Читать книгу Seelenverkäufer - Ein Mallorca-Krimi - T.F. Düchting - Страница 5

Donnerstag, 15. Mai, 10:00 Uhr

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Nur mit Mühe fand der Fahrer der Limousine eine Lücke im morgendlichen Berufsverkehr der Frankfurter Innenstadt. Schnell stieß er in diese vor, fuhr an den linken Rand der Einbahnstraße und stellte sich in die Tiefgarageneinfahrt des Hochhauses.

Er schaltete den Motor aus, schaute in den Rückspiegel und wartete darauf, dass sich sein Chef im Fond des Wagens bewegte. Normalerweise reagierte Carl Friedrich von Lauenburg sofort, wenn sie ihr Ziel erreichten. Schnell raffte dieser dann seine Sachen zusammen, warf ihm eine kurze Anweisung zu und verließ zügig das Fahrzeug, um keine Sekunde seiner wertvollen Zeit zu vergeuden. Doch diesmal geschah sekundenlang nichts, gar nichts.

Der Chauffeur blickte in den Spiegel, aber Carl Friedrich von Lauenburg – wie immer tadellos gekleidet und das graumelierte kurzgeschnittene Haar mit einem Scheitel akkurat zur Seite gekämmt – saß regungslos auf der Rückbank. Der Manager war förmlich in sich zusammengesackt und starrte vor sich hin.

„Herr von Lauenburg, wir sind da“, sagte der Fahrer knapp. Aber wieder reagierte sein Chef nicht. Etwas stimmte mit dem sonst so geschäftigen Mann nicht. Üblicherweise sprühte er vor Energie und Vitalität und nutzte jede Minute auf der Fahrt, um Dokumente sowie E-Mails zu bearbeiten oder zu telefonieren. Stattdessen saß er jetzt zusammengesunken da, und das, obwohl Haltung Ausdruck seines preußisch protestantischen Selbstverständnisses und seiner Stellung war.

Der Chauffeur drehte sich auf seinem Sitz um und blickte nach hinten. „Herr von Lauenburg, soll ich Ihnen die Tür öffnen?“

Langsam hob sein Chef den Kopf und schaute ihn für einen kurzen Moment mit leeren ausdruckslosen Augen an – dann begannen diese ihn zu fixieren und von Lauenburg kehrte ins Jetzt zurück.

„Nein, natürlich nicht.“ Der Manager drehte sich kurz um und beobachtete den Verkehr. Als dieser eine kleine Lücke freigab, öffnete er die Wagentür, stieg aus und schlug diese, ohne ein weiteres Wort zu sagen, wieder zu. Zügig ging er um den Wagen herum, öffnete die andere Tür und nahm sein Sakko heraus. Geübt schlüpfte er in dieses, strich seine Krawatte glatt und schloss die beiden Knöpfe seines dunklen Einreihers. Als er die Tür ins Schloss gleiten ließ, fiel sein Blick auf sein Ebenbild, das sich in der Scheibe des Wagens spiegelte. Er erkannte sich kaum und hatte den Eindruck, dass ihn, obwohl er gerade mal Ende fünfzig war, ein alter Mann anschaute. Der Anblick erschreckte ihn.

Von Lauenburg drehte sich um und ging auf den Haupteingang des Gebäudes zu. Als er den gepflasterten Weg entlangschritt, hatte er das Gefühl, dass ein zentnerschweres Gewicht auf ihm lastete und er seine Füße kaum voreinander setzen konnte. Durch eine Drehtür betrat er den ‚Sky-Tower‘, derzeit das höchste Gebäude in der Bankenmetropole. In diesem hatte neben Investmentgesellschaften, Beratungsunternehmen und großen Anwaltskanzleien auch der auf Wirtschaftsthemen ausgerichtete Fernsehsender ‚Business-TV‘ seinen Sitz.

Der Manager ging auf den Empfang zu, der sich auf der linken Seite der Halle befand und mit einer Dame im blauen Kostüm besetzt war.

„Guten Morgen, Lauenburg mein Name, ich habe einen Termin bei ‚b-tv‘.“

Nachdem sie ihn freundlich begrüßt hatte, beugte sich die Empfangsmitarbeiterin vor und durchsuchte eine Art Karteikasten, in dem sich offensichtlich die Besucher-ausweise befanden. Ungeduldig schaute Lauenburg zu, wie sie nervös die Karten durchblätterte. Er hasste es zu warten – und er hasste das Gefühl, dass andere Menschen seine wertvolle Zeit stahlen. Zudem fragte er sich, warum man im 21. Jahrhundert noch mit Besucherausweisen aus Kunststoff und Karteikästen arbeiten musste. Und er ärgerte sich, dass er seinem persönlichen Assistenten heute Morgen gesagt hatte, dass er ihn nicht brauche. Dieser begleitete ihn in der Regel und nahm ihm solche lästigen Dinge ab.

„Rauenberg, …“, flüsterte die Empfangsmitarbeiterin leise und suchte weiterhin hektisch in ihrem Kasten.

„Nein, Lauenburg. Carl Friedrich von Lauenburg. Schauen Sie doch einfach mal unter ‚V‘. So schwer kann das ja nicht sein, Ihr Kasten hat ja nicht die Ausmaße eines Containers“, herrschte er sie an.

„Oh ja, hier haben wir Ihren Ausweis.“ Erleichtert reichte die Dame ihm seine Karte hinüber. „Sie müssen durch die Drehkreuze, dann links zum Aufzug und dann in den …“

Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, unterbrach Lauenburg sie kalt: „Danke, ich kenne den Weg. Ich bin ja nicht das erste Mal hier.“ Er drehte sich um, ging zu einem offenen Fahrstuhl und drückte, nachdem er ihn betreten hatte, den Knopf mit der richtigen Etagennummer. Als sich die Tür schloss, lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Er spürte, wie sich der Lift in Bewegung setzte und ihn zügig auf 195 Meter hoch zur 46. Etage katapultierte.

Oben angekommen, wandte er sich dem Eingang des Fernsehsenders zu. Nachdem er einen Wachmann passiert hatte, stand er am Empfang von ‚b-tv deutschland‘. Von dem Studio aus versorgte der Sender seine Zuschauer mit aktuellen Informationen aus der Wirtschaft, der Finanzwelt und vom Börsenparkett.

„Hallo Herr von Lauenburg!“, begrüßte ihn die Dame am Empfang und lächelte ihm zu.

„Guten Morgen.“

„Es tut mir Leid, Herr Schwarz ist noch nicht da.“

„Kein Problem, dann warte ich eine Sekunde auf ihn.“

„Wenn Sie hier vorne Platz nehmen wollen“, antwortete die Mitarbeiterin des Senders und deutet an, sich von ihrem Stuhl zu erheben.

„Bleiben Sie sitzen. Ich weiß ja wo es hingeht.“

Lauenburg ging rechts am Empfang vorbei und betrat einen kleinen Wartebereich, der nur durch ein großes Salzwasseraquarium vom Empfang getrennt war. Er mochte dieses Becken mit den bunten Fischen, Korallen und Seeigeln. Der Anblick der friedlich dahingleitenden Fische hatte eine sehr beruhigende und entschleunigende Wirkung auf ihn und während er dem bunten Treiben zuschaute, verlor er sich wieder in seinen Gedanken.

„Herr von Lauenburg.“

Jäh wurde er in die Gegenwart zurückgeholt und fragte sich, wie lange er wohl schon dagestanden und in das Aquarium gestarrt hatte. Er wandte sich der Stimme zu und sah die Dame vom Empfang.

„Herr Schwarz hat gerade angerufen. Er steht im Stau und kommt etwas später. Wenn Sie mir folgen wollen. Ich bringe Sie dann rüber in unseren Barbereich, dort können Sie einen Kaffee trinken.“

Auf sein Kopfnicken hin drehte sie sich um und führte ihn den Gang hinunter. Dabei passierten sie das Aufnahmestudio, das eigentlich nur ein kleiner Glaskasten mit einem Tisch vor Kopf und einer Kamera an der gegenüberliegenden Decke war. Dort würde er in Kürze mit dem Redakteur über die allgemeine wirtschaftliche Lage, die Situation am Aktienmarkt und insbesondere über das überdurchschnittliche Wachstum seines Bankhauses sprechen – sollte dieser es durch den Berufsverkehr zum Studio schaffen.

Sie betraten einen offenen Barbereich, in dem Mitarbeiter ihre Pausen verbrachten und Besucher verköstigt wurden.

„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte die Mitarbeiterin vom Empfang.

„Nein Danke, ich habe heute Morgen bereits genug Kaffee gehabt.“

„Etwas anderes vielleicht?“

„Nein. Ich setze mich hier vorn ans Fenster und warte auf Herrn Schwarz.“ Er riss sich zusammen und lächelte.

„Gern“, antwortete die Dame und verließ wieder den Raum.

Lauenburg passierte ein weiteres Salzwasseraquarium und setzte sich an einen kleinen Tisch, der sich unmittelbar an der großen Glasfront befand. Von dort aus konnte er aus dem Fenster über Frankfurt in Richtung Süden schauen. Er liebte den Blick aus großer Höhe über die Stadt und genoss diesen auch immer, wenn er sich zu Besprechungen oder Verhandlungen in einem der Bankentürme aufhielt.

In der Entfernung sah Lauenburg Flugzeuge, die sich wie auf eine Schnur gezogen dem Flughafen näherten, um kurz vor der Landung im Gewirr der Gebäude aus seinem Blick zu verschwinden. Aus dieser Distanz und Höhe wirkten die Maschinen wie kleine Insekten und es hatte den Anschein, als könne er sie mit einer Handbewegung aus der Luft holen. In wenigen Stunden würde auch er in einem dieser Flugzeuge sitzen, um hoffentlich bald mehr Informationen und Gewissheit zu erhalten. Er hoffte, dass der Alptraum bald ein Ende hatte.

Doch zunächst musste er diesen Fernsehtermin erfolgreich hinter sich bringen. Er wusste, was sein Aufsichtsrat, die Aktionäre sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Unternehmens von ihm erwarteten – und er würde diese Erwartungen erfüllen.

„Guten Morgen Herr von Lauenburg“, unterbrach eine Männerstimme seine Gedanken.

„Jetzt gilt es“, dachte er kurz bei sich. Carl Friedrich von Lauenburg nahm Haltung an und drehte sich um.


*

Als er wach wurde, spürte er das sanfte Schwanken seiner an der Mole vertäuten Yacht. Rolf drehte sich im Bett auf den Rücken, schlug die Augen auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Aus dem Bad drang das Rauschen der Dusche an sein Ohr, das sich mit dem leisen Plätschern und Gurgeln des an der Bordwand brechenden Wassers vermischte.

Er fragte sich, welcher Wochentag war und musste einen Moment nachdenken, bis es ihm einfiel. Dienstag. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, als ihm wieder bewusst wurde, wie gut es ihm ging. Vor etwa drei Jahren, kurz nach seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag, hatte er sein Unternehmen in einem Management-Buy­out an seine angestellten Geschäftsführer veräußert. Es war ihm nicht leicht gefallen, die Firma – einen mittelstän­dischen Automobilzulieferer – abzugeben. Aber er wusste die ‚H.W. Kaltenbrenner Fahrzeugteile AG‘ bei den neuen Eigentümern gut aufgehoben.

Früher oder später hätte er das Unternehmen in fremde Hände geben müssen, da weder seine Tochter noch sein Sohn Interesse an der Leitung des Betriebs hatten. Und den­noch hatte er lange darüber nachdenken müssen, schließ­lich war die Firma seit fast einhundert Jahren im Besitz seiner Familie gewesen. Sein Großvater hatte das Unter­nehmen gegründet, dieses dann an Rolfs Vater vermacht und dieser wiederum hatte die Firma an ihn übergeben. Entsprechend schwer hatte Rolf sich mit der Entscheidung getan und es war ein Prozess, der sich über Jahre hinge­zogen hatte. Währenddessen hatte er sich immer wieder aufs Neue gefragt, ob es der richtige Schritt war. Und fort­laufend hatte ihn ein schlechtes Gewissen geplagt und es hatte an ihm genagt, dass er das Geschäft an einen Dritten veräußern und nicht an seine Kinder übergeben wollte.

Aber seit der Trennung von seiner Ehefrau Angelika war das Verhältnis zu seinen Kindern immer schlechter gewor­den. Zunächst hatte es sich nur abgekühlt, aber dann war die Situation eskaliert und es war zum Bruch gekommen.

Während sein Sohn noch verhältnismäßig nüchtern mit der Situation umging, war seine Tochter nach und nach immer aggressiver und beleidigender geworden. Beide wollten nicht akzeptieren, dass es seine freie Entscheidung gewesen war, sich von ihrer Mutter zu trennen. Auch wenn Magda, die neue Frau an seiner Seite, fünfundzwanzig Jahre jünger war als er, so war sie nicht eine von Homers Sirenen, die ihn um den Verstand brachte. Rolf lächelte, als ihm bewusst wurde, dass sie es durchaus verstand, ihm alle Sinne zu rauben. Aber die Trennung war nur zu einem Teil von ihr forciert worden und seine neue Partnerin hatten alle, auch seine Kinder, zu akzeptieren. Es war sein Leben, das er nur ein Mal lebte, und in diesem musste er glücklich werden.

Zu dem Zeitpunkt der Trennung von seiner Ehefrau war er bereits seit Längerem an ihrer Seite nicht mehr glücklich gewesen. Auf dem Weg, den sie dreiundzwanzig Jahre gemeinsam gegangen waren, waren beide irgend­wann an einer Weggabelung in unterschiedliche Richtun­gen abgebogen. Vielleicht waren sie noch eine Zeit lang nebeneinander her gelaufen, aber ihre Wege führten sie immer weiter auseinander. Sie hatten sich unterschiedlich schnell und in verschiedene Richtungen entwickelt und so immer weiter voneinander entfernt. Als er sich dann von ihr getrennt hatte, war es bereits seit Jahren keine glückliche und erfüllte Beziehung mehr gewesen.

Rolf war der festen Überzeugung, dass dies für beide Partner und damit auch für Angelika gegolten hatte. Aber sie hatte es wohl aufgrund des Schmerzes und der Bit­terkeit der Trennung nicht wahr haben wollen. Bis heute gefiel sie sich in der Rolle des Opfers, der Leidenden und der Märtyrerin, die alles für ihn aufgegeben und immer alles für ihn getan hatte, bis ihr dann eine fünfundzwanzig Jahre jüngere Frau den Mann weggeschnappt hatte.

So stellte sie es auch gegenüber den Kindern und Freun­den dar, und versuchte immer noch, ihn und insbeson­dere Magda für das zu bestrafen, was sie ihr vermeintlich angetan hatten. Angelikas Ziel war es, alle gegen sie beide aufwiegeln und sie hatte es auch teilweise geschafft. Was seine Exfrau aber nie verstanden hatte war, dass sie sich damit gedanklich und emotional an etwas band, was längst vorbei war. Indem sie nicht verzieh und gegen diese Bezie­hung ankämpfte, fesselte sie sich an die Vergangenheit, riss immer wieder alte Wunden auf und konnte das Thema für sich nicht abschließen, während Rolf sein neues Leben lebte und glücklich – zumindest glücklicher als vorher – war. Er wusste, dass die Beziehung mit seiner ehemali­gen Frau auch unabhängig von Magda früher oder später gescheitert wäre. Der Prozess war durch ihr Auftauchen lediglich beschleunigt worden.

Rolf erinnerte sich immer gerne daran, wie er Magda bei einem Geschäftsbesuch in Polen kennengelernt hatte. Sie hatte ihn damals vom Frederic Chopin Airport in War­schau abgeholt und ihn mit den Worten begrüßte: „Herr Kaltenbrenner? Meine Name ist Magdalena Wigura und ich bin Ihre Begleiterin in den nächsten drei Tagen.“ Ihre tiefe Stimme und ihr Akzent mit dem rollenden „r“ hat­ten ihn auf Anhieb fasziniert. Zu dem Zeitpunkt hatten beide aber noch nicht geahnt, dass aus den drei Tagen inzwischen sechs Jahre und wahrscheinlich der Rest ihres Lebens – zumindest aber doch seines – werden sollten.

In ihrem roten Kostüm hatte Magda umwerfend ausge­sehen, auch wenn sie für seinen Geschmack etwas zu grell geschminkt und ihre Haare etwas zu blond gefärbt gewe­sen waren. Er hatte sie aber – vielleicht sogar aufgrund dessen – unglaublich attraktiv gefunden und sie hatte eine erotische Anziehung auf ihn ausgeübt, wie er es weder davor noch danach erlebt hatte.

In den folgenden Tagen war sie kaum von seiner Seite gewichen. Sie war als Dolmetscherin aufgetreten, hatte für ihn Termine organisiert und ihn hinsichtlich der landes­spezifischen Besonderheiten im geschäftlichen Umgang und der polnischen Kultur beraten. Und er hatte ihre Gegenwart, sowie ihre angenehme und offene Art mit Menschen umzugehen, genossen. Es war eine wundervolle Zeit gewesen und er hatte gespürt, wie er sich zunehmend zu ihr hingezogen gefühlt und sie immer mehr begehrt hatte.

Sein Herz hatte ihm bis zum Hals geschlagen, als er gemerkt hatte, dass sein Werben offensichtlich auf frucht­baren Boden fiel. An seinem letzten Tag in Warschau hatte er sie dann in eines der teuersten Restaurants der Stadt eingeladen, um sich bei ihr zu bedanken und mit ihr den erfolgreichen Verlauf der Geschäftsreise zu feiern. An die­sem Abend hatte sie ihn dann endgültig erhört und sie hat­ten gemeinsam die Nacht verbracht.

In der Folgezeit war er dann immer häufiger auf ‚Geschäftsreise‘ nach Warschau gefahren und aus der anfänglichen Affäre war eine dauerhafte Beziehung gewor­den. Irgendwann hatte Rolf nicht mehr Versteck spielen und Magda keine Distanzbeziehung mehr führen wollen. Also hatte er ihr kurzerhand eine kleine Wohnung in Heil­bronn gekauft, seine Entscheidung der Familie verkündet und war mit Magda zusammengezogen. Nicht nur seine Kinder, sondern auch viele Freunde und Bekannte hatten sich mit dem von ihm eingeschlagenen Weg schwer getan und manche sich sogar zurückgezogen. Während sich die Gattinnen der Gesellschaft mit Angelika solidarisierten und in Magda den ‚Gold-Digger‘ sahen, neideten die Män­ner ihm wohl die junge, gutaussehende Frau.

Irgendwann war das Leben in Deutschland und die Arbeit nicht mehr zu ertragen, sodass er die Firma abge­geben hatte. Für etwas mehr als zwei Millionen Euro hatte er sich anschließend eine Sunseeker Luxusyacht gekauft, diese von Port Adriano nach Port d’Andratx überführen lassen und verbrachte nun mit Magda den Großteil des Jahres auf Mallorca.

Abrupt wurde Rolf aus seinen Gedanken gerissen, als das Rauschen der Dusche erstarb. Er drehte sich um, schwang die Beine aus dem Bett und blieb auf dessen Kante einen Moment sitzen. Sein Blick fiel auf sein Bild, das im gegenüberliegenden Spiegel zu sehen war und ihm unangenehm die ungeschönte Wahrheit aufzeigte. Rolf saß leicht vornübergebeugt, sein Oberkörper war unbeklei­det und die Rollen seines Bauches hingen über den Bund seiner Boxershort. Die Zeit und das gute Leben hatten unzweifelhaft ihre Spuren hinterlassen.

Mit seinen knapp ein Meter siebzig Körpergröße war er nie ein großer Mann gewesen, hatte dies aber immer mit viel Sport und körperlicher Fitness ausgeglichen. Von dem einst straffen und durchtrainierten Körper war aber nicht mehr viel zu erkennen. Um dem ernüchternden Anblick zu entrinnen, erhob er sich schnell vom Bett, sog die Luft tief in die Lungen, richtete sich auf und spannte die Bauch­muskeln an. Wenn ich den Bauch einziehe, geht‘s, dachte er schon etwas versöhnter bei sich.

Als sich die Tür zum angrenzenden Bad etwas öffnete und der Wasserdampf der heißen Dusche in seine Rich­tung strömte, atmete er wieder aus. Der Spalt zwischen Tür und Rahmen gab den Blick auf Magda und einen Teil ihres wunderschönen Körpers preis. Er ging in ihre Richtung, schob die Tür ganz auf und betrat den Raum.

Magda stand vor dem Badezimmerspiegel und wickelte sich ein Handtuch wie eine Art Turban um ihre nassen Haare – ansonsten war sie unbekleidet. Sein Blick fiel auf die schlanken Fesseln und wanderte an ihren schier endlos langen Beinen nach oben. An den Rundungen ihres Gesä­ßes hielt er kurz inne. Dann betrachtete er ihren makellos geraden Rücken und ihren zarten Nacken, auf dem der Flaum ihrer blonden Haare wie Schaumkronen in einem Strudel ineinander liefe.

Da das Handtuch nicht den gewünschten Halt fand, nahm Magda es wieder ab und startete einen erneuten Versuch. Sie hob die Arme über den Kopf und wickelte den Stoff noch etwas straffer. Im Spiegel konnte er ihre runden Brüste sehen und beobachten, wie sich diese im Takt ihrer Bewegungen hoben und senkten. Er liebte den Anblick ihres jungen Körpers und die Schönheit ihrer natürlichen Nacktheit. Rolf spürte, wie sein Blut in Wallung geriet und sich die Erregung in seinem Unterleib ausbreitete. Vorsich­tig trat er hinter Magda. Er umfasste ihre Brüste, schob sei­nen Unterleib an ihr Gesäß und küsste sie in den Nacken. „Guten Morgen mein Schatz“, flüsterte er ihr zärtlich ins Ohr.

„Niiiecht!“, rief sie und verzog dabei das Gesicht. Schnell schälte sie sich aus seinem Griff, trat einen Schritt zu Seite und nahm ein großes Duschhandtuch aus einem Regal. Kurz tupfte sie sich damit den Schweiß vom Gesicht, der durch die heiße Dusche und die Feuchtigkeit hervorge­rufen wurde, und wickelte dann ihren gesamten Körper darin ein.

Rolf spürte, wie die Erregung ihn wieder verließ. Er nahm seine Zahnbürste aus dem Becher, verstrich Zahn­creme auf dieser und wandte sich seiner Morgentoilette zu.


*

Zischend schloss sich die Schiebetür der Hotellobby hin­ter Jan. Obwohl es gerade erst kurz nach zehn Uhr war, brannte die Sonne bereits so warm, dass sich sein Körper auf dem Weg vom ‚Bon Vivant‘ zurück zum Hotel deutlich aufgeheizt hatte. Aufgrund des Alkohols vom Vorabend schwitzte er besonders und empfand es als Wohltat, als sich die angenehme Kühle der klimatisierten Lobby auf seinen Körper legte.

Beim Durchqueren der Halle blickte Jan zur Rezeption hinüber, die inzwischen mit der Tagesschicht besetzt war. Maria und Jaqueline, zwei junge Frauen vom spanischen Festland, beschäftigten sich mit einer Gruppe deutscher Touristen, die gerade eincheckten. Diese waren wahr­scheinlich am frühen Morgen von Frankfurt, Düsseldorf, Hannover oder wo auch immer gestartet und froh, nun bald ihr Zimmer beziehen und sich an den Pool legen zu können.

Jan ging weiter in Richtung des Büros seines Chefs und als er in den Gang zum Verwaltungsbereich des Hotels abbog, schoss ihm durch den Kopf: „Gehe direkt ins Gefängnis, gehe nicht über Los.“ Aber immerhin hatte der Kaffee bei Inés gut getan: Er fühlte sich bedeutend besser und gewappnet, die Standpauke entgegen zu neh­men.

Als er das Büro erreichte, war die Tür halb geöffnet und er konnte hören, wie sich Señor Arrivira lautstark am Telefon mit einem der Lebensmittellieferanten auseinan­dersetzte. Jan klopfte leise an, schob seinen Kopf durch die Öffnung und schaute in den Raum. Arrivira saß an seinem riesigen Schreibtisch, hinter dem der kleine Mann nahezu verschwand. Er hing förmlich in seinem Stuhl und an seinem Hemd, das sich über den voluminösen Bauch spannte, waren zwei Knöpfe aufgesprungen, sodass Jan den haarigen weißen Bauch sehen konnte. Das Gesicht des Patróns war unrasiert und sein dunkelblondes Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Jan fragte sich immer wie­der, wie man einen solch ungepflegten Mann zum Leiter eines Hotels machen konnte.

Arrivira schaute ihn an und hieß ihn mit einer Armbe­wegung einzutreten. Als Jan sich auf den Stuhl gegenüber des Schreibtischs zubewegte, unterbrach Arrivira kurz das Gespräch und wechselte unmittelbar von Mallorqui­nisch zu einem fast akzentfreien Deutsch. „Mach bitte die Tür zu“, sagte er knapp, dann wandte er sich wieder sei­nem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung zu und erklärte diesem, warum die gelieferte Ware schlecht und seine Preise viel zu überteuert waren.

Während Jan die Tür schloss, fragte er sich, was auf ihn zukommen würde. Offensichtlich sollte es eine längere Pre­digt werden, denn kurze Ansprachen wurden in der Regel bei offener Tür durchgeführt. Er machte es sich auf dem Stuhl gegenüber von Arriviras Schreibtisch bequem und schaute sich gelangweilt um. Zum x-ten Mal betrachtete er das Bild, das an der Wand hinter seinem Chef hing. Es war ein stark vergrößertes, mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommenes Foto der Cala Agulla, des großen Strands im Norden von Cala Rajada. Das Erstaunliche an dem Bild war: Die Bucht war menschenleer. Auch wenn Jan schon seit acht Jahren in Cala Rajada arbeitete, so hatte er den Strand noch nie gesehen – ein Indiz dafür, dass das Bild entweder am frühen Morgen oder außerhalb der Saison aufgenommen worden war.

Jan kannte inzwischen jedes Detail auf dem Foto. Er fragte sich, wie oft er dieses schon betrachtet hatte, wäh­rend sein Chef ihm monologisierend dargelegt hatte, was Urlauber erwarteten und was Jan und sein Team zu tun hatten.

Señor Arrivira beendete das Gespräch und legte das Telefon neben sich auf den Tisch. Mit ungewohnt sanfter Stimme fragte er: „Möchtest du einen Kaffee?“

Jan konnte einen verdutzten Blick nicht vermeiden. Er war überrascht: Sein Chef hatte ihm noch nie ein Getränk angeboten, und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. „Nein Danke, ich habe gerade erst einen gehabt.“

Langsam stand der Patrón auf, wobei er nicht wirklich größer wurde. Er drehte sich um und ging auf das Fenster zu, das sich an einer Seite des Raumes befand. Dann blickte er hinaus, verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und schwieg. Jan sagte ebenfalls kein Wort. Er war irritiert, denn eine solche Verhaltensweise kannte er von seinem Chef nicht. Verschiedene Gedanken schossen Jan durch den Kopf: „Was kommt jetzt? … Ist er vielleicht krank? … Will er umstrukturieren? … Soll das Team verkleinert wer­den? … Es ist aber noch am Anfang der Saison. Das kann er nicht machen, ich brauche jeden in meinem Team. … Möchte er vielleicht wieder einen Plan der nächsten Akti­vitäten haben?“

Arrivira stand weiter einfach nur da und schwieg. End­lich begann er zu sprechen. „Jan, du weißt, ich schätze dich sehr. … Auch wenn wir in der Vergangenheit ab und an Meinungsverschiedenheiten hatten, war ich mit deiner Arbeit immer zufrieden.“ Während er das sagte, schaute er weiter aus dem Fenster.

Abrupt dreht er sich um, zog den Schreibtischstuhl zu sich herüber und ließ sich wieder in diesen fallen. Einen Moment lang schaute er Jan schweigend an, dann fuhr mit ernster Stimme fort: „Du hast aber wahrscheinlich auch mitbekommen, dass die schwierige wirtschaftliche Lage der vergangenen Jahre nicht spurlos an unserer Hotelkette vorbeigegangen ist. Auch wenn wir hier in den vergange­nen Saisons immer einige Monate komplett ausgebucht waren, haben im Konzern die Zahlen bei den Gästen und damit bei Umsatz sowie Gewinn insgesamt immer hinter Plan und Vorjahr gelegen.“

„Okay, aber die ökonomische Situation in Spanien hat sich ja insgesamt deutlich verbessert, oder? Und wenn ich das richtig sehe, hat die Wirtschaft die Talsohle schon durchschritten“, unterbrach Jan seinen Chef. Er wusste noch nicht genau, in welche Richtung der Patrón dachte, aber Jan wollte alles tun, um sein Team zu schützen und ihre Jobs zu erhalten.

„Ja und nein! Das mag auf die Gesamtwirtschaft zutref­fen. Für unseren Konzern haben die ersten Monate des Jahres aber noch nicht den Erfolg gebracht, den wir uns erhofft hatten. Und bei uns ist die Zimmerauslastung bis­her zwar gut, der Umsatz unserer Bars ist aber nach wie vor miserabel.“ Arrivira hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: „Du siehst das doch auch – erinnere dich daran, wie es noch vor einigen Jahren war: Da war an der Poolbar immer etwas los und die Gäste bestellten schon am Nachmittag Wein, Bier oder Cocktails. Und auch die antialkoholischen Getränke gingen gut. Es wurde ein­fach etwas zu trinken geholt, wenn man Durst hatte und es wurde Essen bestellt, wenn man Hunger hatte. Abends waren unsere Bars auch immer voll und es wurde bis spät in die Nacht gefeiert. Und heute? Heute halten unsere Gäste ihr Geld zusammen. Sie bringen Wasser, Cola oder Bier Sixpack-weise ins Hotel. Manche versuchen den Ein­kauf in Plastiktüten oder Strandtaschen zu verbergen, andere transportieren die Getränke ganz offen. Statt etwas an der Bar zu trinken, nehmen sie ihre Getränke mit an den Pool. Abends werden dann Bier oder Wein auf dem Balkon getrunken. … Und ich habe letzte Woche eine Umfrage gelesen, nach der die Europäer auch in diesem Jahr ihr Geld weiter zusammenhalten und für Urlaube nicht mehr ausgeben werden, als im Jahr zuvor. Du siehst, es wird eben nicht besser.“

Arriviras Hang zu monologisieren war Jan immer schon auf die Nerven gegangen, aber dieses Mal war es besonders anstrengend. Er wollte endlich wissen, worauf der Patrón hinaus wollte. Unwirsch fragte er: „Und was bedeutet das?“

Der Hotelmanager schaute ihn mit ernstem Blick an. „Unsere Konzernzentrale hat mich angewiesen, die Perso­nalkosten zu senken. Ich muss Stellen abbauen.“ Er hielt kurz inne, sein Blick schweifte nervös im Zimmer umher, um Jan anschließend wieder zu fixieren. „Es tut mir leid, aber wir müssen uns von dir trennen.“

Die Worte Arriviras trafen Jan wie ein Schlag in den Magen. Er spürte wie ihm die Gesichtszüge entglitten, um dann zu einer Maske zu erstarren. Trotz der Kühle der Klimaanlage begann er zu schwitzen. Jan kniff die Augen zusammen und sagt dann mit scharfer Stimme: „Das ver­stehe ich nicht. Die Saison läuft doch gerade erst sechs Wochen, wie können die jetzt schon deren Erfolg beurtei­len? Und wie können Sie jetzt schon so eine Entscheidung treffen?“ Während Jan das sagte, schaute er dem Patrón in die Augen. Dieser hielt dem Blick nicht stand, sondern drehte sich zur Seite und schaute aus dem Fenster. „Oder anders gefragt: Warum haben Sie sich das nicht vor der Eröffnung im April überlegt? Dann hätte ich noch die Chance gehabt, woanders anzuheuern“, fuhr Jan fort und während er das sagte, merkte er, wie seine Mundwinkel vor Aufregung zitterten.

„Wie gesagt, es geht nicht nur um unser Haus … und die Anweisung kam aus der Zentrale. Die haben die Situ­ation falsch eingeschätzt und gedacht oder vielleicht eher gehofft, dass das Geschäft in diesem Jahr wieder anzieht.“

„Das ist doch Bullshit!“, unterbrach Jan aufgebracht. „Die Zentrale hat Ihnen doch nicht gesagt: Werfen Sie Jan raus! Warum gerade ich? Die Gäste wünschen sich Enter­tainment und mein Team hat in den vergangenen Jahren bei den Gästebefragungen immer extrem gut abgeschnit­ten. Und wir beide haben doch auch immer gut zusam­mengearbeitet, oder?“

„Jan, das ist es nicht. Ich war mit deiner Leistung immer sehr zufrieden. Wir müssen nun aber mit einem kleine­ren Team auskommen. Lukas wird deinen Job mitmachen.

Aufgrund deiner Erfahrung und deines Alters bist du ein­fach zu teurer. … Es tut mir leid.“

„Lukas kann doch nicht das Team leiten. Er ist viel zu jung und für ihn ist das erst die zweite Saison.“

„Er wird das schaffen.“

„Ab wann?“

„Ab sofort. Ich muss umgehend die Kosten reduzieren und dich von der Gehaltsliste streichen. Wir haben aber beschlossen, dass wir dir aufgrund unserer guten und lang­jährigen Zusammenarbeit noch ein Monatsgehalt zahlen werden. Und für dich hat es den Vorteil, dass du jetzt, wo die Saison noch relativ am Anfang steht, auch noch eher einen anderen Job findest.“ Während Arrivira das sagte, schaute er Jan mit einem gönnerhaften Blick an.

„Das ist doch Blödsinn!“, brach es aus Jan heraus. „Zum einen müssen Sie mir aufgrund meines Arbeitsvertrages eh noch das Gehalt zahlen, weil ich eine Kündigungsfrist von vier Wochen habe. Und zum anderen läuft die Saison schon. Und noch mal: Ich denke, Sie sind mit mir zufrie­den?“

„Die Zentrale …“

Jan verzog das Gesicht, sodass Arrivira zu sprechen auf­hörte. Nach einer kurzen Pause begann der Patrón erneut: „Du kannst selbstverständlich noch in deinem Apparte­ment wohnen bleiben, bis du etwas neues gefunden hast. Möglicherweise können wir auch eine Lösung finden, so dass du das Zimmer weiter mieten kannst.“

Jan beugte sich in seinem Stuhl nach vorne und nahm eine kämpferische Haltung ein. Er spürte, wie das Blut vor Wut in seinen Adern pulsierte. In den vergangenen Jahren hatte er immer gerne für das Hotel gearbeitet, auch wenn sein Gehalt nie besonders gut gewesen war. Er hatte stets sein Bestes gegeben und hatte nie auf die Uhr geschaut. Jan war immer für seine Gäste da gewesen und diese hatten immer an erster Stelle gestanden. Und er war auch immer bereit gewesen, die berühmte Extrameile zu gehen. Auch als die Gästezahlen vor ein paar Jahren mal zurückgegan­gen waren und sich die Stimmung bei den Mitarbeitern verschlechtert hatte, war er derjenige gewesen, der immer wieder versucht hatte, die Kolleginnen und Kollegen zu motivieren. Manchmal hatte er sich mehr als Animateur des gesamten Hotelpersonals als der Gäste gefühlt. Den­noch hatte er nie ein adäquates Gehalt bezogen und seine Engagement war niemals wirklich honoriert worden. Ganz im Gegenteil – als Dank wurde er nun durch einen jünge­ren Kollegen ersetzt, der gerade einmal die Hälfte von ihm verdiente.

Jan hätte seine Wut herausschreien können. Die Unge­rechtigkeit und Hilflosigkeit ließen ihm die Tränen in die Augen steigen. Mit wutunterdrückter Stimme sagte er: „Um ehrlich zu sein, lege ich da echt keinen Wert drauf. Das Appartement ist eh eine Bruchbude. Ich ziehe heute noch aus.“

Just in dem Moment, in dem er den Satz ausgesprochen hatte, wusste er, dass dies nicht vernünftig war. Aber sein Stolz gebot ihm, das Angebot auszuschlagen. Er wollte nicht den Rest seiner Würde verlieren und von des Patróns Gnaden in einem zweitklassigen Appartement wohnen und weiterhin dessen Launen ausgesetzt sein.

„Wie du meinst“, antwortete Arrivira kühl. „Ich werde dein Nettogehalt für den Monat heute noch überweisen.“

„Ich möchte es jetzt und ich möchte es in bar haben.“

Ohne ein Wort zu sagen stand der Patrón auf und ging zum Geldschrank, der in einer Ecke des Büros stand. Mit ungelenken Bewegungen stellt er sich bewusst so, dass Jan die Tastatur nicht sehen konnte. Es war ein alberner Anblick, wie der kleine übergewichtige Mann sich leicht vorbeugte und sein Gesäß vorschob und nach links und rechts bewegte.

Jan hörte, wie die Tasten piepsten, als Arrivira den Code eingab und wie sich mit einem elektronischen Surren die Tür entriegelte. Der Manager beugte sich in den Safe. Dann trat er einen Schritt zurück, schob die Tür zu, und drehte sich um. Jan konnte sehen, dass Arrivira ein Bündel Scheine in der Hand hielt. Der Manager stellte sich seitlich an den Schreibtisch, legte die Scheine auf den Tisch und fing laut an, das Geld zu zählen: „Einhundert, zweihundert, dreihundert, … tausendvierhundert, tausendfünfhundert, tausendfünfhundertfünfzig.“ Nachdem er geendet hatte, ging er schweigend um den Tisch herum und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. „Wohin soll ich dein Zeugnis schi­cken?“, fragte er kühl.

„Hinterlegen Sie es an der Rezeption, ich werde es ir­gendwann abholen. Gibt es sonst noch was?“

Arrivira schüttelte den Kopf.

Jan erhob sich. „Gut, dann werde ich das Appartement jetzt räumen.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und ver­ließ ohne ein weiteres Wort den Raum.


*

Rolf hatte sich ausgiebig die Zähne geputzt, der bittere Geschmack hatte aber nicht weichen wollen. Er mochte es nicht, wenn Magda ihn abwies – es kränkte ihn. Aber sie machte es immer wieder und er fühlte sich oftmals wie ein Bittsteller.

Er trat vor den Kleiderschrank und betrachtete erneut sein Bild im Spiegel der Schranktüren. Auch wenn er noch weit davon entfernt war, eine Glatze zu haben, so war sein dunkelblondes Haar über die Jahre schütterer geworden und die Geheimratsecken wuchsen. Auch seinem Gesicht sah man die Jahre an. Rolfs Augen glitten über seinen Kör­per, der ihm nach der Abweisung durch Magda noch älter vorkam. Der Anblick wurde ihm unerträglich und mit einer schnellen Armbewegung schob er die Schranktür und damit sein Bild beiseite.

Aus einem der unteren Schubfächer nahm er eine akku­rat gebügelte Boxershorts und schlüpfte hinein. Anschlie­ßend griff er sich ein weißes T-Shirt, das auf einem auf einheitliche Größe gefalteten Stapel lag, zog es an und stieg dann in eine sandfarbene, geglättete Baumwollshorts. Als er das frisch gebügelte Hemd aus dem Schrank nahm, hielt er kurz inne. Rolf untersuchte den Stoff und hielt nach Fal­ten oder Knicken Ausschau. Zufrieden stellte er fest, dass Martha, seine Bügelfrau, wieder hervorragende Arbeit geleistet hatte. Er liebte den Anblick, den Geruch und das Gefühl frisch gestärkter und gebügelter Hemden. Für ihn spiegelte das Ordnung und Sauberkeit wider, die er schon als Kind sehr geschätzt hatte. Er achtete sehr darauf und wusste, dass er damit sein Umfeld manches Mal zur Weiß­glut trieb – aber es war ihm egal, für ihn waren das Werte, die ihm wichtig waren.

Nachdem er das Hemd übergezogen und bis zum vor­letzten Knopf am Kragen geschlossen hatte, schob Rolf die Tür zu und betrachtete sich erneut im Spiegel. Ordentlich gekleidet, empfand er seinen Anblick weitaus erträgli­cher. Rolf verließ die Kajüte, stieg ein paar Stufen hoch und erreichte den großzügigen Wohnbereich. Zügig ging er auf die getönte Glasschiebtür zu, die das Innere des Bootes von der unteren Außenterrasse trennte, dann trat er an Deck.

Magda saß auf ihrem Stammplatz auf dem Lounge-Sofa. Sie lackierte sich die Fußnägel und zwischen ihren Zehen befanden sich kleine Schaumstoffstückchen, welche die Nägel auf Distanz zueinander hielten. Rolf hatte diesen Anblick schon immer albern gefunden. Einer erwachse­nen Frau dabei zuzusehen, wie sie sich Kunststoffrollen zwischen ihre Zehen schob und ihre Nägel mit der Akribie eines Künstlers bemalte – das war nicht seine Welt. Meist störte ihn der Anblick nicht, sondern war ihm gleichgültig, heute aber machte er ihn aggressiv.

Magda war jung, gesund und vor allem intelligent. Es gab also keinen Grund dafür, dass sich ihr Lebenssinn und ihr ganzes Streben auf ihr Äußeres und die Pflege ihres Körpers beschränkten. Die Pflege eines Körpers, den er zwar nach wie vor für das Schönste hielt, was er je gesehen hatte, den sie ihm aber immer häufiger vorenthielt. Nur mit Mühe konnte sich Rolf zügeln, keinen bissigen Kom­mentar abzugeben.

Wie immer nahm er gegenüber von Magda Platz und wie jeden Morgen nahm er die Zeitung und vergrub sich in diese. Magda schaute nur kurz auf und widmete sich dann wieder ihren Lackarbeiten. Tief im Innersten verspürte Rolf etwas wie Erleichterung und Dankbarkeit dafür, dass die Kosmetikindustrie Schaumstoffröllchen und Nagellack entwickelt hatte. Beide Erfindungen garantierten ihm min­destens dreißig Minuten Ruhe.


Seelenverkäufer - Ein Mallorca-Krimi

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