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Kapitel 5

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Am nächsten Tag wandelte sich das Wetter. Der milde Wind von der Küste verscheuchte die Wolkendecke und brachte trockene und warme Luft mit sich, so dass am Nachmittag nur noch Spuren von der feinen Schneeschicht übrig blieben. Balam stand auf dem kleinen Steg beim Fluss, um Wasser zu schöpfen, als Brill zu ihm trat und nach Südosten zeigte.

»Wenn wir morgen aufbrechen würden, würden wir Trevorims Pforte noch geöffnet vorfinden, oder wird das Eis sie schon verschlossen haben, was denkst du?«

Balam stellte den vollen Eimer ab, steckte sich die klammen Hände unter die Achseln und blickte ebenfalls eine Zeit lang nach Südosten, wo sich das hohe und schroffe Gebirge erhob. Das Tal war vom Hof aus nicht zu sehen, dafür jedoch die fernen, ewig schneebedeckten Spitzen, zwischen denen die Pforte eingelassen war.

Zwar hatte Balam schon oft den Brennburger Markt besucht, um dort seinen feinen Wein und andere Hangspezialitäten anzubieten, die mit dem Zeichen einer Eibe verziert waren. Doch er hatte sich nie für den breiten Pfad interessiert, der ins kahle und steile Massiv führte.

Nur selten verirrten sich Fremde über diesen Weg ins Tal, die sich für die dort lebenden Menschen und deren Waren interessierten. Und kaum jemand versuchte, vom Norden her durch das Tal in die südliche Ebene vorzudringen. Es bedurfte vieler beschwerlicher Tagesreisen, bevor man dort auf menschliche Zivilisation stieß. Wer in die schönen Länder des Südens wollte, nahm den Wasserweg, anstatt sich durchs Gebirge und die orkverseuchte Ebene zu quälen.

»Ich kann dir nicht sagen, wie es um Trevorims Pforte bestellt ist. Ich weiß nur, dass sie sich zu Winterbeginn schließt und somit auch das Tal versiegelt, um es im Frühjahr mit jedem einzelnen Sonnentag wieder ein Stück mehr freizugeben. Die Südlichen Höhen werden, wenn du mich fragst, die nächsten Tage gewiss schneefrei bleiben. Wir haben hier selten Wind von der Küste, aber wenn, dann hält er immer eine Zeit lang an. Wollt ihr euer Glück wirklich noch in diesem Jahr versuchen?«

»Warum nicht?«, gab Brill mit einem Schulterzucken zurück. »Ich finde, wir sollten unsere Chance nutzen, wenn wir hier nicht den ganzen Winter lang eingemachtes Obst vor dem Ofen essen und im Kreis dieselben Abenteuermärchen erzählen wollen.«

Lehen fand Nahim im Stall bei den Pferden. »Ich halte nichts von diesem übereilten Aufbruch!«, rief sie ihm schon beim Eintreten zu. »Ich habe mich um Brill und dich gekümmert, und ich sehe nicht ein, dass meine ganze Arbeit ruiniert wird, nur weil ihr nicht noch ein paar Tage länger warten könnt! Wenn euch in den Bergen der Schnee überrascht, kann sich dein Freund gleich zum Sterben hinlegen.«

»Es war doch nicht anders zu erwarten«, gab Nahim zurück, ohne die Arbeit zu unterbrechen. »Brill hält sich im Sattel, also brechen wir auf.«

»Und deine Wunde? Sie wird durch das Reiten und die Kälte bestimmt wieder aufbrechen. Was ist denn so dringend, dass es nicht bis zum Frühjahr warten kann? Was soll aus dem Wildschweinschinken werden, der mir den Weg im Kellereingang versperrt?«

»Du wirst Brill fragen müssen, was so dringend ist. Ich kann es dir leider nicht sagen.« Obwohl Nahim bedrückt klang, lächelte er Lehen an, die kurz vor ihm stehen geblieben war.

»Ich möchte nicht, dass du schon gehst«, entgegnete Lehen leise und zuckte verlegen zusammen, als Nahim sich den Zeigefinger auf die Lippen legte und mit dem Kopf in Richtung Dachboden deutete. Dort oben, auf einer der Holzbalken, saß Tevils mit herabbaumelnden Beinen. Sein verquollenes Gesicht war immer noch mit Tränenspuren benetzt.

»Hast Recht«, stimmte der Junge ihr zu. »Die Männer könnten ruhig noch ein Weilchen bleiben. Während des Winters ist es hier immer besonders langweilig.«

Die Stube duftete an diesem Abend nach Fijenholz. Balam hatte ein paar Späne dieses seltenen Holzes, das seine Kinder vor ein paar Tagen mühsam zusammengeklaubt hatten, in den Ofen geschmissen. Ein prickelnder, leicht harziger Duft stieg all denen in die Nasen, die sich zum Abschied noch einmal gemeinsam am langen Holztisch eingefunden hatten.

Balam hatte Weinkrüge aus dem Keller geholt und sogar einige Geschichten aus seiner Jugend zum Besten gegeben, aber erst der für seine belebende Wirkung bekannte Duft des Fijenholzes vermochte die Stimmung zu heben. Schließlich trug Vennis mit tiefer Stimme ein Trinklied aus dem Norden vor, das von den Erfahrungen eines jungen Mannes mit den wundersamen Getränken einer Wasserfrau erzählte.

»Und auch wenn Masurin in jede Schenke des Nordens trat, nie wieder fand er auf und hinter der Theke dasselbe Vergnügen, das ihm im sprudelnden Strom von Lomis begegnet war«, beendete Vennis das Lied und sah in vor Verlegenheit gerötete, aber lachende Gesichter. Er deutete eine leichte Verbeugung an und freute sich sichtlich über den Applaus. Beeindruckt blickte Tevils ihn an und fragte, ob es denn tatsächlich Wasserfrauen geben würde.

Brill lachte laut auf. »Das versuche ich auch schon seit Jahren herauszufinden. So wie der gute Masurin: von einer Schenke zur nächsten wandernd, den Blick immer fest auf den Busen der Wirtin gerichtet.«

»Was passiert eigentlich, wenn ihr in den Norden zurückgekehrt seid?«, fragte Tevils, dessen Mund deutliche Spuren vom gebackenen Kürbis aufwies. »Werdet ihr gleich in anderen Angelegenheiten weiterreiten?«

»Das wird sich zeigen«, antwortete Vennis. »Aber unser Freund Brill wird wohl weder Schenken sehen noch weiterhin viel durch die Lande reiten. Seine Frau Saris war nicht sonderlich begeistert, als Brill noch einmal einen Auftrag angenommen hatte. Und so weit, wie das Jahr fortgeschritten ist, dürfte ihn zu Hause bereits sehnsüchtig der jüngste Spross seiner Sippschaft erwarten, um endlich seine Bekanntschaft zu machen.«

Brill winkte betont lässig ab. »Saris hatte schon immer ihren eigenen Kopf, aber sie wird sich mittlerweile beruhigt haben. Sie wusste schließlich genau, auf wen sie sich einließ, als sie mir damals auf dem Neujahrsfest nicht einen einzigen Tanz ausschlug. Wenn wir durch Torburg kommen, werde ich ein schönes Schmuckstück besorgen. Eins aus grünem Amarant. Das wird sie schon wieder besänftigen.« Allerdings schienen Brill seine eigenen Worte wenig zu überzeugen, denn er betrachtete seine Gefährten, die einander verschwörerisch zulächelten, mit einem finsteren Blick. Dann machte er sich ausgiebig an seiner Pfeife zu schaffen, die Lehen ihm an diesem Nachmittag zurückgegeben hatte.

Auch Vennis’ Gesicht wurde wieder ernst. »Balam«, sagte er unvermittelt. »Willst du dir vielleicht überlegen, ob dein Sohn nicht eine Zeit lang mit uns reiten sollte? Tevils ist ein aufgeweckter Junge, der die Chance, die Welt außerhalb des Tals zu sehen, sicherlich gerne nutzen würde. Ich würde bestimmt gut für ihn sorgen.«

Obwohl Balam selbst schon der Gedanke gekommen war, zögerte er nun. Ihm waren die Neugierde und Begeisterung, mit der Tevils jeden einzelnen Schritt der Fremden verfolgte, nicht entgangen. Wenn Balam seinen letzten Rundgang über den nächtlichen Hof gemacht hatte, dachte er seit einiger Zeit stets darüber nach, wie sehr das jüngste Kind der Familie nach Bienem schlug. Wie sie liebte er Herausforderungen und Abwechslung.

Der Bauer dachte an seine Frau, die sich, ohne einen Gedanken zu verschwenden, mitten in der Nacht aufmachte, um nur mit einem Öllämpchen ausgestattet den Steinhaag herunterzuklettern. Immer wieder war Bienem für Wochen und Monate zu Verwandten und Freunden ins Tal gezogen, weil ihr die Einöde des Trubur Hofs zuwider war. Taub für die Wünsche ihres Mannes und sorglos gegenüber den mannigfaltigen Aufgaben des Hofs und der Familie.

Als Allehe dann im letzten Jahr zu Damir ins Haus ziehen wollte, war es schließlich über Tage hinweg zu Auseinandersetzungen zwischen Balam und Bienem gekommen. Balam hatte seiner Frau vorgeworfen, die Liebesbeziehung zwischen dem Schmied und Allehe hinter seinem Rücken gefördert zu haben, so dass ein anderer Entscheid irgendwann nicht mehr möglich gewesen war.

Bienem hatte jedoch darauf hingewiesen, zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus gemacht zu haben, den begehrtesten Junggesellen des Westends zum Schwiegersohn haben zu wollen. Dass Bienem bei all ihrer Begeisterung für die rasch erblühte Liaison nicht mitbekam, wie sehr ihre ältere Tochter unter der Situation litt, machte Balam zusätzlich zu schaffen.

So kam es schließlich, dass Allehe von ihrer Mutter ins Westend begleitet worden war. Abgesehen von einigen spontanen Besuchen am Vormittag, wenn Balam auf den Feldern arbeitete, hatte sich Bienem nicht wieder auf dem Hof blicken lassen.

Balam war sich seit dem Eintreffen der drei Männer schmerzhaft bewusst geworden, dass Tevils von einem Leben außerhalb des Hofs träumte, vielleicht sogar von einem Leben außerhalb des Tals. Wahrscheinlich, so dachte Balam, bot sich ihm nun die Möglichkeit, seinem Sohn zu dessen Glück zu verhelfen, bevor dieser sich eines Nachts ohne Abschied vom Hof schleichen würde. Da das Thema angesprochen war und man ihm eine Entscheidung abforderte, fielen Balam jedoch nur all die Gründe ein, die einem Fortgehen entgegenstanden.

»Wie könnt ihr gut für meinen Sohn sorgen, während ihr mit ihm durch orkverseuchte Gegenden zieht? Was können ihn die großen Städte des Nordens mit all ihren Schenken schon lehren? Reiten, Schlagen und Kämpfen, das braucht mein Kind nicht zu können. Und wer weiß, vielleicht bringt euch der nächste Auftrag an die Küsten des Südens – oder sogar darüber hinaus? Ich kenne euren Herrn nicht, und ich kann mir auch keinen Auftrag vorstellen, der es rechtfertigen könnte, zu Trevorims Pforte zu reiten, obwohl der erste Schnee des Jahres bereits gefallen ist.«

Erschöpft von seiner heftigen Rede sank Balam gegen die Rückenlehne, allerdings nicht, ohne Tevils zuvor mit einer harschen Geste zum Schweigen gebracht zu haben.

»Ich verstehe, dass es eine schwere Entscheidung für dich ist«, sagte Nahim plötzlich, nachdem er während des Abends schweigsam und zurückhaltend wie immer neben Vennis gesessen hatte. »Ich war bereits ein paar Jahre älter als Tevils, als Vennis das Gut meiner Familie aufsuchte. Wahrscheinlich war mein Vater letztendlich sogar froh, als ich mich nach vielen Diskussionen durchgesetzt hatte, um Vennis auf seinen Reisen begleiten zu dürfen.«

»Aber Tevils ist kein aufsässiger Junge, den ich aus den Augen haben will«, unterbrach ihn Balam. »Ich liebe meinen Sohn und will ihn nicht in Gefahr wissen.«

Nahim ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: »Das wird dir die Entscheidung sicherlich schwerer machen. Ich bin einer neben vier anderen Söhnen und zwei Töchtern. Mein Vater war damals genug damit beschäftigt, meinen ältesten Bruder in die Geschäfte des Guts einzuweihen. Er war erleichtert, die Verantwortung für sein jüngstes Kind an Vennis weiterreichen zu können, den er gut kennt und sehr schätzt.«

»Nun, dein Vater mag Vennis gut kennen, so dass es ihm leichtfiel, seinen störrischen Sohn, der ihm über den Kopf zu wachsen drohte, ins Ungewisse zu schicken. Aber ich weiß nichts weiter über Vennis, Brill und dich, als dass ihr euch auf einen Namen berufen könnt, den Frau Witt zu schätzen weiß. Und dass ihr einen Auftrag habt, zu dem ihr euch nicht äußern könnt. Der euch aber Gefahren aussetzt.«

Balam spürte, dass seine freimütigen Worte Nahim verletzt hatten, aber in diesem Moment war es ihm gleichgültig. Er sah nur das schmale Gesicht seines Jungen und dachte an die grausige Klaue, die neben seiner Eingangstür angeschlagen war. »Warum sollte ich das zulassen?«

»Das weißt du doch, Balam«, sagte Lehen.

Auch sie hatte Vennis’ Vorschlag nicht überrascht, aber sie war bislang zu sehr mit ihren eigenen Empfindungen und Gedanken beschäftigt gewesen, um sich mit den Hoffnungen ihres Bruders auseinanderzusetzen. Obwohl sie die Bedenken ihres Vaters teilte, so verstand sie doch Tevils’ Wunsch, eine Welt zu sehen, die nicht von Berggipfeln umkreist war. Sogar seine Sehnsucht nach Abenteuern war ihr nicht fremd.

»Du kannst nicht von Tevils erwarten, dass er das Leben auf dem Hang so sehr liebt wie du.«

Wütend schlug Balam mit beiden Fäusten auf den Tisch und weigerte sich, in die Runde zu schauen. »Du willst deinen Bruder mit diesen Männern zur Pforte schicken? Ist das dein kluger Ratschlag für mich, Lehen?«

»Balam, wir würden Tevils nicht um diese Jahreszeit mitnehmen«, antwortete Nahim. »Außerdem haben wir nur drei Pferde, und Tevils’ Arm ist noch nicht vollends geheilt. Ich könnte versuchen, schon im nächsten Sommer zurückzukehren, um zu hören, wie deine Entscheidung ausfällt. Mir gefällt das Tal, und ich würde es gerne erleben, wenn alles grün ist.«

»Ja«, sagte Balam nach einigen Minuten angespannten Schweigens. »So könnten wir es machen. Ich muss auch mit Bienem über diese Angelegenheit reden. Aber Nahim, du darfst dich nicht beschweren, diese Reise umsonst unternommen zu haben, wenn ich dir Tevils dann doch nicht mitgeben werde.«

Nahim zuckte nur leicht mit der Schulter und setzte ein undurchdringliches Gesicht auf. »Ich komme gern zu euch zurück.«

Am nächsten Morgen, als noch einige der klar leuchtenden Sterne am Himmel zu sehen waren, brachen die drei Reiter über den Weg entlang des Flusses auf. In ihrem Gepäck befanden sich einige Flaschen und Beutel, auf denen eine Eibe abgebildet war. Lehen war am Ofen sitzen geblieben und tröstete den winselnden Borif, der den Blick stur auf die Eingangstür gerichtet hielt.

Maliande - Der Ruf des Drachen

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