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Kapitel 3

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Der erste Frost des nahenden Winters hatte die Landschaft in der Nacht mit einer hauchdünnen Eisschicht überzogen und den Bäumen das letzte Laub genommen.

Nahim kauerte neben einem schmalen Bach, der weiter abwärts in den Fluss mündete, der am Truburschen Hof vorbei ins Tal führte. Er hatte seinen Zeigefinger in das schnell dahinfließende Wasser getaucht und das Symbol eines Sterns in den weißlich schimmernden Eismantel eines aus dem Flussbett herausragenden Findlings gemalt, als er hinter sich das leise Zerbrechen eines gefrorenen Astes wahrnahm. Langsam wischte er die nasse Hand am Hosenbein ab und steckte sie in seinen weiten Mantelärmel, um sie zu wärmen. Einen Augenblick lang schaute er noch auf das Wasser, dann sagte er, ohne sich umzudrehen: »Denkst du darüber nach, ob du mit einem Sprung hinter mir sein könntest, um mich ins Wasser zu stoßen?«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Lehen wahrheitsgemäß und schaute amüsiert zu, wie Nahim aufsprang und ihr mit einer Mischung aus Überraschung und Verlegenheit zur Begrüßung zunickte.

Borif, den sie neben sich hatte Sitz machen lassen, stürmte sofort auf Nahim zu, als seine Herrin ihn einen Moment lang nicht beachtete. Voller Freude sprang er an Nahim hoch und legte ihm die Vorderpfoten auf die Schultern, so dass dieser beinahe sein Gleichgewicht verloren hätte und in den Bach gestürzt wäre.

»Tevils sucht weiter oben am Hang nach Fijenholz. Wenn er dich nicht in der Nähe des alten Hochsitzes vermutet hätte, würdest du jetzt wahrscheinlich wirklich mit deinem Hintern im Wasser sitzen und fluchen«, fügte Lehen hinzu, da Nahim seine Unsicherheit immer noch nicht überwunden hatte und schwieg.

Sie legte das Bündel aus feinen, frisch geschnittenen Zweigen neben sich, zog einen heraus und hielt ihn Borif hin, der augenblicklich von seinem stocksteif dastehenden Freund abließ und genüsslich anfing, das Fijenholz zu zerknabbern.

Ohne die junge Frau weiter zu beachten, hockte Nahim sich zu dem Hund auf den Boden und zog ihn zärtlich an den zu klein geratenen Schlappohren. Doch Lehen sah es gar nicht ein, sich von diesem zurückhaltenden Benehmen abschrecken zu lassen. Stattdessen kniete sie sich ebenfalls nieder und kitzelte ihren Hund an der Seite, wobei dieser ein grunzendes Geräusch von sich gab, ohne dabei vom Fijenholz abzulassen.

»Was machst du hier am Bach? Soll dir dein Spiegelbild im Wasser ein Geheimnis verraten? Vielleicht, warum ein bärtiger Mann wie der andere aussieht?«, sagte Lehen neckend.

Unwillkürlich fasste Nahim an seinen dichten Bart, der ihm bis zum Schlüsselbein reichte, und durchfuhr ihn mit seinen Fingern. Er mochte das Gefühl, das wellige, leicht raue Haar zu durchpflügen, aber er ließ die Hand sofort wieder. sinken, als er sich Lehens Lächeln bewusst wurde. Mit vor der Brust verschränkten Armen richtete er sich auf und ließ sich mit einer Antwort Zeit, was Lehen jedoch nicht im Geringsten zu verunsichern schien.

»Gibt es an Bärten etwas auszusetzen?«, fragte er mit gleichgültiger Stimme.

»Nein, jedenfalls nicht, wenn man froh ist, sein Gesicht hinter einem zotteligen Vorhang zu verstecken und großzügig Suppenreste darin zu verteilen.«

Nahim zog die Augenbrauen hoch, aber Lehen winkte lediglich mit einer schwachen Geste ab. »Ich weiß, wovon ich spreche, schließlich sitze ich dir beim Essen gegenüber. Außerdem stört es mich, wenn man das Lächeln eines Menschen nur in den Augen sieht. Es ist so, als würde die Hälfte des Gesichts gar nicht existieren. So etwas finde ich unhöflich.«

»Ich finde einen Bart in erster Linie praktisch, schließlich hält er Wind und Sonne ab. Außerdem möchte ich mir nicht jeden Tag mit einer Klinge im Gesicht herumfuhrwerken müssen.«

»Du bist also einer von der ganz bequemen Sorte«, gab Lehen mit einem schnippischen Ton zurück, der Nahim ein Zischen entlockte. »In der Wildnis mit ihren wechselhaften Witterungen mag so ein Gestrüpp ja angehen, aber bei uns auf dem Hof wirkt es unangebracht.«

Allmählich fragte sich Nahim, was sie mit ihrer Rede wohl bezwecken wollte. Wollte sie ihn vielleicht nur aufziehen? Entgegen seiner sonstigen Art, um Frauen einen weiten Bogen zu machen und sich auf kein Geplänkel einzulassen, blieb er neben Lehen stehen. Ihre herausfordernde Art sprach ihn halt an, versicherte er sich.

Verstohlen betrachtete er sie. Das Haar verbarg sie unter einem weichen Schlapphut, über das knöchellange Kleid hatte sie eine Strickjacke aus Schafwolle gezogen, und die Füße steckten in groben Stiefeln, die den Eindruck erweckten, eigentlich Balam zu gehören.

Nahim war die Gesellschaft von Frauen gewohnt: Die Mägde auf dem Gut seines Vaters, die schillernd zurechtgemachten Besucherinnen von Festen oder die erhabenen Kriegerinnen aus dem Norden. Obwohl so manche seine Instinkte und seine Neugierde geweckt hatte, hielt er sich jedoch stets an die Umgangsformen, die Vennis ihm vorlebte. Er blieb höflich, aber zurückhaltend und suchte so schnell wie möglich das Weite. Der Unterschied zwischen den beiden Männern, der Nahim allerdings nicht bewusst war, bestand darin, dass Vennis bereits eine Gefährtin hatte.

Als Nahim nun neben Lehen unter den kahlen Laubbäumen stand und ihrem gefrorenen Atem nachsah, verspürte er den Wunsch zu bleiben. Er wandte sich ihr zu, was sie dazu veranlasste, ihm einen prüfenden Blick zuzuwerfen und das Kinn leicht vorzuschieben.

»Mir ist der Bart gleich«, sagte Nahim, um einen ruhigen Ton bemüht.

»Na dann«, erwiderte Lehen und deutete auf einen der größeren Findlinge am Flussufer.

Während Nahim sich ungelenk hinsetzte, ließ er Lehen nicht aus den Augen. Sie zog ein Messer aus dem Holzbündel hervor, packte eine dicke Bartsträhne und setzte unbeirrt die Klinge an. Nahim legte seine Hände flach auf die Knie und blinzelte kurz, als er das kratzende Geräusch vernahm, mit dem Lehen den Bart abschnitt. Sie streckte den Arm von sich und öffnete die Hand, so dass eine Strähne aus dunklem Haar auf die Steine fiel.

»Sicherlich kann das jemand für den Nestbau gebrauchen«, sagte sie, wobei nicht klar war, ob sie nun zu Nahim oder Borif sprach.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Lehen ihre Arbeit abgeschlossen hatte. Nahims Hintern war in der Zwischenzeit taub gefroren, doch er war zu aufgebracht, um es zu bemerken. Lehen hatte sein Kinn umfasst, damit er den Kopf nach hinten bog, während sie schweigend die letzten gröberen Büschel mit der nassen Klinge abschabte. Sie hatte sich weit über ihn gebeugt, so dass ihr Kleid seine rot gefrorenen Hände streifte. Etwas Warmes ging von dem Stoff aus. Unwillkürlich kniff Nahim die Lippen aufeinander, und Lehen machte ein schnalzendes Geräusch, als wolle sie ein aufgeregtes Pferd beruhigen.

Nahim fürchtete sich nicht davor, dass sie ihn schneiden könnte. Obwohl Lehen sehr umsichtig arbeitete und die Klinge ausgesprochen scharf war, hatte sie ihm einige feine Schnitte zugefügt, aus denen kaum mehr als ein Blutstropfen hervorquoll. Nahim fürchtete sich vor dem nackten Gesicht, das nun jede seiner Regungen verraten würde. Seit die ersten Haare über seiner Lippe und in der Einkerbung unter dem Mund gesprossen waren, hatte Nahim sie stehen lassen, obwohl sein Vater mehr als ungehalten darüber gewesen war. Faliminir teilte Lehens Einstellung, dass ein dichter Bart etwas Unkultiviertes an sich hatte.

Mit einem knappen Nicken gab Lehen ihm schließlich zu verstehen, dass sie fertig sei. Sie kniete sich neben den Bach, um das Messer zu säubern und es danach mit dem Kleidersaum trocken zu reiben.

Nahim setzte sich zu ihr und schaute ins Wasser. Doch der Lauf des Gebirgsbachs war zu unstet, um ein Spiegelbild erkennen zu können. Stattdessen sah Nahim nur Teile seines Gesichts aufflackern, die sich mit der Spiegelung von Lehens Gesicht vermischten. Rasch tauchte er seine Hand ein, so dass sich die Abbilder ihrer beiden Gesichter in einem vielschichtigen Mosaik auflösten.

Mit einem Ruck stand Lehen auf und pfiff nach Borif, der auf einem Laubhaufen döste. Nur widerwillig öffnete der Hund die rot unterlaufenen Augen. Lehen griff nach dem Bündel mit Fijenholz und, ohne sich noch einmal umzudrehen, sagte sie: »Ich habe einen kleinen Handspiegel, den leg ich dir auf den Tisch.«

Dann ging sie fort.

Am Nachmittag fand Nahim das Haus verlassen vor. Nur Brill schlief zusammengerollt und mit einem Kissen über dem Kopf in seiner Ecke. Nahim nahm sich eine Schale mit lauwarmer Brühe und setzte sich neben den Ofen. Da seine Kleidung klamm und Hände und Füße steif vor Kälte waren, zog er die Knie bis unters Kinn und presste sich so dicht wie möglich an den vom Feuer erwärmten Stein heran.

Nachdem Lehen ihn verlassen hatte, war Nahim noch eine Zeit lang neben dem Wasserlauf sitzen geblieben, aber er suchte nicht wieder nach seinem Spiegelbild. Als die Kälte ihm allmählich seinen Körper taub werden ließ, rang er sich zu einer Wanderung in Richtung Westen durch, da er ein Zusammentreffen mit den anderen vorerst vermeiden wollte.

Die Gedanken trieben Nahim wirr durch den Kopf, während er durch den immer dichter und dunkler werdenden Wald streifte, ohne Sinn für die ihn umgebende Landschaft. Er lief an alten Bäumen vorbei, deren Wurzelwerk tiefer und weiter reichte, als ihre ausladenden Kronen ahnen ließen. Er beachtete nicht die Flecken, an denen das Erdreich nach einem starken Regenguss aufgerissen worden war und nun vielfarbiges Gestein freilegte. Er hatte weder Augen für die Bärenhöhle noch für die immergrünen Parasiten in den hohen Wipfeln, die vorgaukelten, dass so mancher Baum noch nicht sein Laub verloren habe. Er bemerkte nicht, dass seine Schritte durch eine dicker werdende Laub- und Moosschicht abgefedert wurden, über die sonst nur Dammwild, Wildschweine und Hasen liefen. Und er kümmerte sich nicht um das dichte Unterholz, das ihn immer häufiger am raschen Ausschreiten hindern wollte.

Es war der ferne Schrei eines Tannengrünadlers, der ihn schließlich aufschrecken ließ. Nahim legte den Kopf in den Nacken, um einen Blick auf den schönen Vogel zu werfen, doch das undurchdringliche Astwerk verwehrte ihm die Sicht. Nur für einen kurzen Moment konnte er den Raubvogel ausmachen, der am Himmel seine Kreise zog. Trotzdem stand er noch eine Zeit lang da und lauschte, wie sich ein weiterer Schrei des Adlers mit seinem eigenen raschelnden Atem mischte, dann kehrte er um.

Wie er nun am Ofen im Haus der Truburs saß, schossen mit der Wärme auch das Leben und damit der Schmerz in Nahims Fingerspitzen, die er unnachgiebig massierte. Auf dem Tisch lag, wie versprochen, Lehens Spiegel, ein unscheinbares kleines Ding, das in Birkenholz eingefasst war. Nahim stellte beide Füße auf den Boden, umschloss mit den Händen die Kante der Ofenbank und legte den Kopf leicht in den Nacken. Schließlich gab er sich einen Ruck und holte den Spiegel.

Vennis verbrachte den Vormittag damit, den Kletterpfad ins Westend sowie die nähere Umgebung zu erschließen. Eigentlich hatte er vorgehabt, diese kleine Expedition zusammen mit Nahim zu unternehmen. Doch der junge Mann war den ganzen Morgen über ausgesprochen in sich gekehrt gewesen. Gemeinsam hatten sie die Tiere versorgt und einige Arbeiten auf dem Hof verrichtet, dann war er ohne ein weiteres Wort verschwunden.

Nachdem Vennis auf den verlassenen Hof zurückkehrt war, setzte er sich auf die Bank neben der Eingangstür und zog sich schnaufend die dreckverkrusteten Stiefel von den Füßen. Er streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen. Die Nächte wurden zusehends länger und vor allem kälter, so dass er mittlerweile nicht mehr damit rechnete, Trevorims Pforte noch in diesem Jahr zu durchqueren. Während er gedankenverloren dasaß und seine von groben Socken umspannten Zehen beim Wackeln beobachtete, landete ein Rabe in einem von Lehens kahlen Jasminsträuchern. Mit seinen schwarz glänzenden Augen verfolgte er die Bewegungen des Mannes und sprang dabei geschickt von Zweig zu Zweig.

Der Rabe gehörte zur Art der Graukragenraben, deren fransiges Federkleid den Eindruck erweckte, als sei es mit einer feinen Staubschicht überzogen. Hätte Vennis den Vogel bemerkt, wäre er sicherlich sehr überrascht gewesen, denn die Heimat dieses schlauen Tieres lag eigentlich in den weiten Steppen des Westens. Aber dieser Rabe war in einem gradlinigen Flug von den Südlichen Höhen herabgeglitten und stattete dem Trubur Hof einen kurzen Besuch auf seinem Weg ins Westend ab. Bevor Vennis sich aufraffen konnte, ins Haus einzutreten, war der Vogel bereits mit einigen kräftigen Flügelschwüngen zur Weide hinter dem Haus hinübergeflogen, wo er einige Kreise drehte und dann in Richtung Steinhaag abzog.

Der Wohnraum des Hauses lag bereits im Dämmerlicht. Auf dem Esstisch und auf dem Regal über der Küchenzeile brannten Öllampen, die ein diesiges Licht verbreiteten. Nahim hantierte am Herd herum, und auf Vennis’ Frage, ob er Hilfe gebrauchen könnte, gab er lediglich ein knappes Nein zurück, ohne sich zur Begrüßung umzudrehen. Vennis schaute noch kurz nach Brill, der jedoch tief schlief, und setzte sich dann zum Stopfen seiner Pfeife an den Tisch.

Als Nahim schließlich eine Schüssel mit Eintopf auf den Tisch stellte und sich setzte, versuchte Vennis, sich sein Erstaunen beim Anblick des jungen Mannes nicht anmerken zu lassen. Stattdessen begann er, von der morgendlichen Wanderung zu berichten, wobei er ausführlicher als nötig auf Pflanzenwelt und Lage des Steinhaags einging. Obwohl er bemüht war, seinen Blick stur auf die weiterhin randvolle Suppenschale vor sich zu richten, kam Vennis nicht umhin, immer wieder das nackte Gesicht seines Freundes anzustarren. Nahim, dem diese Beobachtung natürlich nicht entging, sah Vennis herausfordernd an, nachdem die erste Verlegenheit verflogen war.

Letztendlich nahm Vennis seine Pfeife zur Hand, legte sie jedoch gleich wieder zur Seite und räusperte sich umständlich. Nahims Gesicht kam ihm verblüffend jung vor, auch wenn es nur noch wenig mit dem Jungengesicht gemeinhatte, das vor ein paar Jahren von einem struppigen Bart überwuchert worden war. Die dunklen Augen wurden durch die hellbraune Haut besonders hervorgehoben, genauso wie der schöne Schwung der Wangenknochen. All das hatte Nahim eindeutig von seiner Mutter Negrit geerbt, wie Vennis mit einem Anflug von Trauer feststellte. Alle drei markante Merkmale des Volkes aus dem NjordenEis, von dem ihre gemeinsame Mutter abstammte – nur dass diese Wurzeln bei Negrit viel ausgeprägter gewesen waren als bei Vennis, so dass seine jüngere Schwester ihm oftmals wie ein fremdes schönes Wesen erschienen war.

»Lehen hat ihren eigenen Kopf«, sagte Vennis schließlich in die Stille hinein.

»Daran gibt es nichts auszusetzen.«

Erneut griff Vennis nach seiner Pfeife und kaute auf dem Mundstück herum. »Das wollte ich damit auch nicht sagen.«

Maliande - Der Ruf des Drachen

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