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Kapitel 2

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Instinktiv atmete sie ein, als er die Beifahrertür hinter ihr schloss. Zuvor hatte er sie auf die Trittstufe im Einstieg aufmerksam gemacht. Er fuhr einen großen Pick-up, dieser passte zu seinem Ego, fand sie.

Der Innenraum wurde vom Duft seines Aftershave dominiert – eine Mischung aus Schokolade, Amber und Pfeffer. Sie schmunzelte. Er tat so hart und nutzte dann etwas mit Schokonote? Vom Handschuhfach her konnte sie den leicht beißenden Geruch von Waffenöl wahrnehmen.

Die Fahrertür schlug zu und die Sitzfedern quietschten leise, als er sich anschnallte. Sie konnte spüren, dass er sie ansah.

»Zur stillgelegten Müllkippe also. Nun gut, wenn Sie davon überzeugt sind, dass wir dort eine Leiche finden, fahren wir eben dort hin. Wenn sich das Ganze jedoch als Zeitverschwendung rausstellt, …«

»… dann schulde ich Ihnen ein Abendessen«, unterbrach sie ihn mit einem kleinen Lächeln. Bei seinen nächsten Worten konnte sie das leichte Grinsen deutlich hören.

»Mindestens! Immerhin riskiere ich meinen guten Ruf für Sie.«

Sie hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Dass sein Ruf allein deswegen schon leiden würde, weil er ihr zugehört und nun mit ihr die Wache verlassen hatte, behielt sie wohl besser für sich. Grummelnd startete er den Wagen. Unwillkürlich erschauernd presste sie die Oberschenkel gegeneinander, als die starken Vibrationen des Motors sie durchliefen.

Reiß dich zusammen, Vidya, ihr seid auf dem Weg zum Schauplatz eines Verbrechens, schimpfte sie in Gedanken mit sich selbst. Zum Glück schien der Detective nichts zu bemerken. Er tippte energisch auf etwas herum.

»Das Navi kennt unseren Zielort scheinbar nicht. Irgendwelche Vorschläge, Miss McMurran?«

Sein Blick glitt wie eine heiße Nadel über ihre Haut. Menschen in ihrem Umfeld wunderten sich immer wieder, wie intensiv sie Blicke empfand, obwohl sie es ja eigentlich gar nicht sehen konnte, wenn jemand sie anschaute.

»Vidya. Die Mammoth Road runter und gegenüber von Mack’s Apples rechts rein«, erwiderte sie gelassen.

»Na dann«, grollte er und trat aufs Gas. Vidya wurde ins Sitzpolster gepresst, als der Dogde Ram einen Satz nach vorn machte und mit quietschenden Reifen vom Parkplatz auf die Straße schoss.

»Darf ich anmerken, dass Sie nicht mehr in New York sind, Detective Scott? Sie brauchen also nicht fahren wie der letzte Henker.«

Trotzig ließ er den Motor abermals aufheulen, drosselte jedoch zumindest das Tempo. Sie drehte das Gesicht zum Fenster, als wolle sie die Aussicht genießen, verbarg so aber nur das Schmunzeln vor ihm. Irgendwie tat er ihr ein bisschen leid. Er wirkte nett, verpackte das allerdings gekonnt unter einer »Ich bin ein harter Kerl aus der Großstadt«-Schale. Dabei hatte er das gar nicht nötig.

An der Ampel räusperte sich Taylor. Sie wandte ihm das Gesicht zu und hörte ihn überrascht einatmen. Viele Menschen glaubten, Blinde könnten ihr Gegenüber nicht fixieren, würden immer an ihm vorbeisehen. Aber auch wenn ihre Augen ihn nicht wahrnahmen, konnte sie ihm dennoch ins Gesicht blicken.

»Leben Sie schon lange in Londonderry, Vidya?«

Smalltalk auf dem Weg zu einer Leiche? Gut, wenn er meinte.

»Ich wurde hier geboren, Detective. Meine Eltern lernten sich auf dem College kennen. Meine Mutter ist Lehrerin an der örtlichen High School, mein Vater ist bei der Feuerwehr. Irische Tradition, sagt er.«

Er gab ein leises „Hrm“ von sich, dann sprang die Ampel auf Grün und es ging weiter. Vidya krallte sich am Sitz fest, als er ungefähr zwanzig Minuten später von der Hauptstraße auf den mit Schlaglöchern übersäten Schotterweg zur alten Deponie abbog.

»Verwischen wir so nicht mögliche Reifenspuren desjenigen, der die Leiche hergebracht hat?«

Sie schrie auf, als er hart auf die Bremse trat und sie nach vorn geschleudert wurde. Reflexartig fing er sie mit dem rechten Arm ab, ehe der Gurt sie stoppte.

»Tut mir leid! Geht’s Ihnen gut?«

Er packte sie an der Schulter und half ihr, sich wieder richtig hinzusetzen. Dann fluchte er wie ein Droschkenkutscher aus dem Central Park. »Ich fass es nicht, dass ich mich von einem Kleinstadtmedium daran erinnern lassen muss, wie man einen potenziellen Tatort betritt!«

Wütend schlug er mit der Faust auf das Lenkrad. Allerdings schien er sich mehr über sich selbst als über sie zu ärgern. Voller Unbehagen zog sie den Gurt zurecht.

»Ich wollte Sie nicht kri…«, setzte sie an, wurde aber sofort von ihm unterbrochen.

»Ist nicht Ihre Schuld. Ich war mit den Gedanken woanders. Sie haben natürlich vollkommen recht. Wir sollten den Rest zu Fuß gehen.«

Er stellte den Motor ab und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Metall quietschte, als er ausstieg, die Tür zuwarf und dann auf knirschendem Kies zu ihr herüberkam. Bevor er ihr jedoch helfen konnte, war sie schon allein ausgestiegen.

»In der Vision sah ich einen sehr großen, alleinstehenden Baum. Wenn ich mich richtig erinnere, steht genau im Zentrum des Geländes so einer.« Wieder fühlte sie seinen Blick.

»Sie waren nicht immer blind?«

Sie schüttelte den Kopf, während sie ihren Blindenstock aus ihrer Handtasche hervorholte, ihn aufklappte und sich dann, die Tastspitze von links nach rechts über den Boden schwingend, in Bewegung setzte.

»Ein Unfall. Ich war ungefähr sechzehn und einer der Teenager, von denen ich vorhin sprach.«

Sie lächelte schmal, als sie sich an die Abende mit billigem Dosenbier und lauter Musik aus Ghettoblaster-Boxen erinnerte und dem Detective erzählte, was damals passiert war.

»Wir feierten den ersten Springbreak-Tag. Alle aus unserer Klasse waren hier. Die Cheerleader natürlich in knappen Röcken und bauchfreien Tops, jede auf der Jagd nach Anerkennung und einem Jungen für die Nacht. Billy Jenkins, der Quarterback des High-School-Teams, besaß einen gelben Mustang. Ich platzte fast vor Stolz, als er mir erlaubte, mitzufahren. Ich weiß noch, wie ich mich mit einem triumphalen Grinsen zu Lindsay Davenger umgedreht habe, ehe ich einstieg. Jeder nahm an, dass Billy sich auf sie einlassen würde. Sie war Captain des Cheerleading-Teams, Tochter eines reichen Unternehmers. Und hübsch war sie auch noch. Aber er wollte mich. Die dunkelhaarige Außenseiterin aus der Bibliothek. Die, die sonst übersehen wurde. Hätte ich geahnt, wie der Abend endet, hätte ich dem verwöhnten Gör bereitwillig den Vortritt gelassen.«

Ihre Miene verfinstere sich, als vor ihrem inneren Auge die weiteren Ereignisse der Nacht abliefen wie ein Film.

»Billy forderte einen Preis dafür, dass er mich in sein Auto ließ. Er verlangte von mir, mich von ihm anfassen zu lassen. Dass er mit seinen Kumpels eine Wette abgeschlossen hatte, das Mauerblümchen noch vor dem Abschlussball zu entjungfern, habe ich erst später erfahren. Ich habe mich geweigert und in dem Gerangel, als er versuchte, mir dennoch die Hand unters Kleid zu schieben, hat er die Kontrolle über den Wagen verloren. Wir sind von der Straße abgekommen und frontal gegen einen Baum gekracht. Als ich nach drei Wochen im Krankenhaus aus dem Koma aufgewacht bin, war Billy tot und meine Welt schwarz. Die Ärzte erklärten mir, dass durch den Unfall mein Gehirn angeschwollen war und auf den Sehnerv gedrückt habe. Dieser sei dadurch irreparabel geschädigt worden.«

Der Detective atmete tief durch.

»Bitte keine Mitleidsbekundungen, die hatte ich, weiß Gott, genug«, setzte sie nach und glaubte zu hören, wie er den Mund wieder schloss. Dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Sie hörte ihn hektisch in seiner Manteltasche kramen, vermutlich auf der Suche nach seinem Handy.

»Zentrale, hier Detective Scott. Brauche auf dem Gelände der ehemaligen Mülldeponie sofort Verstärkung. Inklusive Spurensicherung und Gerichtsmediziner. Reifenspuren in der Zufahrt sichern. Scott Ende.«

Vidya vernahm die Bestätigung der Zentrale, dann trat Taylor zu ihr und griff nach ihrem Arm. Er sagte nichts, aber sie spürte sein Entsetzen. Zudem wusste sie längst, was er sah. Leider.

Am Fuß des Baumes stand eine mannshohe, bronzene Waage. In der rechten Schale lag eine Straußenfeder, in der linken, die tiefer hing, ein menschliches Herz. Neben dieser an sich schon verstörenden Installation lag eine Frau mit seltsam steifer Frisur auf einem niedrigen, mit einem weißen Tuch verhängten Tisch. Die schwarzen Haare schienen der Schwerkraft zu trotzen. Sie war unbekleidet und so fiel der Blick des Ermittlers direkt in den weit geöffneten, leeren Brustkorb. Brustbein und Rippen fehlten, auf den durch das Gewebe schimmernden Brustwirbeln waren unterschiedlich große Schmucksteine platziert worden. Detective Scott schluckte hart.

»Und das … sie … hat Ihnen Ihre Vision gezeigt?«

»Ja. Und sie ist nicht die einzige. «

»Verflucht! Sie werden mir genau beschreiben, was Sie gesehen haben.«

Vidya nickte mit Tränen in den Augen, während aus der Ferne Sirenengeheul näherkam.

Die Hand des Anubis

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