Читать книгу Seelenverkäufer - Ein Mallorca-Krimi - T.F. Düchting - Страница 10
Donnerstag, 15. Mai, 20:30 Uhr
ОглавлениеAls Xavier von der Straße abbog und die Einfahrt zu seinem Elternhaus hochging, stand die Sonne bereits tief im Westen. Trotz seiner angeschlagenen Knie hatte er wieder die gesamte Strecke von der Finca bis hierhin zu Fuß zurückgelegt. Dieses Mal war er aber den befahrenen Straßen gefolgt und nicht querfeldein gegangen. Das Zusammentreffen mit dem Hünen steckte ihm noch in den Knochen und er hatte den ganzen Weg darüber nachgedacht, was geschehen war. Er hatte sich an das Gebäude herangeschlichen, dieses inspiziert und war dann rüde zu Boden gerissen worden. Xavier fragte sich, wer der Fremde war und ob dieser ihm wirklich etwas antun wollte? Hatte der Mann etwas zu verbergen? Und wenn ja, was war das? Seine Gedanken hatten sich auf dem Heimweg ständig im Kreis gedreht und immer wieder war ihm das Bild des Mannes und vor allem dessen kalten schwarzen Augen erschienen.
Xavier versuchte sich nochmals das Gehöft in Erinnerung zu rufen. Vor seinem geistigen Auge rief er sich die Bilder des Gebäudes ins Gedächtnis und ließ in Gedanken seinen Blick noch mal über die gesamte Front gleiten. Er konnte sich an nichts Auffälliges erinnern. Das Bauernhaus hatte ruhig dagelegen, die Schlagläden waren verschlossen und er hatte kein Geräusch vernommen. Nichts war außergewöhnlich – oder doch? Xavier dachte intensiv nach. War da nicht doch etwas gewesen? Hatte er nicht gerade etwas entdeckt, bevor ihn der Hüne gepackt hatte? Wie hatte es noch ausgesehen?
Er versuchte sich zu erinnern und das Bild vor seinem geistigen Auge Stück für Stück wie bei einem Puzzle zusammenzusetzen. Die Tafel zeigte eine Person, eine sitzende Frau, die ein weites Gewand trug. Und was hatte sie in den Händen? In der einen hielt sie eine Fackel, aber was war das in der anderen? Xavier überlegte intensiv. Es war irgendwie rund, sah aber auch aus wie eine Axt.
In Gedanken versunken erreichte er das Gutshaus, zu seinem Erstaunen war auf dem Hof bereits alles ruhig. Als Xavier auf die Uhr schaute, stellte er fest, dass es schon weit nach zwanzig Uhr war und die gewerblichen Angestellten daher bereits seit längerem Feierabend hatten. Er drückte die Klinke der schweren Eichentür herunter und betrat die Halle. Während er die Tür hinter sich wieder ins Schloss fallen hörte, blickte er durch den großen Raum nach links in den langen Gang, der am Speisezimmer vorbei in den Salon führte. Noch bevor er Cedric sehen konnte, hörte er seine Krallen, die im Takt seiner Bewegungen über den harten Steinboden kratzten. Dann entdeckte Xavier das große Tier, das in schnellen Sätzen und mit wedelndem Schwanz auf ihn zugesprungen kam. Beinahe hätte der Hund ihn umgestoßen, als er versuchte auf dem glatten Boden zu stoppen und dabei weg glitt. Kurz bevor er in Xavier rutschte, kam Cedric zum Stehen, hob seinen Kopf und streckte ihn dem Jungen auffordernd entgegen.
Während Xavier den Hund begrüßte und mit ihm spielte, blickte er wieder den Gang hinunter. Eine schlanke Gestalt erschien im Türrahmen und schaute ihn an. Ana war vor etwa fünfzehn Jahren zu ihnen gekommen. Damals war sie Anfang zwanzig und hatte zunächst als sein Kindermädchen bei ihnen begonnen. Als er fünf oder sechs Jahre alt war, hatte Xavier sich unsterblich in Ana verliebt. Es war eine unschuldige, reine Liebe – ein Gefühl, dass selbst jetzt, wo Letizia in seinem Leben war, nie ganz abgeklungen war.
Seit einigen Jahren brauchte Xavier aber kein Kindermädchen mehr und Ana hatte sich zur guten Seele des Hauses entwickelt. Sie leitete das Personal an, achtete darauf, dass sich die Räumlichkeiten immer in einem tadellosen, repräsentativen Zustand befanden und kümmerte sich um den Einkauf von Lebensmitteln und was der Haushalt sonst noch benötigte. Zudem organisierte sie Empfänge und andere Veranstaltungen, zu denen Xaviers Eltern regelmäßig einluden.
Er schaute Ana an. Sie trug einen schwarzen engen Rock, der kurz oberhalb ihrer Knie endete, und ein weißes Oberteil. Er kannte die Bluse und er liebte sie. Der Stoff war so fein und dünn, dass stets Anas BHs durchschimmerten. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte sie ihn an. Xavier fühlte sich ertappt und war froh, dass Ana zu weit entfernt war, um sehen zu können, dass sein Gesicht rot anlief. Schon öfters hatte er sich gefragt, ob sie wohl seine Gedanken lesen konnte.
„Xavier, da bist du ja endlich. deine Eltern haben bereits nach dir gefragt.“, sagte Ana freundlich.
„Wo sind sie denn?“
„Der Conde ist auf der Terrasse und die Condesa schaut nach den Pferden. Sobald sie wieder da ist, gibt es Abendessen.“
„Okay, ich werde mich noch kurz frisch machen.“ Zügig ging er geradeaus durch die Halle zur Treppe, die hoch zu den Privaträumen führte. Xavier war erleichtert, dass er noch Zeit hatte, sich umzuziehen. Das Letzte, was er wollte, war, dass seine Eltern seine verschmutzte Kleidung sahen und Fragen stellten, denn das Zusammentreffen mit dem Hünen hatte auf Hemd und Hose Spuren hinterlassen.
„Sag mal, humpelst du?“, rief Ana ihm hinterher, als er die Treppe hochging.
„Äh, … ich bin beim Schulsport gefallen“, antwortete Xavier knapp und sprang schnell die Stufen hoch, um aus ihrem Blick zu entweichen.
Nachdem er sich umgezogen, Hände sowie Gesicht in seinem Bad gewaschen und sich gekämmt hatte – seine Mutter legte großen Wert auf ein tadelloses Erscheinungsbild –, verließ er sein Zimmer und stieg die Treppe zur Halle hinab. Während er diese durchquerte und den Gang in Richtung der Repräsentationsräume ging, hörte er bereits das Klappern des Geschirrs, das Ana auf dem Esstisch ausbreitete. Als Xavier das Speisezimmer betrat, bemerkte er, dass seine Eltern bereits anwesend waren. Sein Vater saß auf einem Stuhl und studierte wie an jedem Abend die aktuelle Ausgabe von ‚El País‘, während seine Mutter am Tisch stand und die Teller, das Besteck und die weißen Stoffservietten neu ausrichtete. Xavier hatte noch nie verstanden, warum sie das tat. Für ihn sah das, was Ana machte, immer perfekt aus, aber für seine Mutter machte das Personal viele Dinge nicht ordentlich genug.
Wie immer, wenn er seine Eltern zum Abendessen traf, gab er ihnen zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Er warf einen kurzen Blick auf Cedric, der dösend in einer Ecke lag, dann zog er seinen Stuhl zurück und setzte sich hin.
„Hola Principito, wie geht es dir? Hattest du einen schönen Tag?“ Xavier hasste es, wenn seine Mutter ihn ‚Prinzchen‘ nannte und am schlimmsten war es für ihn, wenn seine Freunde dabei waren.
Noch bevor er antworten konnte, sagte sein Vater, während er die Zeitung nachlässig zusammenlegte: „Wahrscheinlich hat er wieder den ganzen Tag vor seiner Spielekonsole gesessen oder mit seinem Handy gespielt.“
Genervt verzog Xavier die Mundwinkel. „Das ist ein iPhone“, sagte er knapp.
Der Conde ignorierte den Einwand. „Oder hast du etwa heute Nachmittag etwas für die Schule getan? Das wäre ja etwas ganz Neues. Ich bin immer noch der Meinung, dass der Junge in ein Internat gehört, da würde man ihm den Schlendrian austreiben.“
Xavier und seine Mutter schauten sich an und verdrehten die Augen. Beide konnten das Thema, das sein Vater vor einem Jahr erstmals auf den Tisch gebracht hatte, nicht mehr hören. Der Conde sprach es aber immer wieder an. „Wir haben schon oft genug darüber gesprochen. Xavier bleibt hier!“, antwortete seine Mutter energisch. „Er hat mir den ganzen Nachmittag bei den Pferden geholfen. Hier Principito, greif zu, du wirst von der Arbeit sicherlich ganz hungrig sein. Tu es dir gütlich.“ Sie lächelte Xavier verschmitzt an, während sie ihm den Korb mit dem frischen Weißbrot hinhielt.
Er lächelte ebenfalls, griff zunächst ein Stück aus dem Korb und danach einige Scheiben Sobrasada, eine Wurstspezialität der Insel, sowie etwas Schinken von einer Silberplatte, die in der Mitte des großen Tisches stand. Anschließend nahm er noch ein paar Oliven und etwas Aioli, hielt sich aber bewusst zurück, weil er wusste, dass es als Hauptgang noch gegrillten Pulpo mit Kartoffeln und Gemüse gab. Seine Eltern taten es ihm gleich und nahmen ein paar Vorspeisen, während sie eine Konversation über eine Entscheidung begannen, die das Parlament de les Illes Balears in Palma gefasst hatte.
Xavier hörte nicht zu, sondern ließ das Gespräch an sich vorbeigleiten. Er war komplett in seine Gedanken versunken und musste immer wieder an das alte Gehöft denken und daran, was dort passiert war. Irgendwann, er wusste nicht, wie oft ihn seine Mutter bereits angesprochen hatte, holten ihn ihre Worte wieder zurück in die Gegenwart. „Principito, hallo. Möchtest du noch etwas essen, sonst werde ich Ana bitten, abzuräumen und den Pulpo zu servieren.“
„Ja bitte.“ Er richtete sich auf seinem Stuhl auf und wandte sich seinem Vater zu. Gerade als er diesen ansprechen wollte, fragte ihn seine Mutter: „Wie, ja bitte? Was soll das heißen? Ja bitte, ich möchte noch etwas essen? Oder ja bitte, sie kann abräumen?“
Xavier äußerte knapp, dass er letzteres meinte und schaute dann abermals seinen Vater an, der sich wieder seine Zeitung gegriffen hatte. Während seine Mutter aufstand und den Raum verließ, um Ana Bescheid zu geben, fragte er: „Papa, darf ich dich etwas fragen?“
„Sicher mein Junge, nur zu.“
„Das Gehöft vom alten Albiol oben in den Hügeln gehört doch uns, nicht wahr?“
„Ja, warum?“
„Nur so, ich habe letztens daran gedacht, als ich mit Mama dort vorbeigefahren bin. Ich hatte mich gefragt, ob die noch leer steht. Weißt du, was damit ist?“
„Selbstverständlich, weiß ich das.“
Als sein Vater nichts weiter ausführte, hakte Xavier zögerlich nach: „Und?“
Der Conde schaute hinter seiner Zeitung hervor und seinen Sohn aufmerksam an. „Ich habe den Hof verpachtet.“
„An wen?“, brach es aus Xavier hervor.
„An Don Alfonso de Vaca.“
„An Don Alfonso? Was macht der mit einem Gehöft? Ich dachte, er ist in Madrid und sitzt dort im Parlament?“
„Nein, er ist schon seit längerem wieder auf Mallorca. Er ist bei den letzten Wahlen ins Parlament der Balearen gewählt worden und ist nun Abgeordneter in Palma. Don Alfonso hat mir nicht gesagt, warum er den Hof haben möchte. Und ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Neugier ist keine Zier.“
Xavier langweilten die Weisheiten seines Vaters. Er blickte zu diesem herüber, der ihn durchdringend anschaute. Xavier erschrak, er konnte sich nicht erinnern, dass ihn der Conde jemals so ernst angeguckt hatte. Streng fragte dieser: „Warum? Warum interessiert dich das Gehöft so?“
„Nur so, reine Neugier“, antwortete Xavier verunsichert. Plötzlich griff sein Vater nach seinem Arm und hielt diesen fest. Der Conde beugte sich nach vorne und schaute ihn intensiv an. Dann sagte er entschieden: „Du hast dort oben nichts verloren, hast du mich verstanden? Wir haben den Hof verpachtet und daher hast du da nichts mehr zu suchen – ist das klar?“
„Was habt ihr beide denn nun wieder?“ Augenblicklich, als der Conde die Stimme seiner Frau vernahm, ließ er von Xavier ab. Beide schauten zum Türrahmen, in dem die Condesa stand und eine Schüssel mit Trauben und Pfirsichen für den Nachtisch in den Händen hielt.
„Nichts, alles in Ordnung“, sagte der Conde, griff erneut nach seiner Zeitung und vertiefte sich in seine Tageslektüre. Xaviers Mutter betrat den Raum, gefolgt von Ana, die umgehend damit begann, den Tisch abzuräumen.
„Principito, ich habe Padre Enrique getroffen und er fragt, ob du ihm bei der Vorbereitung des Gemeindefests helfen möchtest.“
„Ja, mach ich gerne. Ich geh mal bei ihm vorbei.“
Als Pfarrer der örtlichen Gemeinde war Padre Enrique regelmäßiger Gast auf dem Gut, zumal Xaviers Eltern den Priester, so gut sie konnten, bei dessen Arbeit unterstützten. Dieser hatte die Gemeinde jung übernommen und Xaviers Taufe war das erste große Sakrament, das er nach seiner Ankunft ausgeführt hatte. Das verband die beiden, und der Priester begleitete ihn als väterlicher Freund schon sein gesamtes Leben. Als Xavier den Namen hörte, fasste er den Entschluss, Padre Enrique auf die Prozession und auch auf das Symbol anzusprechen. Als Priester würde er vielleicht wissen, was die seltsame Figur zu bedeuten hatte. Mit seinem Vater konnte Xavier offensichtlich nicht darüber reden.