewesen. Viel zu lange war sie nicht mehr berührt worden. Weder flüchtig noch intensiver. Für einen Herzschlag wünschte sie, sie hätte doch das Nachthemd angelassen. Wer weiß, ob nicht vielleicht … Sei keine Närrin, schalt sie sich in Gedanken. Sicher brauchte und würde sich ein Mann wie Taylor nicht mit einem blinden Mauerblümchen wie ihr abgeben.

»In der Tat«, erwiderte er nun, ohne seine Hand zurückzuziehen. »Ich wollte fragen, ob Sie mich zum Museum begleiten möchten. Eigentlich müsste ich die Kollegen in Boston informieren. Da wir uns allerdings nur mal umsehen wollen, halte ich es nicht für notwendig. Es ist ja keine offizielle Ermittlung. Also, ich weiß, dass Sie die Sachen nicht so wahrnehmen können wie ich, aber vielleicht spüren Sie ja etwas. Und … ich hätte Sie gern dabei.«

Vidya spürte, wie sie rot wurde, deshalb strich sie sich schnell eine Strähne hinter das Ohr, um ihre Nervosität zu überspielen. Sein Eingeständnis erzeugte ein Kribbeln in ihrem Innersten.

»Natürlich komme ich mit, Taylor. Wir sind schließlich Partner.«

Er stutzte leicht unter der vertrauten Ansprache, schien sich dann aber daran zu erinnern, dass sie ihm das Du ja bereits beim ersten Treffen in seinem Büro angeboten hatte. Er hatte es nur gekonnt ignoriert, vermutlich aus Skepsis ihr gegenüber. Doch damit war nun Schluss, das spürte sie.

Synchron und zeitgleich leerten sie ihre Tassen, grinsten darüber beide albern und machten sich auf den Weg.

*****

Die Stille war ohrenbetäubend. Sie waren vor der offiziellen Öffnungszeit im Museum angekommen, und wann immer sie in den riesigen Räumen stehenblieben, war außer ihrem Atem nichts zu hören. Es war wunderbar! Fast unwillig folgte sie dem Wachmann, der sie am Eingang im Empfang genommen hatte und sie nun zum Büro des Kurators führte. Dabei sog sie die vielen unterschiedlichen Gerüche der Ausstellungsstücke ein. Altes Pergament, Kupfer und unzählige weitere Metalle sowie verschiedene Gesteinsarten. Öl- und Salbenreste mit verschiedensten Inhaltsstoffen. Ein sehender Mensch würde diese Palette nur zum Teil, nur die wirklich dominanten Duftnoten, wahrnehmen, sich für den Rest aber zu sehr von seinen Augen ablenken lassen. Wo andere das Gefäß aus Alabaster bestaunen würden, erfreute sie sich an dem Hauch Lotusparfüm, der darin konserviert war.

»Guten Morgen, Herrschaften. Ich bin Prof. Archibald Darrington, Kurator dieses schönen Museums. Meine Sekretärin hat Sie angekündigt. Wie kann ich weiterhelfen?«

Der Händedruck des Mannes war fest, seine Stimme warm und herzlich, mit einem sympathischen britischen Akzent. Er freute sich ehrlich über ihren Besuch. Noch, dachte Vidya und überließ Taylor das Reden.

»Danke für Ihre Zeit, Professor. Ich bin Detective Taylor Scott vom Londonderry P.D., dies ist Vidya McMurran, polizeiliche Beraterin. Wir ermitteln in einer Mordsache und hatten gehofft, dass Sie uns als Fachmann mit den am Tatort aufgefundenen Beweisen weiterhelfen können.«

»Mord? Oh my goodness! Wie fürchterlich. Natürlich helfe ich, wo ich kann. Was genau haben Sie denn entdeckt, dass Sie mich aufsuchen?«

Papier raschelte, als Taylor dem Professor die Fotographie vorlegte. Dieser betrachtete sie, leise vor sich hinmurmelnd.

»Unbelievable! Das scheinen exakte Kopien jener Schutzamulette zu sein, welche sich gegenwärtig in Ausstellungsraum 5 befinden. Im Zuge der Sonderausstellung zum Totengericht und der altägyptischen Bestattungsriten. Und die haben Sie bei einer neuzeitlichen Leiche entdeckt?«

»So ist es. Wenn Sie sagen, dass es sich um Kopien handelt, stellt sich uns natürlich die Frage, wer alles Zugang zu den Objekten hat.«

»Sie vermuten den Täter unter meinen Mitarbeitern? Das ist undenkbar!«, begehrte Darrington auf. »Niemand hier würde es wagen, die antiken Stücke derart zu entweihen. Dafür verbürge ich mich.«

»Wir brauchen trotzdem eine Liste aller in Frage kommender Personen, Sir. Wachleute, Reinigungskräfte, Konservatoren, jeder, der mit den Steinen zu tun hatte oder in ihre Nähe gekommen ist. Und, so leid es mir tut, ich muss Sie fragen, wo Sie am 15. Juli zwischen 9 und 15 Uhr waren.«

»Sie wollen mir doch nicht etwa unterstellen, dass ich etwas mit der Sache zu tun habe!? Ich arbeite zwar mit Leichen, aber meine Toten sind mehrere tausend Jahre alt. Unerhört, dass ich nun verdächtig werde!«

»Bitte beruhigen Sie sich, Professor«, schaltete Vidya sich ein. »Der Detective macht nur seinen Job. Er darf niemanden ausschließen, muss alle Eventualitäten berücksichtigen. Bitte legen Sie nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage.«

»Apropos Waage …« Taylor wählte erneut den direkten Weg. »Wir fanden am Tatort auch einen Nachbau einer Totenwaage, wie sie in Ihrer Ausstellung steht. Wie ist so etwas möglich? Können Sie sich das erklären, Professor?«, hakte er weiter nach.

»Nein, kann ich nicht. Wir haben sie anhand von Grabmalereien nachgebaut. Erst aus Holz, dann wurde sie aus Bronze nachgegossen. Bei dem Objekt im Diorama handelt es sich um die Endversion der Repliken. Die Grundform wurde mehrfach verbessert.«

»Es gab also mehr als nur eine Waage? Was ist mit den anderen passiert?«

Der Professor schien in einer Schublade zu kramen.

»Es waren insgesamt fünf«, nuschelte er, bis er den Zettel endlich gefunden hatte. »Eine steht in der Ausstellung, die anderen wurden schon vor Ewigkeiten zur Gießerei zurückgebracht, um wieder eingeschmolzen zu werden. Hier, die Adresse.«

»Hrm, danke. Zumindest eine davon ist dann wohl nicht dort angekommen«, schlussfolgerte Taylor. »Der Sache werden wir umgehend nachgehen. Vielen Dank, Professor. Wenn Sie mir jetzt noch sagen, wo Sie am 15. Juli waren, sind wir auch schon wieder weg.«

Vidya hörte den Kurator tief durchatmen. Dass er sich ungern zu den Verdächtigen zählen ließ, war klar. Oder er war ein verdammt guter Schauspieler.

»Der 15. war ein Mittwoch, richtig? Mittwochs habe ich frei. Ich war also Zuhause.«

»Kann das jemand bestätigen?«

»Meine Frau. Wir haben uns die Zeit mit Büchern und Musik vertrieben.«

»Sie werden verstehen, dass wir das überprüfen werden. Überprüfen müssen. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, können Sie mich jederzeit erreichen.«

Taylor zog etwas aus der Tasche, dann nahm er Vidyas Arm und führte sie zurück zum Ausgang. So langsam gewöhnte sie sich wirklich an seine Gesellschaft. Vielleicht aber auch nur an seine starken Arme.

Auf halber Strecke hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie blieb stehen und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die unsagbar böse Aura gegen sie gebrandet war.

»Was ist?«, fragte Taylor, der ihre Anspannung zu spüren schien.

»Ich weiß es nicht genau. Kannst du jemanden sehen?«

Er ließ sie los und sah sich langsam um. »Nein, hier ist niemand. Der Wachmann steht erst im nächsten Raum.«

Vidya rieb sich den Nacken, dann glitt ihre Hand zu ihrer Kehle. Blankes Entsetzen griff nach ihr, die Angst drohte sie regelrecht zu ersticken. Mühsam räusperte sie sich. Sie brauchte dringend mehr Informationen und somit die Augen ihres Partners. »Was siehst du? Was ist um uns herum? Bitte beschreib es mir.«

»Vitrinen mit Gefäßen, Werkzeugen zum Einbalsamieren. Und rechts von uns die Skulptur eines liegenden Schakals auf einer Art von rechteckigem Schrank. Laut dem Schild ist sie den Fundstücken in Tutanchamuns Grab nachempfunden. Der Kopf ist leicht geneigt. Ich habe das Gefühl, er sieht uns genau an. Schon gruselig, irgendwie.« Er lachte, einen Hauch verlegen, und fasste ihre Hand etwas fester. »Komm, lass uns hier verschwinden. Bei dem ganzen Kram hier rund um den Tod bekomme ich eine Gänsehaut.«

Vidya nickte und ließ sich von ihm weiterführen. Draußen begrüßte sie warmer Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Aber das unheimliche Gefühl, beobachtet worden zu sein, konnte sie auch später am Tag nicht gänzlich abschütteln.

Die Hand des Anubis

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