Читать книгу Seelenverkäufer - Ein Mallorca-Krimi - T.F. Düchting - Страница 3

Mittwoch, 14. Mai, kurz vor Mitternacht

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Mit schlafwandlerischer Sicherheit setzte er einen Schritt vor den anderen und stieg den Hügel hinauf. Während er lief, schaute er immer wieder hoch in den Nachthimmel und betrachtete die Bewegungen der Wolken, die ihr Spiel mit dem Mond trieben: Die meiste Zeit verdeckten sie ihn, aber dann und wann gaben sie ihn für einen kurzen Moment frei. In diesen Augenblicken ließ der Halbmond die Landschaft und die kargen Kalkfelsen silbrig aufleuchten. Schon im nächsten Moment aber, schoben sich die Wolken wieder vor den Mond und tauchten das Land und die Felsen erneut in Dunkelheit.

Trotz dieses Wechselspiels des Lichts fand Xavier den Weg ohne Probleme. Schritt für Schritt setzte er seine Füße auf den steinigen Untergrund der Insel – seiner Insel. Mallorca war sein Leben. Seit seiner Geburt vor nicht ganz sechzehn Jahren lebte er hier und für ihn war es unvorstellbar, dieses Stück Erde jemals zu verlassen. Er liebte das Land, seine Menschen sowie das Meer, das er in der Ferne sehen konnte.

Seit einigen Monaten ging Xavier die Strecke fast täglich. Während ihm auf dem Hinweg meist die Abendsonne ins Gesicht schien, legte er den Rückweg stets bei Nacht und in Dunkelheit zurück. Manches Mal empfand er die Auf- und Abstiege, den Weg und das Laufen auf dem unebenen Untergrund als mühselig. Stets war aber die Belohnung, die auf ihn wartete, alle Mühen wert. Mit Freude nahm er den abendlichen Weg auf sich, nur um Letizia zu sehen und er war bereit, sogar bis ans Ende der Welt zu gehen, um sie zu berühren, ihren einzigartigen Duft einzuatmen oder sich in ihren Augen zu verlieren. Xavier liebte sie mit der Unerschütterlichkeit der ersten großen Liebe und war sich sicher, dass ihr unbeschreibliches Glück für immer andauern würde.

Auch wenn sie beide noch sehr jung waren und Letizia seine erste Freundin war, so war er sich sicher, dass sie beide nichts, aber auch gar nichts entzweien konnte und er sie eines Tages heiraten würde. Sie würde seine Frau, die Mutter seiner Kinder werden. Daran konnten auch seine Eltern nichts ändern – und Xavier war sich sicher, dass sie es versuchen würden. Aus ihrer Sicht war Letizia für einen Conde de Góngora, dessen Familie über Jahrhunderte die Geschicke der Insel mitbestimmt hatte, unter Stand. Daran änderte auch nichts, dass der spanische König eine Bürgerliche geheiratet hatte, die auch noch denselben Namen wie seine Freundin trug. In einigen Wochen feierte er seinen sechzehnten Geburtstag und er war fest entschlossen, seine große Liebe an diesem Tag seinen Eltern vorzustellen.

Als Xavier die höchste Erhebung auf seinem Heimweg erreichte, riss er sich aus seinen Gedanken und hielt einen Moment inne. Tief atmete er durch. Auch wenn er schlank und gut trainiert war, so strengte ihn dieser Anstieg jedes Mal an. Zudem war es für ihn auch zu einem Ritual geworden, dass er an dieser Stelle immer eine kurze Pause einlegte und seinen Blick über die Insel schweifen ließ.

Während sich im Westen die Hügel weiter erhoben und sich auf ihren Rücken einzelne Pinien vom Nachthimmel abhoben, liefen die Erhebungen im Nordosten in langsamen weichen Bewegungen zum Meer hin aus. In einiger Entfernung konnte er die ruhige See erkennen und er sah, wie sich der Mond auf der Oberfläche des Mittelmeeres spiegelte. Eine leichte Brise trug die jodhaltige Luft und den Geruch der See von der Küste zu ihm herüber. Wie jede Nacht genoss er diesen Moment: Der Anblick der Hügel und des Meeres sowie der Geruch ließen ihm das Herz aufgehen und gaben ihm das wohlige Gefühl von Heimat.

Nachdem Xavier einen Moment inne gehalten hatte, drehte er sich um und ging weiter. Er konzentrierte sich, denn er war sich der Anstrengung des Abstiegs bewusst, die oftmals ärger als die des Aufstiegs war. Zudem spürte er allmählich Müdigkeit in sich aufsteigen, schließlich war es schon kurz vor Mitternacht.

Er blickte den Hügel hinab und folgte mit seinen Augen dem Weg, der vor ihm lag. Etwas unterhalb sah er den dunklen, mächtigen Schatten des alten Gehöfts, das er passieren musste. Seitdem der alte Albiol vor etwa zehn Jahren gestorben war, stand das Gebäude leer und verfiel zusehends. Xaviers Vater, dem das Gebäude und das Land gehörten, hatte in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, beides zu verpachten. Aber niemand wollte es mieten und die harte Arbeit eines Bauern auf sich nehmen. Der Grundbesitz war nicht sehr groß und der Boden zu karg für ein gutes Auskommen. Auch war der Olivenbaumbestand zu klein, um damit ein ausreichendes Zubrot zu erhalten. Lieber verdienten die jungen Menschen ihr Geld in der Touristikbranche – in Hotels, Bars und Clubs – oder in den Gewerbebetrieben rund um Palma oder Manacor.

Für Xaviers Vater wäre es ein Leichtes, das Gebäude umzubauen und an gestresste Großstädter vom spanischen Festland, aus Deutschland, den Niederlanden, England oder Russland zu vermieten. Viele wünschten sich die Ruhe und Abgeschiedenheit, die hier weitab von den Touristenhochburgen zu finden waren. Sein Vater aber wollte sein Land und somit auch das alte Gehöft nicht dem Tourismus preisgeben. Nach Ansicht des Condes hatten die Fremden bereits genug von der Insel in Besitz genommen und er wollte nicht, dass dies nun auch mit seinem Grund und Boden geschah.

Xaviers Blick wanderte von dem alten Bauernhaus weiter herunter zu dem Weg, der das Gut mit der Landstraße verband. Nur schemenhaft konnte er erkennen, wie sich dieser einem Wurm gleich durch die Landschaft und um die Felsen herum schlängelte.

Doch plötzlich war es Xavier, als bewegte sich etwas. Er kniff die Augen zusammen, um die Konturen der Landschaft besser ausmachen zu können. Als er nichts Auffälliges erkennen konnte, verwarf er den Gedanken wieder – es war kurz vor Mitternacht und wer sollte um diese Zeit in dieser Abgeschiedenheit unterwegs sein. Aber als die Wolken erneut den vollen Mond freigaben, erkannte er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Mehrere Schatten bewegten sich einer hinter dem anderen den gewundenen Weg zum Gehöft hinauf. Ihre Bewegungen waren gleichmäßig, wie aufeinander ausgerichtet, und ihr Gang erinnerte Xavier unweigerlich an die Prozessionen anlässlich Corpus Christi, die jedes Jahr im Juni stattfanden. Was zum Teufel ist das, was machen die um diese Uhrzeit hier, fragte er sich. Neugier mischte sich mit Unsicherheit und kribbelnd erfüllte Nervosität seinen Magen.

Wieder schob sich eine große Wolke vor den Mond, so dass die Schatten von der Umgebung aufgesogen wurden und verschwanden. Von Neugier gepackt lief Xavier im Schutz der Dunkelheit den Hang hinunter. Zunächst versuchte er sich vorsichtig und leise zu bewegen, aufgrund des Gefälles wurde er aber schneller und schneller. Seine Schritte überschlugen sich, bis einer seiner Füße auf dem Untergrund keinen sicheren Halt mehr fand und wegrutschte. Instinktiv fing Xavier sich ab und sprang weiter über Büsche und Felsen hinweg dem Gut entgegen.

Als er etwa die Hälfte der Entfernung zurückgelegt hatte, schlug sein rechter Fuß gegen einen Stein. Sein Körper befand sich in der Vorwärtsbewegung, so dass er ihn dieses Mal nicht abfangen konnte. Xavier stolperte und schlug im nächsten Moment mit den Knien voran auf den harten Boden. Er spürte, wie die Haut über den rauen Untergrund rutschte und riss. Wie in Zeitlupe sah er sich nach vorne stützen, bevor sein Oberkörper mit enormer Wucht auf einen hervorstehenden Felsen schlug. Augenblicklich nahm der Aufprall ihm den Atem. Xavier rutschte zur Seite, rollte auf den Rücken und einen kurzen Moment dachte er, dass der Schmerz ihn ohnmächtig werden ließ. Er spürte, wie sein Kreislauf wegsackte und hatte das Gefühl, dass das Blut aus seinem Körper wich.

Bewusst, aber nur mit großer Mühe, atmete Xavier gegen den Schmerz an. Langsam und Atemzug für Atemzug spürte er, wie sich dieser auflöste und sich sein Kreislauf wieder stabilisierte. Zögerlich hob er seine Hände und konnte sehen, wie sich zarte blutige Rinnsale ihren Weg auf den Innenseiten suchten.

Einen Moment lang lag er einfach nur da, spürte das Brennen an Knien und Händen und ärgerte sich über die Situation sowie seine Ungeschicktheit. Plötzlich durch­zuckte ihn ein Gedanke wie ein Blitz: Ob sein Sturz wohl gesehen und er entdeckt worden war? Vorsichtig richtete er sich auf und schob die Zweige eines Buschs beiseite, der den Blick auf den Weg zum Gebäude verdeckte. Über Steine und weitere Pflanzen hinweg konnte er sehen, wie die Personen unverändert weiter gingen. Erleichtert stellte er fest, dass sein Sturz offensichtlich nicht bemerkt worden war.

Von seinem neuen Platz aus hatte Xavier nun einen deutlich besseren Blick. Der Menschenzug bewegte sich weiter und passierte etwa fünfzig Meter unterhalb den Busch, hinter dem er sich versteckt hielt. Als sich die Gestalten etwa auf gleicher Höhe befanden, trug der Nachtwind leise Töne zu ihm herüber. War es ein Gebet? War es Gesang? Xavier versuchte etwas zu verstehen, doch er hörte nur ein gleichmäßiges Gemurmel – eintönig und monoton. Plötzlich gaben die Wolken erneut den Mond frei und sein Licht erhellte die gesamte Umgebung. Blitzschnell presste sich Xavier auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und er hörte sein Blut in den Ohren rauschen.

Nach wenigen Minuten, in denen nichts geschah, hob er vorsichtig wieder den Kopf. Im silbrigen Licht konnte er erkennen, dass die vorbeischreitenden Gestalten ihren Weg unbeirrt fortsetzten. Sie trugen ausladende Gewänder, die ihre Körper ganz verhüllten und am Kopf in große Kapuzen ausliefen, welche die Gesichter verdeckten. Die Kleidungsstücke waren aus einem schwarzen oder nachtblauen Material und ihr Stoff glänzte im Mondlicht.

Nachdem die Gruppe ihn passiert hatte, entspannte Xavier sich wieder etwas. Er war nicht entdeckt worden, fragte sich aber erneut, was er gerade gesehen hatte: Wer waren diese Personen? Und was machten sie kurz vor Mitternacht an diesem verlassenen Ort, weit entfernt von der nächsten Stadt und anderen bewohnten Gebäuden?

Langsam bewegte sich die Gruppe weg von ihm in Richtung des Gehöfts. Als sie das alte Gemäuer erreichte, stellte Xavier erstaunt fest, dass sich die Haustür wie von Geisterhand öffnete und Licht nach außen drang. Es war nicht der strahlende Schein einer elektrischen Lampe – es wirkte mehr wie das Flackern von Kerzen oder Fackeln. Erneut spürte Xavier, wie sein Herz bis zum Hals schlug.

Aus sicherer Entfernung sah er, wie eine Gestalt nach der anderen durch die Tür schritt und im Gebäude verschwand. Es war, als wenn Hermes die Auserwählten dem Hades zuführen würde, oder war es doch vielleicht Tartaros. Xavier musste grinsen. Herr Martinez, sein Geschichtslehrer, wäre stolz auf ihn, dass ihm gerade jetzt Themen der griechischen Mythologie einfielen. Als die letzte Person die Pforte durchschritten hatte, schloss sich die Tür erneut wie von Geisterhand. Absolute Dunkelheit machte sich breit und nicht der kleinste Lichtschein drang durch die Tür oder die verschlossenen Fensterläden. Es war, als hätte es das Schauspiel, das Xavier beobachtet hatte, nie gegeben.

Verstört sprang er auf. Statt wie sonst den Hang hinunter, lief er nun parallel zu diesem. Er rannte weg – weg von dem alten Gehöft, weg von dem Ort des bizarren Geschehens. Etwas ging auf dem Anwesen vor; Xavier konnte nur nicht sagen, was es war. Instinktiv spürte er aber, dass er gerade etwas gesehen hatte, was nicht für seine Augen bestimmt war. Er lief so schnell er konnte – den Schmerz seiner aufgeschlagenen Knie und seiner blutenden Hände vergessend. Er wollte nur weg – weit weg. Keiner der Gruppe hatte ihn gesehen – doch ein Augenpaar folgte ihm, bis ihn die Nacht verschluckte.


Seelenverkäufer - Ein Mallorca-Krimi

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