Читать книгу Seelenverkäufer - Ein Mallorca-Krimi - T.F. Düchting - Страница 8
Donnerstag, 15. Mai, 17:00 Uhr
ОглавлениеAls Xavier die Biegung des Weges hinter sich gelassen hatte, stachen ihm die Sonnenstrahlen direkt in die Augen. Er nahm die Sonnenbrille, die er sich ins Haar gesteckt hatte, und setzt diese auf. Trotz der getönten Gläser empfand er die Helligkeit immer noch als unangenehm und fragte sich, ob dies mit dem zu kurz gekommenen Schlaf der vergangenen Nacht zusammenhing.
Nachdem am Abend vorher die nächtliche Prozession in dem Bauernhaus verschwunden war, war Xavier geradewegs nach Hause gelaufen. Er hatte noch nicht einmal den Mut gehabt, sich umzuschauen, geschweige denn anzuhalten. Als er etwa zwanzig Minuten später sein Elternhaus erreicht hatte, war er völlig außer Atem. Sämtliche Lichter des Gebäudes waren bereits gelöscht, lediglich die beiden kleinen alten Außenleuchten hatten den Hof vor dem Herrenhaus in ein diffuses Licht getaucht. Im Mondschein hatte das Anwesen friedlich dagelegen, aber die Ruhe, die es ausstrahlte, hatte sich nicht auf Xavier übertragen. Ganz im Gegenteil, er hatte sie als fast bedrohlich empfunden.
Als er die Haustür erreichte, hatten die Bewegungsmelder die beiden großen Lichtstrahler eingeschaltet, die über dem Portal angebracht waren. Augenblicklich war es um ihn taghell geworden und er hatte im gleißenden Licht der Scheinwerfer gestanden. Xavier war vor Schreck fast erstarrt. Er hatte nicht mehr an die Strahler gedacht und hatte das Gefühl gehabt, dass man ihn nun kilometerweit sehen konnte. Mit nervösen Bewegungen hatte er den Haustürschlüssel aus seiner Hosentasche gezogen, war dabei aber so fahrig gewesen, dass ihm dieser aus der Hand geglitten war.
Schnell hatte sich Xavier gebückt und den Schlüssel hektisch aufgehoben, doch als er versucht hatte, diesen ins Schloss zu führen, hatte er einfach nicht passen wollen. Xavier wusste nicht mehr, wie viele Versuche er gebraucht hatte, aber irgendwann war es ihm dann endlich gelungen, die schwere Eichentür einen Spalt zu öffnen. Eilig war er ins Innere des Gebäudes geschlüpft, hatte die Tür schnell ins Schloss gedrückt und zweimal von innen verriegelt. Erst als er das metallische Geräusch des schließenden Zylinders vernommen hatte, hatte Xavier sich sicherer gefühlt.
Mit dem Rücken an die Tür gelehnt, hatte er einen Moment in die Dunkelheit gelauscht. Als er nur seinen nervösen und hektischen Atem vernommen hatte, war er an der Tür herabgeglitten und hatte sich auf den Boden sinken lassen. Sein Herz hatte wie wild geschlagen und Schweiß war ihm aus allen Poren getreten. Nachdem er eine Weile so dagesessen und sich sein Puls wieder beruhigt hatte, war Xavier aufgestanden und hatte zügig die große Eingangshalle durchquert. Anschließend war er die Treppe hinauf gestürzt und zu seinem Zimmer gelaufen. Hektisch hatte er sich entkleidet, ins Bett gelegt und die Decke bis über seinen Kopf gezogen. Xavier wusste nicht, wie lange er noch wachgelegen hatte, bis er in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Das nächste, an das er sich erinnern konnte, war, dass ihn seine Mutter wie jeden Morgen zeitig geweckt hatte. Nach einem kurzen schweigsamen Frühstück, hatte sie ihn wie immer zur Schule gefahren.
Allerdings hatte es ihn heute große Mühe gekostet, ruhig auf seinem Stuhl zu sitzen und dem Unterricht zu folgen – das Gesehene beschäftigte ihn zu sehr. Jede Minute hatte er den Schulschluss am Nachmittag herbeigesehnt und war dann nach Unterrichtsende ohne sich von Letizia und den anderen Mitschülern zu verabschieden direkt zu Fuß in Richtung des alten Gehöfts aufgebrochen.
Während er über den gestrigen Abend nachdachte, wurde ihm bewusst, dass Cedric, der irische Wolfshund seines Vaters, nicht da gewesen war. Zumindest hatte er Xavier nicht wie sonst schwanzwedelnd begrüßt. Auch wenn Cedric mit einer Schulterhöhe von über 80 cm sehr beeindruckend war, so taugte er nicht zum Wachhund. Bisher hatte er nicht ein einziges Mal angeschlagen und gebellt, wenn Xavier spät in der Nacht nach Hause gekommen war. Vielmehr war er meist ruhig und freundlich mit dem Schwanz wedelnd an getrottet gekommen. Aber gestern war das nicht der Fall und Xavier wunderte sich warum.
Sein Blick fiel wieder auf den Weg und er bekam erneut ein flaues Gefühl im Magen: Er ging dieselbe Strecke, die wenige Stunden zuvor die seltsame Prozession lang geschritten war. Xavier verließ den Weg und ging hangaufwärts über einen schmalen Pfad quer durchs Gelände. Bei jedem Schritt spürte er die Prellungen an den Knien von seinem Sturz der vergangenen Nacht. Die Schmerzen erinnerten ihn daran, wie er in Panik den Hang hinunter gestolpert und gefallen war. Diesmal ging er erheblich langsamer und bewegte sich Schritt für Schritt auf die Stelle zu, von der aus er in der vergangenen Nacht das Geschehen beobachtete hatte.
Xavier hielt kurz inne: Er blickte den Hang hinunter und fragte sich, ob es richtig war, dass er zu dem alten Gehöft zurückkehrte. Je näher er ihm kam, desto mehr machten sich Verunsicherung und auch Angst in ihm breit, da er nicht wusste, was ihn erwartete. Auf der anderen Seite hatte ihn die Neugier gepackt und er wollte unbedingt wissen, was er in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Die Erinnerungen waren noch frisch, sie kamen ihm aber auch sehr irreal vor. Hatte er das wirklich alles gesehen? Hatten sich tatsächlich Gestalten durch die Nacht bewegt? War das Gebäude wirklich von innen erleuchtet gewesen oder hatte es im Wechselspiel von Mond und Wolken nur so ausgesehen? Es war spät gewesen und trotz des Vollmonds hatten die Wolken nur ein diffuses Licht zugelassen. Hatte er sich vielleicht doch alles nur eingebildet? Xavier war sich plötzlich nicht mehr sicher und begann an seinen Erinnerungen zu zweifeln. Um herauszufinden, ob er sich vielleicht doch getäuscht hatte, musste er wieder zu dem alten Gehöft.
Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Festen und entschlossenen Schrittes ging er den Hang entlang. Nur noch wenige Schritte, das wusste er, und er würde das Gebäude sehen können. Xavier folgte dem Bogen, den der Hang machte. Als erstes erschien in der Ferne nur die Spitze des Daches und er war sich zunächst gar nicht sicher, ob dies nicht vielleicht doch ein Felsblock war. Dann kamen aber nach und nach der Giebel und die Steine des alten Gemäuers zum Vorschein, bis er schließlich das Gebäude in seiner vollen Größe sehen konnte.
Wieder hielt Xavier inne. Er betrachtete das Anwesen, das friedlich da lag. Aus der Entfernung konnte er nichts Auffälliges ausmachen. Das Gehöft sah aus wie immer – eben wie ein Gebäude, das bereits seit Jahren unbewohnt war. Xavier war erstaunt, dass es deutlich größer war, als er es in Erinnerung hatte. Es gab aber keine Anzeichen dafür, dass sich hier vor einigen Stunden etwas Ungewöhnliches abgespielt hatte. Mit seinen Augen folgte Xavier noch mal Meter für Meter dem Weg, den die Prozession genommen hatte, aber auch hier konnte er nichts Auffälliges erkennen. Er ließ seinen Blick über den Hang schweifen und blickte um sich. Nichts, er sah nichts, was außergewöhnlich war und seine Aufmerksamkeit hätte auf sich ziehen müssen. Die Gegend lag ruhig und verlassen da. Er lauschte, aber vernahm nichts Ungewöhnliches.
Langsam stieg er den Hang weiter hinab und suchte sich einen Weg zwischen den Felsen und Pflanzen hindurch. Nach einiger Zeit erreichte er einen anderen Pfad, der sich parallel zum tieferliegenden Weg auf das Gebäude zu bewegte. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, aber seine Neugier war immer noch größer als die Angst. Letztere mahnte ihn allerdings, weiterhin vorsichtig zu sein und so hielt er erneut inne. Konzentriert sah er sich um und lauschte. Die Sonne schien, der Himmel war blau und das Land um ihn herum lag friedlich da. Alles war ruhig, kein Geräusch war zu hören. Es war eine fast unnatürliche Stille. Xavier spürte, wie sich diese Ruhe beklemmend über ihn legte und die Angst in ihm anschwoll. Hektisch schaute er sich um, er lauschte noch intensiver und suchte nach dem leisesten Geräusch – immer noch nichts.
Sich auf sein Gehör konzentrierend, ging er weiter. Als er einige Schritte getan hatte, blieb er plötzlich mit einem Fuß an einem Stein hängen und geriet ins Straucheln. Seine Oberkörper zog Xavier nach vorne und sein Fuß riss den Stein mit Wucht aus dem Erdreich. Fast wie von einem Katapult geschossen schnellte dieser nach vorne. Mehrmals schlug er auf, um dann im nächsten Moment mit einem aus dem Boden hervorstehenden Fels zu kollidieren und in die Luft geschleudert zu werden. Xavier erschrak, als er sah, wie der Stein den Hang hinunter flog. Er hörte überdeutlich, wie dieser mit weiteren Felsen zusammenstieß und der klackernde Ton, als Stein auf Stein traf, kam ihm in der Ruhe noch lauter vor. Die Geräusche hielten noch einige Sekunden an, um dann plötzlich zu ersterben, als der Stein zum Liegen kam. Wieder war es totenstill.
Xavier fluchte und schüttelte den Kopf über seine Ungeschicktheit. Er nahm seinen Weg wieder auf und ging nun direkt auf das Anwesen zu, das wenige hundert Meter vor ihm lag. Diesmal konzentrierte er sich aber noch mehr auf den Untergrund, um nicht abermals zu stolpern. Gleichzeitig war er aber auch bemüht, das Gebäude nicht aus den Augen zu lassen. Es verunsicherte ihn. Auf der einen Seite lag es friedlich und verschlafen da, als wenn seit Jahren kein Leben in ihm gewesen wäre. Auf der anderen Seite fiel Xavier aber auf, dass die Schlagläden und die Türen in einem so guten Zustand und so fest verschlossen waren, dass niemand einen Blick ins Innere werfen konnte. Und Xavier konnte nicht einschätzen, ob sich nicht noch jemand in dem Gebäude befand.
Seine Schritte wurden langsamer und er musste sich zwingen, weiter zu gehen. Schließlich hatte er eine Position erreicht, die etwas oberhalb des Gehöfts lag. Er konnte auf das Gebäude und den kleinen Vorhof schauen. Xavier folgte weiter dem Pfad, der sich zunächst am Bauernhaus vorbeischob, um nach einiger Zeit eine Kehre zu machen und sich dann hangabwärts auf das Gehöft zuzubewegen.
Während er bergab ging, starrte er wie gebannt auf die Fenster und versuchte zu erkennen, ob die Schlagläden wirklich komplett geschlossen waren. Befand sich dort nicht doch eine kleine Lücke, ein Spalt zwischen Fensterrahmen und Laden? Konnte nicht doch hindurch geschaut werden?
Mit Schwung nahm Xavier die letzten Meter, er wurde schneller und lief dann auf der schmalen Seite des Gebäudes aus. Er bewegte sich parallel zur Wand auf die Ecke zu. Als er an dieser ankam, stoppte er und legte Brust und Hände auf die Wand. Langsam schob seinen Oberkörper und seinen Kopf zur Seite, so dass er mit dem Auge an der Wand vorbei auf den Vorhof des Gebäudes schauen konnte.
Auch wenn er Angst verspürte, so empfand Xavier sein Verhalten etwas albern. Er stieß sich von der Wand ab, ging um die Ecke herum und stellte sich vor die Frontseite des Gebäudes. Langsam trat er ein paar Schritte zurück, um einen besseren Blick zu erhalten. Seine Augen sprangen von einem Fenster zum nächsten. Xavier inspizierte intensiv die Fassade. Sein Blick glitt über die gesamte Breite, aber er konnte immer noch nichts Auffälliges erkennen.
Als er sich gerade abwenden wollte, stutzte er: War da nicht doch etwas, was nicht so ganz zu dem Gebäude passte? Sein Blick glitt wieder zurück und blieb über der Tür hängen. Das was er sah, war neuer und wirkte so, als wenn es nachträglich angebracht worden war. Es war eine Marmortafel, in die ein Motiv eingemeißelt worden war. Er blickte auf das Bild, das vielleicht dreißig Zentimeter hoch und zwanzig Zentimeter breit war. Xavier kniff die Augen zusammen und dachte nach. Langsam ging er auf die Tür zu, wobei er ununterbrochen auf das Bild starrte. Etwa einen Meter vor dem Eingang blieb er stehen und versuchte zu erkennen, was dort abgebildet war. Er kniff die Augen zusammen, um sich zu konzentrieren, und saugte jede Nuance in sich auf. Als er seine Augen wieder entspannte und weiter öffnete, sah er etwas aus den Augenwinkeln. Und dieses Etwas bewegte sich auf ihn zu.
*
Als Lauenburg das Polizeigebäude verließ und nach draußen trat, traf ihn die Hitze wie ein Faustschlag. Umgehend wurde ihm übel und er hatte das Gefühl, dass das Blut seinen Körper verließ. Gerade noch rechtzeitig, bevor er stürzte, konnte er die Wand erreichen und sich an dieser festhalten.
Vor etwa anderthalb Stunden hatte er den Carrer Maria Antònia Salvà in El Arenal erreicht. Als sie an der Adresse angehalten hatten, hatte er den Taxifahrer gebeten, auf ihn zu warten. Nur mühsam hatte Lauenburg die Stufen zur Haustür erklommen. Dort angelangt, hatte er die richtige Klingel gesucht und diese anschließend mehrmals betätigt. Nachdem niemand öffnete, hatte er eine kurze Notiz auf eine Visitenkarte geschrieben und diese in den Briefkasten geworfen. Anschließend war er zum wartenden Taxi zurückgekehrt und hatte den Fahrer gebeten, ihn zur Polizeihauptwache zu bringen. „Jefatura Superior de Policia de Baleares? Carrer de Simó Ballester, 8?“, hatte dieser ihn gefragt, während er ihn im Rückspiegel irritiert angeschaut hatte. Lauenburg hatte nur kurz genickt, woraufhin der Fahrer losgefahren war.
Langsam ging er die schmale Treppe vor der Polizeiwache hinunter. Als er deren Absatz nahezu erreicht hatte, klappten ihm fast die Knie weg. Schnell nahm er auf einer der Stufen Platz, dann sackte er förmlich in sich zusammen. In seinem Kopf schossen die Fetzen des Gesprächs mit dem Polizisten hin und her: „… da können wir Ihnen nicht weiterhelfen …“, „… machen Sie sich keine Sorgen …“, „… ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und genießen Sie die Zeit auf Mallorca …“. Der Mann hatte gut reden, hatte aber eigentlich gar nichts verstanden.
Lauenburg saß einige Zeit regungslos auf den Stufen und blickte starr vor sich hin. Erst als ihn eine Hand an der Schulter berührte, schaute er auf. Vor ihm stand ein uniformierter Polizist, der offensichtlich mit ihm sprach. Nur langsam drangen dessen Worte zu seinem Gehirn vor und es dauerte einen Moment, bis er wahrnahm, dass der Mann auf Spanisch auf ihn einredete. „Bitte?“, fragte Lauenburg.
Der Polizist wechselte in ein gebrochenes, aber freundliches Deutsch: „Geht es Ihnen nicht gut, kann ich Ihnen helfen?“
„Danke, es geht schon, ich bin nur etwas erschöpft.“ Er hoffte, dass ihn der Polizist einfach in Ruhe lassen würde, dieser fuhr aber fort: „Es tut mir leid, Sie können hier nicht sitzen bleiben.“
„Auch nicht ein paar Minuten?“
„Nein, auch nicht ein paar Minuten.“
Mit Mühe rappelte Lauenburg sich auf. Er nahm sein Gepäck, stieg die verbleibenden Stufen hinunter, bog rechts ab und ging einige Meter an der Wand des Polizeigebäudes entlang, das ihm jetzt noch trostloser erschien. Er empfand den Anblick inzwischen als unerträglich und wechselte daher die Straßenseite und ging langsam in Richtung Innenstadt.
„…machen Sie sich keine Sorgen – pah …“ Er blickte nach unten und schüttelte den Kopf. Der Mann hatte wirklich rein gar nichts verstanden. Lauenburg schaute auf das Pflaster und sah wie sich seine Füße mechanisch bewegten, er spürte sie aber nicht. Auch das Geschehen um ihn herum nahm er kaum wahr und die Geräusche der Umgebung drangen nur gedämpft an sein Ohr – ohne Höhen, ohne Tiefen, ohne Einzelgeräusche.
Seine Füße trugen ihn auf dem gepflasterten Bürgersteig einfach voran, mechanisch setzte er – einen Fuß vor den anderen. Eine Platte nach der anderen ließen sie hinter sich, aber Lauenburg nahm den Weg nicht wahr. Er nahm nicht wahr, wie sich die Platten änderten. Er nahm den Randstein nicht wahr, der den Bürgersteig von der Straße trennte. Einen Fuß vor den anderen. Er nahm nicht wahr, wie sein rechter Fuß vom Pflaster abhob, über den Randstein hinweg stieg und den Asphalt der Straße betrat. Und Lauenburg nahm auch den großen Schatten nicht wahr, der auf ihn zuraste.