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Kapitel 4

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In den frühen Morgenstunden des achten Tages nach Ankunft der drei bewaffneten Männer, als der Hof der Truburs noch im Dunkeln lag, ging jemand eiligen Schrittes auf das Haus zu. Aber noch bevor er die Klinke der Eibentür herunterdrücken konnte, wurde ihm ein Arm auf den Rücken gedreht und eine Messerklinge an die Kehle gehalten.

Bienem Trubur, Balams Frau, schrie vor Entsetzen und Empörung laut auf und verhedderte sich in ihren Röcken, als sie versuchte, dem hinterhältigen Angreifer Paroli zu bieten.

Nun saß Bienem mit vor der Brust verschränkten Armen nahe der Eingangstür und starrte Nahim an, der sich vor ihrem wütenden Blick in Sicherheit zu bringen versuchte. Borif hingegen hatte den Kopf im Schoß der aufgebrachten Frau vergraben und brummte zufrieden.

Lehen nahm einige der Tontöpfe von dem breiten Bord über ihrem Bett und tat etwas vom Inhalt in bestickte Baumwollbeutel. Eilig lief sie in dem düsteren Raum auf und ab, der lediglich von einigen Öllampen beleuchtet wurde.

Am vorangegangen Tag war Vennis in Begleitung von Tevils zum Brennburger Markt aufgebrochen, um vorsorglich Getreide und andere Vorräte für den sich ankündigenden Winter zu besorgen.

Regelmäßig fand der größte Markt des Tals zu Füßen von Trevorims Pforte in Brennburg statt, wo das ganze Jahr über allerlei Handwerk, Waren und Tiere feilgeboten wurden. Da er jedoch einen ganzen Tagesritt vom Trubur’schen Hof entfernt lag, würden Vennis und der Junge, der beim Abschied überglücklich hinter ihm auf dem Pferd saß und sich mit nur einer Hand leicht an dessen Taille festhielt, erst im Laufe des nächsten Tages zurückkehren.

»Ist Allehe mit den Wehen nicht ein wenig früh dran?«, fragte Balam, der seine Frau vom Ofen aus unglücklich ansah, während er kochendes Wasser in die Teekanne füllte. Er hatte zuvor ein gusseisernes Gefäß mit Wasser aus der Glut geholt und sich dabei aus Unachtsamkeit den Daumen verbrannt.

»Was sind das für Kerle, die du neuerdings in unser Haus einlädst?«, hielt Bienem dagegen. »Du hast eine ungebundene Tochter hier, bist du dir dessen überhaupt bewusst? Der dort drüben hat mich auf meinem eigenen Hof mit einem Messer bedroht. Er hat es mir tatsächlich ganz dicht an den Hals gehalten, Balam Trubur!« Mit einem Nicken deutete sie in Nahims Richtung, der sich noch tiefer in eine dunkle Ecke zurückzog.

Balam biss sich unwillkürlich auf die Lippe und nahm sich mit einer Antwort Zeit, bis er Bienem eine Schale mit zu dünn geratenem Tee anbot, die sie jedoch ignorierte.

»Ich habe dir gesagt, dass Allehe noch zu jung für eine Verbindung ist, und nun liegt sie viel zu früh in den Wehen. Aber du interessierst dich ja nicht für meine Meinung«, sagte Balam und schaute in den aufsteigenden Wasserdampf vor sich.

Bienem schnaufte laut. »Wenn du hier nicht so weit abseits hausen würdest, wüsstest du, dass deine jüngste Tochter schon seit Wochen so aussieht, als hätte sie einen von Frau Witts berühmten Muskatkürbissen verschluckt.«

»Da sie trotz alledem erst im siebten Monat schwanger ist, sollten wir uns wohl besser beeilen«, warf Lehen ungeduldig ein.

Die betretenen Mienen ihrer Eltern vernachlässigend, schulterte sie einen schweren Beutel und trat dann zu Brill ans Lager, der sich die Decke bis zur Nase hochgezogen hatte und sich trotz des lauten Streits schlafend stellte.

»Und du solltest bis zu meiner Rückkehr liegen bleiben und auch ansonsten tun, was ich dir gesagt habe.«

Als Brill sich nicht rührte, legte Nahim ihr kurz eine Hand auf die Schulter und sagte: »Er wird tun, was du gesagt hast. Schließlich will er Trevorims Pforte noch in diesem Jahr sehen, und zwar möglichst in unserer Begleitung und in der seines Schwertes.«

Lehen küsste ihren unglücklich dreinblickenden Vater zum Abschied auf die Wange und nickte Nahim noch freundlich zu, bevor sie in die Dunkelheit hinauslief, gefolgt von Borif und ihrer Mutter, die für keinen der Männer ein Abschiedswort übrig hatte.

Allehe Trubur war stets das Lieblingskind ihrer Mutter gewesen. Sie war ein temperamentvolles und eigenwilliges Wesen mit wild gelocktem Blondhaar und einem herzförmigen Gesicht.

Noch auf dem vergangenen Frühjahrsfest hatte Bienem ihr, der Tradition für Mädchen an der Schwelle zur Frau gehorchend, Wildröschen ins Haar geflochten. Doch in den Blumengebinden lag die einzige Gemeinsamkeit zwischen Allehe und den anderen Mädchen des Westends. Während diese nämlich verlegen an den Rockzipfeln ihrer Mütter hingen oder sich in kleinen Gruppen in der Nähe der Tanzfläche herumtrieben, durchtanzte Allehe die warme Frühjahrsnacht mit Damir, dem Schmied des Westends.

Entgegen Lehens Befürchtungen war die Geburt schnell und unkompliziert vonstatten gegangen. Als sie schließlich das Neugeborene in den Händen gehalten hatte, stellte sie erleichtert fest, dass das Kind voll ausgereift war. Im nächsten Augenblick versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich: Allehe und Damir mussten also schon viel früher zueinandergefunden haben. Ein weiterer quälender Verrat, mit dem sie zu leben hatte.

Nun drehte Allehe ihr abrupt den Rücken zu, denn sie versuchte erneut, ihr das rothäutige und verschrumpelte Mädchen in den Arm zu legen, das sie gerade erst unter großen Anstrengungen und noch größerem Geschrei zur Welt gebracht hatte.

»Nein!«, jaulte Allehe auf, als ihre Schwester sie unsanft an der Schulter packte. »Nimm dieses widerliche Balg weg, und mach, dass du rauskommst.«

»Lass sie los, Lehen!«, jammerte Bienem. »Lass deine Schwester doch in Ruhe. Wir holen Milch von Frau Fenbur gegen Münzen, das habe ich Allehe versprochen. Du siehst doch, dass sie das nicht kann. Ein Kind ist halt noch nichts für so ein junges Ding.«

Aber Lehen gab nicht nach. Sie drehte die sich heftig wehrende Allehe auf den Rücken und starrte sie zornig an. »Hör zu, Allehe, du wirst dich jetzt zusammenreißen. Denn wenn du glaubst, dass ich mit einem Neugeborenen durch die kalten Straßen laufe, weil dein Interesse am Muttersein erst einmal abgekühlt ist, dann hast du dich geirrt. Du wirst jetzt sofort mit dem Schmollen aufhören und dich um dein Kind kümmern. Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob du das abstoßend findest oder nicht.«

Ein paar Wuttränen liefen Allehe über das Gesicht, und um Hilfe heischend schaute sie zu ihrer Mutter. Aber sie musste feststellen, dass Bienem zwar weiterhin hinter Lehens Rücken klagte, aber nicht wagen würde einzugreifen. Die Unterlippe kindlich vorschiebend, nahm Allehe schließlich das kleine Mädchen entgegen und sagte: »Aber ihr dürft mir dabei nicht zuschauen.«

Am Abend darauf fand Tevils Lehen und seine Mutter in der weitläufigen Stube des alten Rog-Hauses vor, wo sie beharrlich schweigend nebeneinandersaßen und Tee tranken. Borif lag ausgestreckt vor dem Ofen und wedelte nur kurz einmal mit dem Schwanz, als der Junge die Tür aufriss und hereinstürmte.

»Vennis ist mit Nahim auf Orkjagd gegangen!«, schrie er begeistert und schlug Lehen mit dem geschienten Arm auf die Schulter. »Und sie wollen mir eine Trophäe mitbringen, wenn sie diese miesen Pferdediebe erwischen. Ein Ohr oder vielleicht sogar ein paar Reißzähne, wer weiß!«

Allem Anschein nach war es den Orks gelungen, einen Weg durch die westlichen Wälder bis zum Steinhaag auszukundschaften. Bislang hatten sich ihre Schandtaten auf die Südlichen Höhen begrenzt, weil sie von dort aus am schnellsten in die Ebene zurückkehren konnten. Während Wanderer der menschlichen Art Siskenland mieden, fühlten sich die Orks in der Ebene ausgesprochen wohl. Dort hausten sie in Horden in Stollwerken, die sie tief ins Erdreich trieben. Über die Bergkette wagten sie sich nur vereinzelt, da ihnen eine Landschaft, in der ihnen das felsige Erdreich keine Sicherheit vor der Sonne garantierte, nicht geheuer war.

Doch in den letzten Monaten hatten sich Orkspäher Stück für Stück die Südlichen Höhen erschlossen, indem sie nach Höhlen suchten und mit Leder bespannte Unterstände bauten. Sie drangen in die Gebiete der Talbewohner vor, raubten Weidetiere und überfielen einsam gelegene Almen. Immer wieder gelangten neue Geschichten über Orktaten bis ins Westend und verängstigten die Menschen dermaßen, dass so mancher Almbauer und Ziegenhirte nach dem letzten Winter nur mit Unbehagen auf die Südlichen Höhen zurückgekehrt war.

In der Nähe seines Hofes hatte Balam Trubur ein Stück Weide eingezäunt, auf der von Frühjahr bis Herbst der alte Ochse stand und den Ziegen beim Grasen zuschaute oder stur durch die kleine Schar von Gänsen trottete, die aufgeregt zur Seite flatterte. Die Ankunft der drei Pferde hatte er ebenfalls stoisch hingenommen.

Die Weide hinter Balams Hof folgte einem sanften Hügel und stieß weiter abwärts auf den Beginn von Deens Steinhaag. Die steil abfallende Böschung, die sich bis zum Saum des Dorfes Westend erstreckte, bildete eine Landschaft aus schroffen und zerklüfteten Felsen. Sie war mit Schiefereiben bewachsen, deren knorrige Wurzelfinger sich in den bloßen Stein zu graben vermochten. Vielerlei seltene Kräuter wuchsen in ihrem Windschatten und in den unzähligen Felsspalten, so dass Lehen und einige der anderen Westendler wiederholt gefährliche Kletterpartien auf sich nahmen.

Linker Hand wurde die Weide auf natürliche Weise durch den Verlauf des Grünstroms begrenzt, der trotz seines recht schmalen Bettes nur an wenigen Stellen zu überqueren war, da er im rasanten Tempo dem Tal und der dortigen Mühle entgegenstürzte.

Vor einigen Tagen waren Nahim und Vennis auf diese Weide gegangen, um den Unterstand auszuweiten und gegen den kräftigen Westwind abzuschirmen, damit die Tiere möglichst lange im Freien stehen bleiben konnten. Der Stall von Truburs Hof bot mit seinen engen Verschlägen nur wenig Platz, da er in erster Linie auf das Kleinvieh ausgerichtet war. Aber die Männer hatten sich dagegen entschieden, die Tiere bei einem der größeren Höfe im Westend unterzubringen, da sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, vor dem endgültigen Wintereinbruch weiterreiten zu können.

Balam wollte am frühen Morgen nach den Pferden sehen, um ihre samtenen Nüstern zu streicheln und sie mit Leckereien zu füttern, und musste feststellen, dass das Gatter aufgebrochen worden war und zwei Pferde fehlten. Nahims gescheckter Hengst Eremis lief nervös am Flussufer entlang, und als Nahim später auf ihn zutrat und ihm beruhigend zuredete, scheute er zunächst. Um seinen Hals lag eine grobe Schlinge, und das Fell des schönen Tieres zeigte deutliche Spuren, dass jemand versucht hatte, es mit Gewalt zu bändigen.

Nachdem sich der Hengst von seinem Herrn hatte einfangen und in den Stall bringen lassen, holten Vennis und Nahim ihre Waffen sowie ein wenig Proviant, denn sie wollten rasch aufbrechen, um der Spur der Diebe zu folgen. Allerdings unterließen sie es wohlweislich, ihren Freund Brill über ihr Vorhaben zu unterrichten.

»Ihr versteht nicht, diese Orks mussten sich hier ausgekannt haben!«, rief Balam den beiden Männern hinterher, während er versuchte, mit ihnen Schritt zu halten. Zwischenzeitlich drehte er sich um und schimpfte mit Tevils, der ihnen beharrlich folgte, anstatt ins Haus zurückzukehren, wie sein Vater es bereits mehrmals gefordert hatte.

»Ihr werdet sie nicht finden, denn die Höhen sind steinig, so dass kein Orkfuß eine Spur hinterlässt.«

»Das ist nicht die erste Orkspur, der wir folgen«, gab Vennis zurück.

»Aber bei Tag, da werden sie sich verstecken. Niemand findet einen Ork am Tag. Und wer will ihnen schon bei Nacht begegnen? Sie haben Augen wie Luchse und jede Menge krummer Säbel und gezackter Messer bei sich.«

Nahim blieb neben dem schwer atmenden Balam stehen, während Vennis weiter voranpirschte. »Es sind unsere Pferde, und wir brauchen sie. Wer weiß, was diese Kreaturen mit ihnen vorhaben?«

Kurz bevor er sich zum Weitergehen abwenden konnte, sah Nahim die Sorge in den Augen des Bauern. »Wir sind sicherlich schon in ein paar Tagen mit den Pferden zurück«, fügte er deshalb hinzu. »Und mit ein paar Orktrophäen. Die kann Tevils dann über der Eibentür aufhängen.«

Der von seinen Freunden zurückgelassene Brill brauchte nicht lange, um Balam mit seinem Fluchen und Schimpfen über die untreuen Freunde und seinen widerwilligen Körper dazu zu treiben, Tevils trotz der vielen anstehenden Arbeiten ins Westend zu schicken, damit er Lehen zurückhole.

Der Wind hatte vom Norden her aufgefrischt und trieb den ersten feinen Schnee mit sich, doch Tevils macht sich freudig auf den Weg. Am nächsten Abend kehrte er zusammen mit Lehen und Damir Rog, Balams Schwiegersohn, auf den Trubur-Hof zurück.

Damir hatte vor einigen Jahren die Schmiede seines Vaters übernommen, nachdem der Alte Rog sich bei einem Sturz unglücklich den Arm gebrochen hatte, mit dem er sonst den Hammer führte. Mit viel Geschick und Ehrgeiz hatte der junge Mann innerhalb kürzester Zeit seinen Wirkungsbereich bis nach Brennburg, dem größten Handelsort des Tals, ausweiten können.

Damir hatte sich kurzerhand entschlossen, die beiden Trubur-Kinder zu begleiten. Nach der Aufregung in seinem Haus konnte er gut und gerne einen Becher Wein vertragen. Schließlich wurde der Weinkeller seines Schwiegervaters bis weit über die Grenzen des Westends hinaus sehr geschätzt.

»So weit sind die Orks bislang noch nie bergab vorgedrungen! Sie müssen auf den Südlichen Höhen einen Unterschlupf gefunden haben, da sie das Gatter mitten in der Nacht eingerissen haben.« Erregt gestikulierte Balam mit dem Weinbecher in der Hand, während Tevils gebannt an seinen Lippen hing. »Das Ganze ist und bleibt mir rätselhaft«, fuhr er fort. »Was wissen denn Orks schon von Pferden? Was können diese kurzbeinigen Gesellen nur mit ihnen wollen, dass sich die Mühe lohnt, so weit vorzudringen und die Tiere dann den ganzen Weg zurück durch den dichten Wald in die Höhen zu führen? Der Hunger wird sie wohl kaum dazu getrieben haben, denn auf den Höhen gab es doch bis zum Almabtrieb jede Menge Ziegen und Schafe und sogar einige Milchkühe bei den Sjensurs. So haben sich die Orks bislang doch immer schadlos gehalten! Wären da nicht so viele eindeutige Spuren gewesen, nie im Leben hätte ich auf einen Orküberfall getippt.« Balam schaute betrübt in seinen leeren Becher.

Brill hatte sich, in Decken gewickelt, mit an den Tisch gesetzt und verzog bei jedem Schluck Wein vor Schmerzen das Gesicht. Trotzdem war er nach dem dritten Becher zugänglicher geworden und hatte Balam sogar zur Geburt seines ersten Enkelkindes gratuliert.

»Orks sind dummes Pack«, ließ er nun verlauten. »Wer weiß schon, was diese Schwachköpfe getrieben hat? Irgendeiner von ihnen hatte Appetit auf Pferd, und schon wälzt die ganze Horde bergab. Hinterlässt eine Spur wie eine Lawine. Man braucht ihnen bloß hinterherzuspazieren und schneidet ihnen die dreckigen Hälse durch, während sie noch hektisch mit ihren schartigen Waffen herumfuchteln. Tevils könnte es mit diesen hirnlosen Kreaturen aufnehmen. Sogar ein von Krankheit geschwächter Mann könnte es, wenn seine angeblichen Freunde ihn nicht einfach schlafen ließen, während sie zur Jagd aufbrechen.«

»Ihr solltet so etwas nicht vor Tevils sagen«, entgegnete Balam gereizt. »Der Junge ist eh schon viel zu angetan von euch Männern mit euren Schwertern und Pferden und eurer unzugänglichen Art. Der Ork ist ein gefährliches Wesen mit Klauen und giftigen Fängen, mit denen er sogar einen Bären töten kann.«

»Woher hast du denn diesen Unsinn?«, fragte Brill und schenkte sich erneut Wein ein, bis der bauchige Becher überlief. Sein Gesicht war so rot wie die Flammen im Ofen, aber Lehen hielt sich zurück, da ihr Patient zum ersten Mal, seit er die Augen im Haus der Truburs geöffnet hatte, an einer Unterhaltung teilnahm.

»Warum Unsinn?«, schaltete Damir sich ein, der das Gespräch bisher schweigend verfolgt hatte.

Lehen war aufgefallen, dass er Brill den ganzen Abend lang beobachtet hatte, so als wolle er sich einen genauen Eindruck von diesem seltsamen Gast verschaffen. Außerdem hatte Damir einen Moment genutzt, in dem Balam und sie beschäftigt gewesen waren, um sich von Tevils das zurückgelassene Schwert unter der Bank zeigen zu lassen.

»Jeder weiß, dass man im Kampf gegen Orks keine Chance hat und von ihnen geraubtes Vieh besser gleich aufgibt«, fuhr Damir in dem für ihn so eigentümlichen selbstsicheren Ton fort. »Die Nacht macht sie nahezu unbesiegbar. Außerdem ist es gefährlich, ihnen über den Grat zu folgen, weil sie dort überall Fallen aufgestellt haben. Wer auf sie tritt, verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Erdreich.«

Brill wischte sich mit einem Deckenzipfel über seine laufende Nase. »Ach was«, sagte er. »Orks sind stinkende Kerle, die mir gerade bis zur Brust reichen. Man muss auf ihre langen und kräftigen Arme aufpassen, denn mit denen können sie verflucht gut ausholen. Und es stimmt schon, sie beißen gern. Darum sollte man ihnen auch die Hälse durchschneiden, bevor sie einem zu nahe kommen. Fallen bauen, in denen Menschen verschwinden, ha! Ich habe einige ihrer Maderhörnchenfallen in der Ebene entdeckt. Ich frage mich, wie dieses Pack bisher überleben konnte. Dumm und böse sind sie, mehr nicht.«

»Ihr seid offensichtlich ein Krieger, der schon viel gesehen hat und sich mit Waffen und Verteidigung auskennt«, entgegnete Damir. »Aber hier, südlich von Trevorims Pforte, leben Bauern und Hirten. Keiner von uns zieht bei Nacht durch die Berge mit nichts als einem Wanderstock bewaffnet, um eine Ziege zu retten. Und woher wollt ihr wissen, dass die Orks der Südlichen Höhen nicht so gefährlich sind, wie es bei uns heißt?«

»Ork ist Ork. Es gibt keinen besonderen Ork aus der Ebene, wie du sagst. Das sind alles Rumtreiber, denen ihr Feiglinge anscheinend keinen Einhalt gebietet.« Brills Stimme war lauter geworden, und er schaute Damir abschätzig an. Ein Blick, auf den Damir mit Verblüffung reagierte. Ein solches Verhalten war er schlicht nicht gewohnt, doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle.

»Und wer sagt uns, dass du so mannhaft bist, wie du vorgibst?«, mischte sich Lehen ein, die Brills Spitze nicht ungesühnt hinnehmen wollte. »Du sitzt hier in Decken gehüllt auf dem besten Platz beim Ofen und willst uns erzählen, wir sollen Bestien bekämpfen, über die grausame Geschichten die Runde machen.«

Nach einem Moment des Schweigens legte Brill den Kopf in den Nacken und stieß ein bellendes Lachen hervor, das nahtlos in einen Hustenanfall überging.

»Vielleicht solltet ihr euren Frauen die Schwerter überlassen, so wie beim NjordenEis-Volk. Oder Frau Lehen redet mal ein ernstes Wörtchen mit den wilden Scharen. Ihr Kerle bleibt ja lieber zu Hause und fürchtet euch, während die Sisken-Orks euch Höfe und Felder abfackeln.«

Brill griff nach der Korbflasche mit dem Wein und schwankte zu seinem Lager, wo er sich unter einem Stapel von Decken vergrub.

»Nun«, sagte Damir. »Wir werden sehen, ob seine mutigen Freunde erfolgreich zurückkehren.«

»Gewiss werden sie zurückkehren«, sagte Lehen bestimmt, wich aber Damirs nachdenklichem Blick aus.

Entgegen all den schrecklichen Geschichten über Orks hatte sie vom ersten Moment an geglaubt, dass Nahim und Vennis wussten, welcher Gefahr sie sich stellten. Die Orks stromerten nur in kleinen Gruppen durch die Berge, und die beiden Männer kannten sich zweifelsohne mit ihren Waffen aus. Trotzdem wünschte sie sich, dass die Jagd bereits vorbei sei und die Männer wieder wohlbehalten am Tisch saßen. Und sie wünschte sich, dass der Westwind mehr Schnee mit sich bringen möge, viel mehr Schnee und Kälte.

Als Lehen am nächsten Morgen die Eingangstür öffnete, um den Hund rauszulassen, entdeckte sie voller Begeisterung, dass sich ihr Wunsch erfüllt hatte: Der im Dämmerlicht liegende Hof war mit einer dünnen Schneeschicht überzogen, und noch immer rieselten vereinzelte Flocken herab.

Balam und Tevils machten sich unter viel Gestöhne auf, um die Tiere zu versorgen, während Brill noch tief schlief, nachdem er die Hälfte der Nacht den Wein wieder von sich gegeben hatte.

Kaum dass Lehen mit einem Korb voller Hühnereier in die Stube zurückkehrte, trat Damir dicht neben sie und sah ihr eine Weile lang schweigend dabei zu, wie sie das Frühstück vorbereitete.

Seit jeher hatte Lehen Damirs stolzes Wesen geliebt, obwohl seine Neigung zur Überheblichkeit nicht von der Hand zu weisen war. Aber er war für sie immer etwas Besonderes gewesen, denn im Vergleich zu den anderen Männern des Westends verriet allein schon sein Auftreten beeindruckende Überlegenheit. Seine Worte und Taten waren verblüffend zielgerichtet, denn Ehrgeiz war im Tal eine eher unbekannte Eigenschaft. In all den Jahren hatte für Lehen kein anderer Mann neben Damir bestehen können. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte sie sein Haar bewundert, das sie an den dunkelgoldenen Honig erinnerte, den ihre Bienen aus den Blüten am Hang zauberten. Wie gebannt hingen ihre Augen an seinen elegant geschnittenen Gesichtszügen und der ungewöhnlich geraden Nase. Jedem, der es hören wollte, hatte sie von seiner Klugheit und Charakterstärke vorgeschwärmt.

Seit dem gestrigen Abend musste sie sich jedoch eingestehen, dass sein Anblick sie seltsam unberührt ließ und seine gewohnte Selbstsicherheit Argwohn in ihr weckte.

»Diese fremden Männer bringen nur Schwierigkeiten«, sagte Damir zu ihr, als sie ihm gerade den Rücken zudrehte und in einer großen Keramikschale Eier verquirlte. »Reiter mit Schwertern und Lanzen passen nicht ins Westend. Männer, die nur zu zweit Jagd auf Orks machen. Wenn ein solches Vorgehen wirklich notwendig sein sollte, dann sollten wir Westendler gehen und keine Fremden, von denen man nicht weiß, welcher Wind sie hergetragen hat. Dass dein Vater sie hier beherbergt, ohne ihnen einige wichtige Fragen gestellt zu haben, halte ich für keine kluge Entscheidung. Wer weiß schon, ob sie nicht mit den Orks unter einer Decke stecken?«

Die letzten Sätze hatte Damir Lehen leise ins Ohr gesprochen, aber bevor sie ihm antworten konnte, schlug Borif an und sprang an der Eingangstür hoch. Lehen riss die schwere Eibentür auf und sah, wie Vennis und Nahim den verschneiten Waldweg heranritten.

Offensichtlich hatten die Orks den Pferden nicht übel mitgespielt, denn von ihrem Raub war ihnen nichts mehr anzumerken. Ohne zu scheuen, ließen sie sich von den Männern abreiben und in den Verschlag führen.

Während Vennis den Kampf unbeschadet überstanden hatte, war Nahim eine tiefe Wunde an der Schulter zugefügt worden. Unter Brills feixenden Bemerkungen streifte er Mantel und Hemd ab, um die Wunde, die an den Rändern bereits gerötet war, von Lehen untersuchen zu lassen.

»Ja, ja, die Orks sind ein dreckiges Pack! Wer kann schon wissen, wo diese Lanzenspitze zuvor gesteckt hat. Du hättest ihr ausweichen sollen, Nahim. Dann bliebe dir nun der Dienst dieser strengen Frau erspart, und das Rasieren würde dir auch keine Probleme bereiten«, rief Brill noch über die Schulter, als er auf Lehens Geheiß hin zu den anderen Männern an den Ofen zurückkehrte.

Lehen gab dem schweigsamen Nahim mehrere Gläser Wein zu trinken und half ihm dabei, die kniehohen Stiefel auszuziehen. Dann nahm sie ihn mit in ihr Zimmer, wo er sich seitlich auf das Bett legte. Er richtete seine Augen auf die gegenüberliegende Wand, als sie begann, die Wunde vorsichtig zu reinigen. Lehen spülte feine Späne und Dreck heraus, hielt eine gekrümmte Nadel ins Feuer und machte sich daran, den klaffenden Schnitt zu schließen.

Bei jedem Stich, den Lehen ausführte, zog sich ihr der Magen zusammen, und sie schaute prüfend in Nahims Gesicht, der stur geradeaus starrte. Allerdings biss sich Nahim während der Prozedur so sehr auf die Unterlippe, dass sie noch eine Woche später mit Schorf bedeckt war. Nachdem Lehen die Wunde vernäht hatte, bestrich sie sie mit einem Tonikum und umwickelte Arm und Schulter mit Baumwollstreifen. Nahim fieberte leicht, so dass Lehen ihm erlaubte, auf ihrem Bett liegen zu bleiben. Als sie eine fein gewebte Decke aus der Holztruhe nahm, die Balam im letzten Winter als Geschenk für seine älteste Tochter geschreinert und mit Schnitzereien verziert hatte, war Nahim bereits eingeschlafen.

»Der zweite kranke Fremde in eurem Haus«, merkte Damir, ungeniert provozierend, mit seiner voll klingenden Stimme an, als Lehen kurz darauf in den Wohnraum trat, um frisches Wasser zu holen. »Die Abreise der Orkjäger scheint in immer weitere Ferne zu rücken.«

Obwohl sich Balam heftig beschwerte, brachte Vennis unter Tevils’ wachsamen Augen eine abgeschlagene Klaue neben der Eibentür an.

»Jeder Ork wird es sich künftig genau überlegen, ob er seine Pfoten nach dem Trubur Hof ausstrecken will«, gab Vennis zu bedenken und rammte die gebrochene Lanze, die Nahim seine Wunde beigebracht hatte, in die gefrorene Erde neben dem Weg, der an Obstbäumen und den Feldern mit Wintergemüse entlang zum Hof führte.

»Sicherlich sollte man diese Biester abschrecken«, sagte Balam und drohte Tevils, der mit einem Stock die baumelnde Klaue anstieß. »Aber nun werden meine Familie und ich Tag ein, Tag aus an die Gefahr erinnert, die von diesen stromernden Horden ausgeht. Unser Hof ist kein Ort für derlei Scheußlichkeit.«

Als Lehen sich später an den langen Tisch in der Stube setzte, verkündete ihr Tevils sogleich voller Stolz, dass nun eine Klaue zur Abschreckung angebracht worden war und er selbst gedenke, ein berühmter Orkjäger zu werden. Balam stöhnte auf und scheuchte seinen Sohn mit dem Auftrag vor die Tür, Holz für den Ofen im Schuppen zu spalten und sich, falls er anschließend nicht den ganzen Abend lang Möhren schrubben wolle, von Klaue und Lanze fernzuhalten habe.

»Ich befürchte, ihr werdet euch wohl an solche Scheußlichkeit gewöhnen müssen.« Vennis war mittlerweile ebenfalls ins Haus gekommen und setzte sich mit an den Tisch. »Wie es mir scheint, haben sich diese Kerle bestens in den Wäldern eingerichtet. Die Spur der Pferdediebe führte uns zu einer kleinen Lichtung auf den Südlichen Höhen, die sie für ihre Zwecke zu einem Lager umgebaut hatten. Auch wenn wir nur sieben dieser Kreaturen dort angetroffen haben – die offensichtlich nicht mit unserem Besuch rechneten –, so hätte der Unterschlupf leicht die dreifache Anzahl von ihnen beherbergen können.«

»Wir haben hier auf den Südlichen Höhen schon seit jeher mit räuberischen Orkbanden zu tun«, mischte Damir sich ein. »Sie stehlen gelegentlich ein paar Ziegen, und als sie nun die Pferde sahen, freuten sie sich vielleicht über ein wenig Abwechslung.«

Lehen warf dem Schmied einen misstrauischen Blick zu, bevor sie einwarf: »Du hast Recht, Damir. Orküberfälle sind für uns hier nichts Neues. Aber in den letzten Jahren haben ihre Übergriffe zugenommen, und es ist längst nicht bei kleinen Diebstählen geblieben, wie du gestern selbst betont hast. Man hört immer häufiger, dass sie brandschatzen und Almbauern auf ihren Höfen angreifen. Denk an den Hirten Mehl Tunur, der mit seiner Herde seit diesem Sommer verschollen ist. Außerdem haben sich die Orks nie weit vom Grat fortbewegt. Örks hier am Hang, das hat es bislang nicht gegeben.«

»Und was sollen wir deiner Meinung nach dagegen unternehmen?«, fragte Damir gereizt, wobei er sich unangenehm tief über Lehens Schulter beugte. »Vielleicht ein paar Krieger anwerben, damit sie sich dieses Problems mit ihren Schwertern annehmen? Und womit werden wir sie dann entlohnen? Vielleicht mit einigen Weinflaschen oder gar mit einer von unseren Töchtern?«

Erschrocken über die Schärfe, die Damir seinen Worten verlieh, blieb Lehen ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen lehnte sich Brill in seine Richtung über den Tisch und sagte: »Du bist wohl einer von denen, die so lange abwarten, bis der Ork nachts an die eigene Tür klopft. Aber bis unten ins Westend ist es ja schließlich noch ein ganzes Stück Weg, nicht wahr?«

»So habe ich das nicht gemeint«, entgegnete Damir mit fester Stimme. »Schließlich leiden wir alle auf dieser Seite des Tals unter den Orkübergriffen, denn wenn die Almen leer stehen und die Hirten die Höhen meiden, dann wirkt sich das auch auf die Menschen im Westend aus. Bisher waren die Schäden jedoch nie von solchem Ausmaß, dass wir Dorfbewohner bewaffnet in die Berge ziehen mussten. Nun, da ihr damit begonnen habt, werden wir wohl gleichziehen müssen. Schließlich gelten Orks als sehr rachsüchtig, und es wird ihnen kaum gefallen, wenn sie ein zerstörtes Lager voller getöteter Gefährten entdecken.«

»Ich bezweifle, dass in diesem Jahr noch mit weiteren Orküberfällen zu rechnen sein wird«, sagte Vennis. »Die Horde, die wir gestellt haben, befand sich bereits auf dem Rückzug. Auf den Höhen liegt inzwischen tiefer Schnee, und die Orks werden sich in die warme Ebene zurückziehen, denn in gefrorener Erde lässt es sich schlecht graben. Ihr werdet den Winter über Zeit haben, um euch zu überlegen, wie ihr ihnen entgegentreten wollt.«

»Nun«, warf Balam beschwichtigend ein, »wir wissen nicht, warum die Orks in den Hang eindringen. Schließlich hat es ihnen immer gut in der Ebene gefallen. Vielleicht werden wir schon im nächsten Jahr keinen einzigen dieser garstigen Kerle mehr zu sehen bekommen.«

»Was mich nicht zur Ruhe kommen lässt, ist das tote Geäst, das sie inmitten des Lagerplatzes in den steinigen Boden getrieben hatten. Darunter lagen gräuliche Rabenfedern. Dabei habe ich hier im Tal nur Kohlraben gesehen. Und dann die Heuballen in einem der Verschläge ...«, überlegte Vennis laut, während er seine Pfeife erneut stopfte. »Man könnte meinen, dass der Pferderaub geplant gewesen sei. Aber ich habe noch nie von einem Ork mit einem Plan gehört.«

Die halbe Nacht lang lag Lehen wach neben dem unruhig schlafenden Tevils, dem es zusammen mit seiner Schwester eindeutig zu eng auf der schmalen Pritsche war. Nach einer Weile stand der Junge auf und machte sich murmelnd, mit einer Decke unterm Arm, zu den Ställen auf.

Trotzdem fand Lehen keine Ruhe und ging ein ums andere Mal durch, was sie über Orks wusste. Sie kannte vielerlei Geschichten über grausige Taten und geheime Mächte, die die Orks unbesiegbar machten. Dem hielt sie eine Aufzählung von Orküberfällen aus der Nachbarschaft entgegen, deren Kunde zum Trubur Hof durchgedrungen waren: Diebstähle und gemeine Schandtaten, Brandstiftung und verängstigte Bauern, die nach einer Nacht voller Lärm und Gekreische schrecklich zugerichtete Tierkadaver vor ihrer Tür gefunden hatten.

Wie passte das alles zusammen?, fragte sich Lehen.

Am nächsten Morgen verließ Brill starrköpfig das Haus, um das erste Mal seit seiner Krankheit wieder auszureiten. Trotz Balams deutlichem Widerwillen führte auch Vennis sein Pferd auf den Hof und setzte einen überglücklichen Tevils mit seinem geschienten Arm hinter sich. Missmutig schaute der Bauer den Reitern hinterher, als sie den Flusslauf entlangtrabten.

Damir war noch am Abend nach der Auseinandersetzung aufgebrochen, sein unterdrückter Zorn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Kurz bevor er das Haus verlassen hatte, hatte er erneut versucht, Lehen zur Seite zu drängen, als sie ihm ein Geschenk für Allehe und das Neugeborene mit auf den Weg geben wollte. Doch sie hatte sich schnell zurückgezogen, eine Ablehnung, die den Schmied zusätzlich verärgerte.

Als Nahim sich, noch benommen von der Nacht, zu Lehen an den Tisch setzte, schreckte sie hoch, so sehr war sie in Gedanken vertieft gewesen. Plötzlich geschäftig werdend, legte sie Nahim eine Decke über die gesunde Schulter und wickelte sie ihm um den nackten Oberkörper, weil sein verletzter Arm in einem zur Schlaufe gefalteten Tuch steckte.

Vorsichtig versuchte Nahim, den heilen Arm zu befreien, ohne dass die Decke hinabrutschte, und rieb sich die geröteten Augen. Borif hatte sich vor seine Füße gelegt und döste geräuschvoll.

Da der schweigsame junge Mann Lehen nervös machte, holte sie ihm einen Becher mit verdünntem Met und eine Schale Haferflocken, für die er lediglich ein Nasenrümpfen übrig hatte. Während sie sich daranmachte, runzlige Äpfel zu schälen und in Stücke zu schneiden, berichtete sie Nahim von der gestrigen Auseinandersetzung.

»Vielleicht hat euer Freund Damir Recht, wenn er sagt, dass die Orkplage von den Talbewohnern gelöst werden sollte. Habt ihr denn eine Art Gemeinschaftsrat hier im Westend?«, gab Nahim zu bedenken, als Lehen mit ihrer Erzählung abgeschlossen hatte. Er war zum Herd gegangen, um sich aus dem emaillierten Topf einen weiteren Becher des warmen Mets zu holen.

Der Herd, dessen grüne Kacheln Tiere und Bäume zeigten, nahm in der Küche viel Platz in Anspruch: Er war in den Boden gemauert, und eine schmiedeeiserne Pforte schloss seinen Bauch. Einmal in der Woche schob Lehen dort die Brotlaibe hinein, und im Herbst trocknete sie auf einem Rost Obst, Nüsse und Pilze, so dass es im ganzen Haus wunderbar duftete. Die klobigen gusseisernen Töpfe standen auf der Herdplatte halb in der Glut, die von einem eigenen Feuer beheizt wurde. Das Abzugsrohr war von einem ebenfalls mit Kacheln bekleideten Sims umgeben, auf dem Tevils sich an Regentagen immer noch gern auf dem Schaffell zusammenrollte und döste, nachdem er die Katzen von ihrem Lieblingsplatz verscheucht hatte.

Anerkennend fuhr Nahim mit dem Zeigefinger den kunstvoll geschmiedeten Messingbeschlag entlang, mit dem Balam mühsam das Herdfeld ummantelt hatte. Unvermittelt durchfuhr ihn ein Gefühl von Geborgenheit. Dann setzte er sich wieder zu Lehen.

Einen Moment lang betrachtete Lehen sein Profil: Ein wenig seitlich wurde sein Haaransatz von einer hellen Narbe geteilt, die Nase musste mindestens zweimal gebrochen gewesen sein, und auch die Oberlippe wurde durch einen längst verheilten Schnitt verzogen. Nahims Lippen waren schmaler als die von Damir, aber schön geschwungen.

Ohne darüber nachzudenken, sagte Lehen: »An Damirs Worten scheint mir etwas merkwürdig zu sein. Er ist einfach kein Drückeberger, und mir ist auch nicht klar geworden, worauf er eigentlich abzielte. Vennis und du, ihr habt das Orklager ohne Schwierigkeiten entdeckt und sieben dieser Kreaturen erschlagen.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Nahim und zupfte hilflos an der Decke, die ihm über die Schulter zu rutschen drohte.

Lehen zerschnitt noch zwei weitere Äpfel, bevor sie ihm antwortete: »Damir war sehr wütend, und ich kann mir nicht erklären, warum. Es war euer gutes Recht, die Pferde zurückzuholen. Außerdem sollten wir hier im Westend froh sein, endlich zu wissen, dass wir den Orks nicht vollkommen hilflos ausgeliefert sind.«

»Kennst du Damir gut? Brill sagte, euer Umgang miteinander sei sehr vertraut.« Schon während er die Frage stellte, bereute Nahim seine Neugierde. Dass sich auch ein eifersüchtiger Ton eingeschlichen hatte, mochte er sich nicht eingestehen.

Lehens Gesicht verschloss sich augenblicklich, und sie begann hastig, die verstreut umherliegenden Apfelschalen und Kerngehäuse zusammenzuwischen.

Rasch setzte Nahim zur Entschuldigung an. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt gefragt habe.«

Doch bevor er weitersprechen konnte, sagte Lehen: »Früher hat Damir unsere Familie sehr oft besucht. Er war als Junge eng mit meinem Cousin Lasse befreundet, dessen großer Hof oberhalb dem unseren liegt. Ich habe für Damir geschwärmt, genau wie viele andere Mädchen im Westend. Er strahlt etwas Überlegenes aus, und außerdem ist er ausgesprochen gut aussehend. Aber im letzten Sommer hat sich Damir dann sehr überraschend für meine jüngere Schwester Allehe entschieden. Wer kann ihm das schon verdenken? Hätte er noch ein weiteres Jahr gewartet, dann hätte er sich wohl einer gewaltigen Konkurrenz stellen müssen.«

Nahim, der nur ahnen konnte, wie viele verletzte Gefühle bei dieser Erzählung mitschwangen, nickte lediglich stumm. Für einen Augenblick sah er eine Lehen vor sich, die jahrelang dem guten Freund der Familie Wein und Essen hingestellt hatte, während sie gebannt an seinen Lippen hing. Stets genährt von der Hoffnung, dass dieser eine Besuch nicht nur um der Freundschaft willen stattfand. Und dieser Mann hatte letztlich ihre noch kindliche Schwester zu sich ins Haus genommen.

Nahim bedauerte nun, dass er bei seiner gestrigen Ankunft keinen Blick für den Schwiegersohn des Hangbauern übrig gehabt hatte. Nur zu gern hätte er gewusst, welche Art Mann die kühl und überlegen wirkende Lehen so zu berühren vermocht hatte.

Maliande - Der Ruf des Drachen

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