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Kapitel 7

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Bienem Trubur kletterte schon seit dem frühen Morgen in den Obstbäumen herum und legte vorsichtig eine pralle Kirsche nach der anderen in einen Holzeimer, den sie neben sich an einen Zweig gehängt hatte. Der Südliche Grat zeichnete sich an diesem Frühjahrstag klar am Himmel ab, der in einem kräftigen Blau erstrahlte.

Das Jahr hatte es bislang gut gemeint mit den Menschen am Hang: Die Felder standen in voller Pracht, regelmäßige Gewitter hatten Wiesen und Laub ein sattes Grün verliehen, die Ziegen führten stolz ihre Jungen an ihrer Seite, und Balam mochte nur noch über seine üppig beladenen Weinranken am unteren Hang reden. Wenn der Herbst im wohlgeratenen Wechsel von Sonnenschein und Regen genauso großzügig werden sollte, wie das nun langsam ausklingende Frühjahr, dann würde sein Keller den Verlust des oberen Weinbergs in diesem Jahr verschmerzen können.

Gerade als Bienem sich nach einigen abseits hängenden Kirschen reckte, die ihrer Meinung nach ganz außergewöhnlich dunkelrot und glänzend aussahen, raste Borif freudig bellend am Baumstamm vorbei in Richtung Fluss davon.

Obwohl der breite Weg, der entlang des Grünstroms ins Westend führte, wegen der dichten Baumreihe nicht einsehbar war, schwenkte Bienem in freudiger Erwartung auf den nahenden Besuch so heftig den Kopf zur Seite, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Erst im letzten Moment fand sie Halt im dichten Blattwerk über sich, musste jedoch den vollen Eimer Kirschen verloren geben, der mit einem dumpfen Geräusch auf den Erdboden schlug.

Ohne weiter über den Schrecken nachzudenken, kletterte Bienem die Leiter hinab, löste ihre hochgesteckten Röcke und folgte Borif, der bereits außer Sichtweite war. Als sie jedoch an den Weißdornbüschen neben dem Steg vorbeieilte, blieb sie abrupt stehen und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du hier heute aufkreuzt, dann hätte ich mir ein großes Messer in den Gürtel gesteckt«, rief sie den beiden Reitern als Begrüßung entgegen.

Liebevoll presste Nahim sein Gesicht in Borifs dichtes, dunkel gestromertes Fell und knetete ihm gleichzeitig die fleischigen Schultern und Rippen durch. Borif war ein massiver Hund, der Lehen fast bis zur Hüfte reichte. Er hatte einen riesigen Schädel mit Hängelefzen und kleinen, eng anliegenden Ohren.

Balam erzählte gerne und voller Stolz, dass Borif, den er Lehen vor einigen Jahren vom Brennburger Markt mitgebracht hatte, mit seinem breitem Brustkorb zwar sehr dem Bullen auf der Weide gleiche, vom Gemüt her jedoch ein Lämmchen sei. Aber, und an dieser Stelle warf Balam stets einen vielsagenden Blick in die gesellige Runde, das würde nur für Freunde der Familie gelten.

»Und Freunde der Familie zeichnen sich für Borif dadurch aus, dass sie einen verlockend duftenden Korb bei sich tragen«, hatte Rameus Bregir unten im Roten Haus gesagt und höhnisch lachend mit dem Bierkrug gegen den Tischrand geklopft. »Deine Lehen hat aus diesem riesigen Köter einen Schoßhund gemacht, der selbst einen Ork mit Schwanzwedeln begrüßen würde.«

Aber Borif verstand es sehr wohl, einen Freund zu erkennen. So bewies er Nahim seine tiefe Zuneigung, indem er keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, um ihm mit seiner großen Zunge abwechselnd über Hände und Gesicht zu fahren. Es störte den Hund auch nicht im Geringsten, dass Nahim jedes Mal ein angewidertes Gesicht machte und die betroffene Stelle ausgiebig mit dem Hemdsärmel abwischte.

Maherind hatte Bienem in ein munteres Gespräch über den Brennburger Markt verwickelt, als Balam mit seinen beiden Kindern vom Feld zurückkehrte. Tevils hatte Nahims neben dem Hauseingang stehendes Schwert als Erster entdeckt und war, wohlweislich den aufsteigenden Freudenschrei in der Gegenwart seines Vaters unterdrückend, vorgelaufen.

Lehen machte sich indessen eilig zum Fluss auf, um sich zu waschen. Danach kletterte sie durch ihr Zimmerfenster ins Hausinnere, aber erst, nachdem sie sich einige Male sorgfältig umgeschaut hatte, dass niemand sie beobachtete. Nachdem sie sich umgezogen und das vom Strohhut platt gedrückte Haar frisch hochgesteckt hatte, setzte sie sich noch einen Moment auf die Truhe neben dem Bett und atmete mehrmals tief durch. Erst dann ging sie in die Wohnstube zu den anderen.

Ein wenig abseits des Tisches hatte sich Maherind platziert, die Hände in die breiten Ärmel seines Mantels gesteckt, und betrachtete die Runde. Das aufgeweckte Gesicht von Tevils und dessen Freude über Nahims Wiederkehr gefielen dem alten Mann. Schmunzelnd hatte er sich von Tevils vorführen lassen, wie dieser mit seinem ehemals gebrochenen Arm einen vollen Wassereimer mehrmals hintereinander hochheben konnte. Dann hatte Bienem den Jungen in die Küche abgeordert, damit er etwas zu essen auf den Tisch bringen möge.

Frau Trubur schien mindestens genauso glücklich über den Besuch zu sein wie ihr Sohn, denn sie schickte Balam, obwohl es gerade erst später Nachmittag war, in den Keller, um einen Begrüßungsschnaps zu holen. Dann gesellte sie sich wieder zu Maherind, in der Hoffung auf den neusten Klatsch, den das Tal zu bieten hatte.

Lehen hatte die beiden Männer nur kurz begrüßt und war dann zu Tevils gegangen, um ihm bei den Vorbereitungen zu helfen. Tevils stellte ihr unablässig Fragen, während er das Brot in unregelmäßige und viel zu dicke Scheiben schnitt, bis Lehen ihm das Messer wegnahm.

»Warum sollte ich mich darüber freuen, dass die beiden Männer da sind?«, fragte sie mürrisch. »Was bedeuten schon ein paar Tage ihrer Gesellschaft, wenn sie dich anschließend mitnehmen werden. Ihr werdet bald fort sein, und ich sitze hier allein in diesem Steinkessel fest.«

»Das stimmt doch gar nicht!«

Tevils war verblüfft über die Traurigkeit in der Stimme seiner Schwester. All die vergangenen Monate lang hatte Lehen ihn in seiner Abenteuerlust bestärkt und Balam gegenüber ihre Meinung wiederholt, dass es für Tevils nur gut sein konnte, das Tal zu verlassen. Immer wieder hatten sich die beiden Geschwister gemeinsam ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn Nahim den Grünstrom entlangritt, um Tevils abzuholen.

Sobald der Schnee geschmolzen war, war Bienem auf den Hof am Hang zurückgekehrt, da sie nicht die schönste Zeit des Jahres mit dem Wechseln von Windeln und einer brummigen Allehe verbringen wollte. Sie hatte sich der Meinung ihrer Kinder angeschlossen, auch wenn sie nicht sonderlich erfreut darüber war, dass der messerschwingende junge Bursche ihren Sohn abholen würde.

Balam hatte auf die einheitliche Front gegen sich zuerst verärgert reagiert, doch als Tevils’ Begeisterung im Laufe des Winters nicht erlosch, stellte er sich schließlich seinen Ängsten und erklärte sich bereit, seinen Sohn für zwei Sommer bei den Männern zu lassen.

»Mama und Papa gehen doch nicht mit weg«, versuchte Tevils, Lehen zu trösten, die mit viel Getöse Teller hinter allerlei Bechern und Schalen hervorzerrte. »Und Allehes neues Baby ist doch auch bald da. Dann kannst du den Winter über im Westend bleiben, dich um die Kinder kümmern und am Abend ins Rote Haus gehen. Du wirst ganz bestimmt nicht einsam sein!«

Behutsam stellte Lehen den Geschirrstapel vor sich ab und strich ihrem Bruder übers wirre Haar, wobei sie sich ein wenig merkwürdig vorkam, da Tevils sie mittlerweile an Größe beinah eingeholt hatte. Vorsichtig warf sie Nahim einen Blick aus den Augenwinkeln zu, der sichtlich angespannt neben einem verdrießlich dreinblickenden Balam saß, und sagte leise: »Lass dich nicht von mir ärgern, Tevils. Heute ist ein schöner Tag.«

Nach dem Essen setzte sich die Gesellschaft vors Haus. Es wurden randvolle Weinbecher und Schalen mit Obst und Nüssen auf ein wackliges Tischchen gestellt. Maherind steuerte ein Glas mit in Rum eingelegten Weintrauben bei, das er auf dem Brennburger Markt ersteigert hatte. In der immer noch warmen Luft der Dämmerung verströmten Lehens Rosen einen wunderbaren Duft, der sich mit dem der Jasminsträucher vermischte. Ein Schwarm Raben zog seine Runden über dem Hof, doch niemand schenkte den dunklen Vögeln Beachtung.

Nahim streckte die langen Beine aus und schloss für einen Moment die Augen. Neben ihm schimpfte Bienem leise, warum der Kerl Tevils ausgerechnet ein Messer habe schenken müssen. Balam hingegen, der eine der Schmuckfliesen in den Händen hielt, setzte Maherind in einem Vortrag die Brennburger Töpferkunst auseinander. Träge stiegen Maherinds Rauchkreise in die Höhe, und der prickelnde Duft des Fijenholzes kribbelte in Nahims Nase. Bevor er jedoch eindösen konnte, schreckte ihn Tevils’ schrill klingende Stimme auf.

»Ein Geschenk fehlt noch«, sagte der Junge und rammte mit konzentriertem Gesichtsausdruck das Messer in die Tischplatte.

»Himmel!«, fauchte Lehen ihn an. »Such dir doch ein Stück Holz zum Schnitzen! Oder geh und spitz die Latten des Weidengatters an, dann bist du wenigstens einmal von Nutzen.«

»Das ist doch kein Schnitzmesser, Lehen!«, gab Tevils beleidigt zurück. »Außerdem hat sogar Borif etwas zum Kauen gekriegt. Warum solltest du also leer ausgehen?«

Noch bevor Nahim etwas sagen konnte, stand Lehen auf und verließ die gesellige Runde. Er fand sie unter den Obstbäumen am Fluss wieder, wo sie verstreut umherliegende Kirschen aufklaubte.

»Es ist nicht so, dass ich auch ein Geschenk erwartet habe«, wehrte sie sogleich ab. »Nur die Art, wie Tevils es angesprochen hat, war mir unangenehm. Er entwickelt zurzeit ein regelrechtes Talent darin, mir auf die Füße zu treten. Ich bin wirklich froh, dieses Plappermaul bald los zu sein.«

Aufgebracht schnappte Lehen sich eine Hand voll Kirschen, die jedoch zwischen den fest zugreifenden Fingern zerplatzten. Der rote Saft lief ihr über die Haut. Unwirsch rieb sie die Handfläche am hellgrünen Stoff ihres Kleides trocken, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass das Kleid damit ruiniert war.

»Es ist ja auch nicht so, dass ich kein Geschenk für dich habe«, entgegnete Nahim. »Es ist nur noch nicht so richtig fertig ...« Zu seiner Erleichterung sah Lehen ihn neugierig an, und obwohl es ihm schwerfiel, hielt Nahim ihrem direkten Blick stand. »Es ist etwas Besonderes, und ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird.«

Sichtlich erleichtert schenkte Lehen ihm ein Lächeln. »Wenn du noch Zeit brauchst, dann bleibt doch einfach da. Der Frühling hier am Hang ist immer ganz wunderbar, und in ein paar Tagen wird es ein großes Fest unten im Westend geben, um den Sommer zu begrüßen. Mit Musik und Tanz unter unzähligen Lampions – jeder im Süden des Tals ist dann auf den Beinen! Bienem und Balam beherbergen dich und deinen Freund sicherlich gerne, zumal seit eurer winterlichen Orkjagd keine dieser Kreaturen mehr auf dem Hang ihr Unwesen getrieben hat. Somit hättest du genug Zeit, um fertig zu bekommen, was du dir vorgenommen hast. Oder erwartet dich jemand ganz dringend zurück?«

Nahim schüttelte leicht den Kopf, dann griff er nach dem Eimer voller zermatschter Kirschen und kehrte mit Lehen auf den Hof zurück.

Ein Rabe, der in einem der abgeernteten Kirschbäume saß, pickte missmutig an einer grünen Kirsche. Heute Abend noch würde er etwas viel Besseres zu fressen bekommen, dachte er sich und breitete seine fransigen Schwingen aus.

Am nächsten Morgen molk Lehen gerade die Ziegen auf der Weide, als Borif, der bislang faul ausgestreckt neben ihr gedöst hatte, ein leises Knurren von sich gab und zugleich mit dem Schwanz zu wedeln begann. Umsichtig zog Lehen den Eimer unter der emsig grasenden Ziege hervor und folgte Borifs Blick in Richtung Deens Steinhaag.Als leiser Gesang erklang, wollte der Hund losstürmen, doch Lehens scharfes »Bleib!« ließ ihn in der Bewegung innehalten.

Mit einem flinken Grifflöste Lehen ihre Schürze und legte sie als unauffälliges Knäuel neben den Schemel, auf dem sie mit durchgedrücktem Rücken saß. Nachdenklich fuhr sie einige Male mit dem Zeigefinger durch die warme gelbe Milch und betrachtete ihre mit Grasflecken übersäten Füße. Schließlich stand sie auf, verhakte die Hände hinterm Rücken und wartete, bis der Besuch auf dem schmalen Pfad zwischen den Felsen von Deens Steinhaag sichtbar wurde.

Die Begrüßung zwischen den beiden Schwestern fiel so kühl wie eh und je aus, aber auch ihrem Schwager Damir gegenüber legte Lehen eine ungewöhnliche Zurückhaltung an den Tag. Falls Damir sich dessen bewusst war, so ließ er es sich nicht anmerken. Er gab Lehen einen Kuss auf die Wange und nahm ihr den Eimer mit der Ziegenmilch ab, mit dem sie ihn beharrlich auf Abstand hielt.

Der dritte Gast beobachtete die Begrüßung aus einigen Metern Distanz. Rameus Bregir, dem die Mühle unten am Fluss gehörte, war ein kräftiger Mann, dessen Augen tief in ihren Höhlen lagen, so dass sie stets mürrisch wirkten. Wie üblich begnügte er sich damit, Lehen gegenüber ein Nicken anzudeuten.

Mühsam verkniff sich die junge Frau die Bemerkung, dass Balam von Rameus’ Anwesenheit gar nicht begeistert sein würde. Der Hangbauer hatte noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sein Korn lieber den langen Weg nach Brennburg karrte, anstatt es bei diesem Halsabschneider mahlen zu lassen.

Als sie auf dem Weg zum Haus an den Blumenbeeten vorbeikamen, brach Allehe eine der fein aufgefächerten Pfingstrosen ab. Dabei richtete sie den Blick fest auf Lehen, die augenblicklich vor Wut die Lippen aufeinanderpresste.

Allehe winkte ihrer Schwester mit der Blüte zu und sagte: »Die kann mir Mama doch später ins Haar einflechten, oder was denkst du? Oh, wie dumm von mir! Für derlei Tand hast du ja keinen Sinn. Für Lehen sind der einzige Schmuck, der eine Frau wirklich kleidet, die Schwielen an ihren Händen.«

Lehen schnaubte verächtlich, doch da Damir seiner Frau ein nachsichtiges Lächeln schenkte, fiel es ihr schwer, die stolze Miene aufrechtzuerhalten. Diese Art Spielchen prägten schon seit Kindertagen das Verhältnis der beiden Schwestern, und obwohl Lehen die Ältere war, hatte sie stets Niederlagen hinnehmen müssen.

Wo Bienem die Lebensfreude und das hitzige Temperament ihrer jüngeren Tochter lobte, da sah Lehen nur Ungeduld und Oberflächlichkeit. Sowohl Allehes früh erblühte Schönheit als auch ihr Witz und ihr Charme hatten in Lehen stets ein Gefühl der Unzulänglichkeit hervorgerufen, auf das sie nur mit stumm unterdrückter Wut zu reagieren wusste.

Am meisten jedoch machte es Lehen zu schaffen, dass ihre Schwester diese sorgsam versteckte Schwäche erkannt hatte und ihre Überlegenheit sichtlich genoss. Dermaßen herausgefordert ließ Lehen keine Gelegenheit aus, es ihr heimzuzahlen: Obwohl sich die widerspenstige Klette in Allehes Haarspitzen verfangen hatte, schnitt sie die dicke Lockensträhne knapp über der Kopfhaut ab. Oder sie erzählte dem Mädchen, als es die ersten feinen Haare an seinem Körper entdeckte, dass es sich allmählich in ein Wolfskind verwandeln würde.

Trotzdem litt Lehen unter ihren Rachezügen, denn die bestätigten ihr nur schmachvoll die eigene Unterlegenheit. Sie fühlte sich jedes Mal schäbig, während Allehe alles mit einem lässigen Schulterzucken abtat. Schließlich konnte die Jüngere sich stets sicher sein, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, während Lehen allerhöchstens mit Lobpreisungen für ihre schönen Blumenbeete von ein paar alten Weibern oder mit der stillen Liebe ihres Vaters rechnen konnte.

Dass Damir sich, wenn auch überstürzt, für Allehe entschieden hatte, war in dem damaligen Frühjahr keine große Überraschung mehr für Lehen gewesen, obwohl der Verrat sie lange Zeit geschmerzt hatte. Es hätte sie wohl eher verwundert, wenn Damir die allgemeine Bewunderung im Westend für die hinreißende junge Tochter der Truburs nicht geteilt hätte.

Nicht einmal Balam hatte dem Schmied einen Strick daraus gedreht, dass er bei Lehen so lange Hoffnungen geweckt und dann plötzlich die jüngere Schwester hofiert hatte. Nur dass Damir nicht bereit gewesen war, wenigstens einen Sommer zu warten, bevor er sich Allehe näherte, hatte Balams Wut geschürt. Doch der resolute Damir hatte auch diesen Zweifel ausräumen können.

Als sie Maherind und Nahim auf dem Hof begegneten, schmiegte sich Allehe ausdrücklich an die Seite ihres Mannes. Mit einer verspielten Geste strich sie den Stoff ihres Kleides glatt, um ihren geschwollenen Bauch zu kaschieren, wie Lehen mit Argusaugen beobachtete. Dann schickte sie sogleich ihr einnehmendes Lächeln hinterher, aber Lehen wagte nicht zu überprüfen, ob es bei Nahim Wirkung zeigte.

Zu Lehens Erstaunen ließ Damir keine Bemerkung darüber fallen, dass Nahim verfrüht ins Tal zurückgekehrt war. Selbst sein wiederholt geäußerter Missmut über Balams Entschluss, Tevils den Fremden mitzugeben, schimmerte heute nicht durch. Allerdings begrüßte er die Männer nur knapp und zog dann eine neugierig über die Schulter zurückblickende Allehe ins Haus, wo Bienem mit saurem Gesichtsausdruck Grünzeug kleinschnitt.

Da es zur Mittagszeit draußen warm war, beschlossen die Truburs, die noch ausstehenden Arbeiten auf die späteren Stunden zu verschieben und den seltenen Besuch aus dem Westend zu genießen. Man fand sich unter der alten Kastanie am Steg ein, deren mächtige Krone, die alle anderen Bäume an Höhe übertrumpfte, immer noch in voller Blüte stand. Der rasche Lauf des Wassers fing das Sonnenlicht auf und warf es glitzernd zurück.

Doch Damir war mit schlechten Neuigkeiten den Steinhaag hinaufgestiegen: In den frühen Morgenstunden war Rameus zusammen mit einem verstörten Boten, den er am Pass bei der Mühle aufgelesen habe, in die Schmiede gekommen. Orks hätten eine Gruppe von Ziegenhirten unweit des Hangs überfallen. Von Toten und Verletzten sei die Rede gewesen. Die Herde mit zahlreichen Jungtieren hätten die siegreichen Orks fortgetrieben und niemand habe es gewagt, ihnen zu folgen. Damir wollte daraufhin sofort seinen Schwiegervater aufsuchen, um ihm wegen der erneuten Gefahr Hilfe anzubieten.

Während Damir die Erzählung des Boten mit knappen Worten wiedergab, saß Rameus mit unbewegtem Gesicht an seiner Seite und taxierte ungeniert die beiden fremden Männer, die sich ebenfalls unter der Kastanie eingefunden hatten.

Balams Unwille gegenüber Rameus war ihm deutlich anzumerken, aber in Gegenwart seines Schwiegersohns bemühte er sich um Gelassenheit. Lehen teilte die Einschätzung ihres Vaters, dass Rameus ein unnahbarer Mensch war, der nur seine eigenen Interessen verfolgte. Die Art, wie er die Mühle führte, war hierfür Beweis genug. Trotzdem waren Damir und Rameus seit ihrer Kindheit die engsten Freunde, ein ungleiches Paar, das viel Staunen hervorrief: auf der einen Seite der allseits bewunderte Schmied, auf der anderen der verschrobene Müller.

»Wie konntest du nur Allehe mit hierher bringen, wenn Orkbanden kurz davor sind, den Hang einzunehmen, Damir?«, fuhr Bienem ihren Schwiegersohn an. »Dein Verstand funktioniert doch ansonsten recht gut. Hast du vielleicht in den letzten Tagen versehentlich deinen Kopf auf den Amboss gelegt und dann kräftig zugehauen?«

Ihr Gesicht war gerötet vor Zorn, als sie Damir hart am Arm packte. Doch der reagierte lediglich mit einem Schulterzucken.

»Es ist schließlich helllichter Tag, da lässt sich bekanntlich kein Ork blicken. Außerdem kennst du deine Tochter doch selbst am besten. Als sie hörte, dass wir zu euch hochsteigen wollten, da kam ihr plötzlich in den Sinn, nach Wochen des Schmollens ihre Mutter wiedersehen zu wollen. Was hätte ich tun sollen? Sie in der Küche einschließen, damit sie das gesamte Westend zusammenschreien kann? Außerdem ist sie erträglicher, wenn sie kräftig geklettert ist.«

Weder das abfällige Schnaufen seiner Frau noch der unbarmherzige Griff seiner Schwiegermutter schienen Damir zu beeindrucken. Stattdessen blieb er an Nahims Blick hängen, und seine Augen zuckten kaum merklich, als dieser schließlich sagte: »Wenn der Überfall genauso abgelaufen ist, wie der Bote ihn geschildert hat, dann müsste der Angriff am späten Morgen, wenn nicht gar zur Mittagszeit stattgefunden haben. Ein Orküberfall im strahlenden Sonnenschein?«

Damir sah Nahim verärgert an, doch bevor er etwas erwidern konnte, kam ihm Rameus zu Hilfe, der bislang konzentriert seine obere Zahnreihe mit einem Strohhalm gereinigt hatte.

»Woher sollten wir aus dem Tal denn wissen, warum Nachtwesen angreifen, wenn die Sonne im Zenit steht? Vielleicht werden die Biester ja zusehends tollkühner, oder der Rabenmann ist beim Erzählen durcheinandergeraten, schließlich war auch er nur ein Übermittler der schlimmen Neuigkeiten und kein Zeuge.«

Beim Erwähnen des Rabenmanns gab Balam ein wütendes Schnauben von sich, und Damir ergriff abermals das Wort: »Das Wichtigste ist doch, dass die Orks wieder vorgedrungen sind und brutaler als je zuvor zugeschlagen haben. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch deinen Hof erneut heimsuchen werden, Balam. Und dieses Mal könntest du mehr verlieren als nur ein paar alte Reben. Darum möchte ich dir vorschlagen, einen meiner Gesellen zum Schutz aufzunehmen. Du weißt ja, dass seit einiger Zeit Männer von mir auf Almen und auch schon auf dem einen oder anderen Hof postiert sind. Bienem und Lehen können mit in mein Haus kommen, da sind sie sicher. Und Tevils sollten deine beiden Freunde hier unter diesen Umständen möglichst bald fortbringen.«

»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Balam nachdenklich, dem das alles viel zu schnell ging. »Nachrichten, die der Rabenmann überbringt, stehe ich grundsätzlich skeptisch gegenüber. Er lässt sie sich mit Münzen bezahlen, heißt es. Warum weiß er nicht, um wessen Herde es sich handelt? So viele Leute treiben ihr Vieh nun auch wieder nicht über die Höhen. Außerdem, wie stellst du dir das vor, auf unabsehbare Zeit auf einen deiner Gesellen zu verzichten?«

Sichtlich widerwillig antwortete Damir: »Da werden wir beide uns ganz gewiss einig. Alles in allem verspricht dieses Jahr schließlich eine großartige Ernte, aber lass uns darüber ein anderes Mal unter vier Augen reden.«

»Du sprichst davon, dass die Truburs dir einen Teil ihres Gewinns abtreten sollen, und dafür spaziert dein kampferprobter Schmiedgeselle über ihr Land und wartet auf einen Angriff des Feindes?« Maherind machte ein erstauntes Gesicht. »Man sollte meinen, es sei im Interesse des gesamten Westends, dass der von der Natur reich beschenkte Süden nicht der Willkür irgendwelcher niederen Kreaturen zum Opfer fällt.«

»Es ist so einfach, die Probleme anderer Leute zu lösen, wenn man nicht lange genug an einem Ort bleibt, um die Folgen kennen zu lernen«, erwiderte Damir kühl. »Ich verzichte gern auf die Arbeit meiner besten Männer, wenn ich weiß, dass der Schutz des Trubur Hofs gewährleistet ist. Wenn ich dafür einen Ausgleich brauche, ist es ungerecht, mich als berechnend hinzustellen.«

»Es geht doch nicht darum, dir Eigennutz unterstellen zu wollen«, mischte sich Nahim ein und kam somit einem verwirrten Balam zuvor, der gerade das Wort ergreifen wollte. »Maherind hat Recht, wenn er sagt, dass die Orkübergriffe alle Menschen in dieser Gegend betreffen. Es kann nicht angehen, dass die einzelnen Bauern und Hirten allein für den Schutz der Südlichen Höhen aufkommen. Wie sollte das auch langfristig funktionieren, wenn nur einzelne Höfe, die es sich leisten können, geschützt werden würden, und der Rest den Orks zum Opfer fiele?«

Schweigen breitete sich in der Runde aus, bis Balam schließlich durch ein angedeutetes Nicken Lehen aufforderte, ihre Meinung zu äußern.

»Wir sollten nicht vergessen, dass es der Rabenmann war, der diesen Disput ausgelöst hat, mit einer wirren Geschichte von Raub und Mord. Er ist ein verlogener Taugenichts, ein Geheimniskrämer, der sich auf den Südlichen Höhen herumtreibt. Seine Geschichte scheint mir nicht so recht Hand und Fuß zu haben. Wer weiß, was dort oben wirklich passiert ist? Eins ist zumindest sicher: Der Rabenmann sitzt gerade gemütlich in eurem Haus und plündert die Vorratskammer. Dein Angebot ist mehr als großzügig, Damir. Aber ich denke, wir sollten abwarten, bis weitere Neuigkeiten den Hang erreichen, so dass wir uns ein genaues Bild von dem Ausmaß der Gefahr machen können.«

»Das kluge Schlusswort gehört wie immer meinem Schwesterherz«, sagte Allehe, und ein süßes Lächeln umspielte ihren Mund. »Und wir anderen können uns nun wie eine Horde Dummköpfe vorkommen, weil wir aus Sorge hier hochkamen und überflüssige Hilfestellung anboten.«

Am Nachmittag fing Lehen ihre Schwester in der Küche ab und packte sie fest am Oberarm, als diese Anstalten machte, auf den Hof hinaus zu ihrer Mutter entwischen zu wollen. Unsanft drängte Lehen sie in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Her mit der Blume«, zischte sie Allehe an.

Einen Moment lang schaute das Mädchen verstört drein, dann riss sie sich die Pfingstrose aus dem Haar und warf sie auf den Boden.

»Das ist doch lächerlich, Lehen. Was willst du von mir?«

Ohne ihre Schwester aus den Augen zu lassen, hob Lehen die bereits welke Blume auf und legte sie auf die Fensterbank. Dann rieb sie sich mit beiden Händen über das vor Wut gerötete Gesicht.

»Ich weiß auch, dass das hier lächerlich ist. Aber du musst ja jedes Mal wieder mit diesem Spielchen anfangen. Dieses Aufgesetzte, diese Koketterie. Was versuchst du, damit zu verbergen? Vielleicht, dass du nicht ganz so naiv bist, wie alle denken?«

»Das ist wieder einmal typisch«, gab Allehe aufgebracht zurück. »Du versuchst, mir ja nur dein Problem in die Schuhe zu schieben! Aber falls du weiterhin Papas kleine Ratgeberin spielst, darfst du dich auch nicht wundern, wenn der gute Nahim dir kameradschaftlich auf die Schulter klopft und anschließend das Bett einer anderen Frau aufsucht. Darum geht es dir doch, nicht wahr? Aber Lehen, ein nettes Kleid bei der Arbeit anzuziehen, wird kaum ausreichen. Du bist trotzdem so sinnlich, wie Borif gefährlich ist.«

Obwohl Lehen es verzweifelt versuchte, sie konnte ihre Bestürzung nicht verbergen.

Allehe setzte mit siegessicherem Lächeln fort: »Wenn du möchtest, komm vor dem Sommerfest zu mir, und dann erzähle ich dir ein wenig über die Männer. Vielleicht bringe ich dir sogar ein paar Tanzschritte bei.«

Mit diesen Worten schnappte sich Allehe die Pfingstrose und marschierte aus der Kammer, ohne ihre Schwester eines weiteren Blickes zu würdigen. Erschöpft ließ sich Lehen auf ihr Bett sinken und vergrub das glühende Gesicht in den Kissen.

Maliande - Der Ruf des Drachen

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