Читать книгу Die Hand des Anubis - Tessa Jones - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеDetective Taylor Scott ärgerte sich schwarz. Nicht nur, dass man ihn strafversetzt hatte, man hatte ihn auch noch degradiert! In New York hatte er die schwierigsten Fälle bearbeitet, war immer mitten im Geschehen gewesen. Er gehörte zu einer Task Force, die stets im Verborgenen agierte und die eine Quote von über 90 % hatte, was die Festnahme der Verdächtigen anging.
Hier in Londonderry, New Hampshire, betrug die Einwohnerzahl gerade mal einen Bruchteil von New York. Dementsprechend gering war natürlich auch die Verbrechensrate. Vermutlich war eine Katze auf dem Baum so ziemlich das Aufregendste, was die Menschen hier in den letzten Jahren erlebt hatten.
Seit einigen Wochen allerdings hatte sich etwas geändert. Es lag ein Nebelschleier über dieser kleinen Stadt, unsicher, ob er sie verschlingen oder der Sonne wieder weichen sollte. Ein paar der Bürger hier, wirklich nette Leute, waren verschwunden. Einfach so, von heute auf morgen. Ihre Familien und Freunde rannten das Revier ein und machten eine Vermisstenmeldung nach der anderen. Viele von ihnen glaubten nicht, dass sie freiwillig gegangen waren. Genauso wenig, wie er es tat.
»Weiß hier irgendjemand bereits mehr über die Vermisste?«, brüllte er quer durchs Büro. Dass erneut jemand verschwunden war, hielt er nicht für einen Zufall. Und da er schon mal hier war, würde er sich der Sache auch annehmen. Er hatte ohnehin nichts Besseres zu tun.
»Nein, Sir. Wir gehen davon aus, dass die Frau Londonderry freiwillig verlassen hat«, erwiderte eine junge Polizistin, gerade neu auf dem Revier.
»Das sehe ich anders«, warf er ein, kaum, dass sie zu Ende gesprochen hatte. Allerdings fühlte er sich damit ziemlich allein auf weiter Flur. Seine neuen Kollegen und Kolleginnen schauten ihn völlig desinteressiert an.
»Gibt es überhaupt irgendjemanden hier, der an ein Verbrechen glaubt?«, rief er ein wenig lauter, sodass selbst die Letzten unter ihnen endlich aus ihrem Winterschlaf erwachten.
»Detective Scott, gibt es hier ein Problem?«, fragte der Chief streng und blickte sich um. »Oder schreien Sie nur aus Vergnügen hier herum?«
Clifford Butcher war ein zäher Hund, doch das interessierte Taylor nicht. Nicht im Geringsten. »Vergnügen nenne ich das nicht, wenn beinahe wöchentlich eine neue Person spurlos verschwindet!«
»Wir wissen davon«, knurrte Butcher. »Doch bisher gelten alle Personen nur als vermisst.«
Taylor musste sich sehr zusammenreißen, um seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Es fiel ihm schwer, einfach nur tatenlos zuzusehen, während jede Faser seines Körpers ihm klar und unmissverständlich zu verstehen gab, dass hier etwas nicht stimmte.
»Lassen Sie mich in dem Fall ermitteln«, bat er seinen Vorgesetzten, »und wenn meine Suche ins Leere verläuft, werde ich nie wieder ein Wort über diese Sache verlieren.«
»Es gibt keinen Fall«, murrte dieser. »Niemand außer Ihnen glaubt hier an ein Verbrechen!«
»Das ist so nicht ganz richtig!«
Er blickte sich erschrocken um. Alle Augen im Revier waren auf die junge, hübsche Frau gerichtet, die plötzlich hinter ihm stand. Völlig lautlos hatte sie sich an ihn herangeschlichen, was gerade in seinem Beruf wahnsinnig beunruhigend war.
»Nicht schon wieder …«, murmelte der Chief leise vor sich hin und trat verlegen von einem Bein aufs andere.
Taylor hatte seine Lippen bereits geöffnet, um zu fragen, was Butcher damit gemeint hatte, doch die Besucherin funkte ihm dazwischen.
»Mein Name ist Vidya McMurran«, stellte sie sich vor und ließ ihren Blick dabei durch den Raum schweifen. Wobei Blick vermutlich das falsche Wort war.
Irgendetwas sagte ihm, dass diese Frau mit den schwarzen Haaren und den blau-grauen Augen nicht sehen konnte. Nur warum fühlte er sich dann dermaßen von ihr beobachtet, dass ihm ganz warm ums Herz wurde?
»Was können wir für Sie tun, Miss McMurran?«, ergriff er das Wort. Außer ihm machte niemand Anstalten, ihr Gehör zu schenken. Es war beinahe so, als wollten sie nichts mit ihr zu tun haben.
»Ich habe von den verschwundenen Personen gehört und bin auf der Suche nach dem zuständigen Detective.«
»Das bin ich!«, preschte Taylor vor und machte einen Schritt auf die Unbekannte zu. Er wusste nicht, ob er ihr die Hand geben sollte oder nicht, aber als sie ihm ihre entgegenstreckte, fackelte er nicht lange. »Detective Taylor Scott.«
In dem Moment, in dem er ihre zarte Haut berührte, zuckte er zusammen. Verdammt! Was war das? Wer war diese Frau?
Nach der Berührung lächelte sie leicht. Es war nur minimal, doch es war ihm aufgefallen.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Detective. Sie liegen richtig mit Ihrer Vermutung«, sprach sie leise, aber deutlich. »Die Menschen sind nicht einfach so verschwunden. Sie wurden entführt und umgebracht.«
»Wie kommen Sie darauf?«, ergriff Butcher verärgert das Wort und machte einen Schritt auf die junge Frau zu. Direkt vor ihr blieb er stehen und musterte sie kritisch. Er wusste längst, dass sie ihn nicht sehen konnte. Dennoch blickte sie ihm völlig unverfroren in die Augen, so als ob sie genau wüsste, wann und wie er sie gerade ansah.
»Das würde ich gern mit Detective Scott besprechen.« Sie lächelte freundlich, wissend, dass der Chief kurz davor war, vor Wut zu platzen. »Unter vier Augen«, fügte sie noch hinzu, bevor sie sich umdrehte und geradewegs auf den Detective zuging.
Taylor war überrascht und gleichzeitig fasziniert. Vor wenigen Sekunden hatte er seine Position gewechselt und dennoch wusste sie ganz genau, wo er sich befand. Als sie ihm nun ihren Arm entgegenstreckte, zögerte er nicht. Wie ein Gentleman, der er definitiv nicht war, führte er sie in sein Büro und schloss die Tür.
Sie setzte sich direkt ihm gegenüber an seinem Schreibtisch hin und schlug die Beine übereinander. Er nahm sich einen Moment Zeit, um die Unbekannte ausgiebig zu mustern. Ihre langen Beine waren ihm als erstes aufgefallen, doch auch der Rest an ihr war überaus ansehnlich. Sie wirkte grazil und anmutig, ein wunderhübsches, beinahe exotisches Gesicht und ein wohlgeformter Körper. Die schwarzen Haare und der Teint ihrer Haut ließen nur unschwer ihre indischen Wurzeln erkennen.
»Sie sind also der Meinung, dass den Menschen etwas zugestoßen ist?«, räusperte er sich, als er bemerkte, dass er sie viel zu lange angestarrt hatte.
»Natürlich, genau wie Sie!«
Unwillkürlich musste er lächeln. Ihre Überzeugung gefiel ihm. »Nun ja, ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Jahrelange Erfahrung. Und ich glaube nicht an Zufälle.«
»Glauben Sie denn an Schicksal, Detective Scott?«
»Nicht wirklich.« Andernfalls wäre er wohl kaum hier, in Londonderry, gelandet.
»Verstehe« flüsterte sie, lächelte aber sogleich verschmitzt. »Äußerst schade, denn genau das hat mich hierhergeführt. Zu Ihnen.«
»Wie meinen Sie das? Wissen Sie etwas über die vermissten Personen? Haben Sie etwas gesehen oder gehört?« Noch bevor er seine Worte ausgesprochen hatte, bereute er sie bereits. »Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht …«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn direkt, wissend, dass er sie nicht hatte beleidigen wollen. »Ich kann vielleicht nicht mit den Augen sehen, aber ich sehe manchmal sogar mehr, als mir lieb ist.«
»Ich verstehe nicht«, antwortete er und zog die Stirn kraus. Wollte sie auf etwas Bestimmtes hinaus?
»Ich bin ein Medium.«
Ach du Schreck! Er konnte nichts dafür. Völlig ungläubig starrte er sein Gegenüber an. »Ein Medium?« So langsam dämmerte es ihm. O nein! Plötzlich ergab alles einen Sinn. Die Reaktion des Chiefs … die Stille im Raum … und die Tatsache, dass niemand mit dieser Frau hatte reden wollen. Niemand außer ihm!
»Ich weiß genau, wie das jetzt für Sie klingen mag, doch ich versichere Ihnen, dass ich keine Hochstaplerin bin. Was ich sehe, sind echte Geschehnisse. Manchmal aus der Zukunft, manchmal aus der Vergangenheit. Darauf habe ich keinen Einfluss.«
»Verstehe«, murmelte er. Es wurmte ihn maßlos, dass er so blöd gewesen war und das Medium von Londonderry nicht erkannt hatte. Dabei hatte er ihren Namen schon etliche Male im Pub gehört und als Randvermerk in einigen alten Akten gelesen.
»Ich freue mich, dass Sie zu uns gekommen sind, dennoch denke ich nicht, dass Sie uns in irgendeiner Art und Weise behilflich sein können.«
»Das sehe ich anders, Detective! Auch wenn Sie jetzt die Augen verdrehen und mich für verrückt halten, kann ich Ihnen dennoch helfen, diesen Fall zu lösen. Sie sollten mein Angebot annehmen, zumal es Sie mit Sicherheit wieder zurück nach New York bringen würde. Und genau das ist es doch, was Sie wollen, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?«, rief er erschrocken, und wieso zum Teufel wusste sie, dass er mit den Augen gerollt hatte?
»Ich habe es gesehen … so wie alles. Und ich kann Sie, sofern Sie bereit sind, mir eine Chance zu geben, zu einer Leiche führen.«
»Das ist …« Entsetzt sprang Taylor aus seinem Stuhl. So etwas Verrücktes hatte er ja noch nie gehört. Nervös fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Er zog es ernsthaft in Erwägung, dass ihm jemand einen Streich spielte.
»Sie haben nichts zu verlieren, oder?« Ihre Stimme klang amüsiert und irgendwie anzüglich, was er jedoch mit einem Schulterzucken abtat.
»Das ist wahr«, gestand er mürrisch. Im Prinzip hatte er ja bereits alles verloren. Seinen Job in New York, seine Freunde, sein Zuhause. Natürlich wollte er wieder zurück, doch er konnte nicht. Zumindest noch nicht! Falls er aber einen Fall lösen würde, der Schlagzeilen machte, sah das Ganze womöglich anders aus. Außerdem war Vidya McMurran in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Er hatte schon häufiger Berichte gelesen, in denen das Medium erwähnt worden war, jedoch hätte er niemals, wirklich niemals, eine Frau wie sie erwartet. Sie war blind und konnte glücklicherweise nicht sehen, wie argwöhnisch er sie betrachtete, trotzdem hatte sie etwas an sich, dass ihn unruhig werden ließ. Ihre Gesellschaft war nicht die schlechteste und, da er ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, wagte er einen Versuch. Warum auch nicht? »Na dann, schießen Sie mal los, Miss McMurran.«
»Nennen Sie mich Vidya, bitte«, bat sie höflich und erhob sich. »Jetzt, wo wir gemeinsam ermitteln.«
»Ich habe nicht gesagt, dass wir gemeinsam er…«
»Ganz ruhig, Detective!«, lachte sie amüsiert und hielt ihm wieder ihren Arm hin. »Sie sind viel zu ernst, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«
Statt einer Antwort, presste er die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Ja, so ein, zwei Mal hatte er das bereits gehört, doch das störte ihn relativ wenig. Er lebte nun mal für die Arbeit. Alles andere war nicht wichtig. Zumindest nicht jetzt.
»Wo gehen wir hin?«, fragte er überrascht und nahm vorsichtig ihren Arm. Es fühlte sich komisch an und machte ihn tatsächlich erneut ein bisschen nervös. Nie zuvor hatte er einen blinden Menschen irgendwohin geführt. Er wusste ja nicht einmal, wie das überhaupt funktionierte! Machte er alles richtig? Musste er ihr sagen, wohin sie gingen? Oder sie auf irgendetwas aufmerksam machen? Großer Gott, warum machte er sich plötzlich so viele Gedanken? Für gewöhnlich dachte er nämlich nicht so viel nach, sondern reagierte einfach. Instinktiv.
»Sie sind skeptisch, Detective, und das verstehe ich«, antwortete sie leise, »doch das wird sich schnell ändern. Wir fahren an den Stadtrand, zu der alten Mülldeponie. Ebenda gab es vor etlichen Jahren ein großes Feuer, seitdem ist es Niemandsland und wird gern von den Teeangern zum Feiern und Trinken aufgesucht.«
Das war nicht die Antwort, die Taylor erwartet hatte, und dennoch machte ihn die Vorstellung, dort hinzufahren, leicht kribbelig. »Und verraten Sie mir auch, warum wir ausgerechnet an diesen Ort fahren?«
»Natürlich«, antwortete die Frau an seinem Arm, als wäre es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt. »Da finden wir mindestens eine Leiche.«
Verflucht! Für einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache. »Sind Sie sicher?« Es hatte keinen Sinn, sie mit seinen Blicken zu durchbohren, aber aus alter Gewohnheit tat er es dennoch.
»Ziemlich!«, erwiderte sie direkt, und aus irgendeinem Grund glaubte er ihr. Oder wollte es zumindest gern.
Mit neugierigen Blicken und vermutlich auch schadenfrohem Lächeln seiner Kollegen im Rücken verließ er das Revier und führte Vidya nach draußen zu seinem Wagen. Der riesige, knallrote Pick-up passte so überhaupt nicht in die kleine Stadt Londonderry, aber das interessierte ihn herzlichst wenig.
Er passte schließlich genauso wenig hierher.