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Ort und Zeit des Dramas

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Han­no­ver, die Haupt­stadt der gleich­na­mi­gen Pro­vinz und der Mit­tel­punkt der nie­der­säch­si­schen Lan­de, liegt an den letz­ten Aus­läu­fern des deut­schen Mit­tel­ge­bir­ges, von wel­chem aus sich die nord­deut­sche Ebe­ne mit ih­ren san­di­gen Kie­fern- und Hei­de­be­zir­ken bis fern zur Nord­see­küs­te hin­ab­zieht. Das Flüss­chen Lei­ne, vom Eichs­fel­de kom­mend und die zwi­schen Harz und We­ser­ber­gen ein­ge­senk­te hü­ge­li­ge Mul­de Göt­tin­gens durch­flie­ßend, er­reicht un­ter­halb Elze, zwi­schen dem Hil­des­hei­mer Wald und dem Os­ter­wald her­vor­bre­chend, die kah­le nord­deut­sche Ebe­ne; von Han­no­ver ab macht der Fluss einen Bo­gen nach Wes­ten und mün­det hin­ter Hu­de­müh­len im Gro­ßen Moor. Das »Hohe Ufer«, dort wo der Fluss die Deis­ter­bä­che Ihme und Föße auf­nahm und in schnel­lem Lau­fe die Alt­stadt durch­eilt, hat wohl dem um 1050 zu­erst er­wähn­ten Ort den Na­men ge­ge­ben: »Ho­no­ver­e«. – Eine Stadt im Grü­nen! Denn ein Wald­gür­tel, die Ei­len­rie­de ge­nannt, 2500 Mor­gen weit, um­zieht die Stadt in wei­tem Halb­kreis und lässt nur nach Sü­den die Ebe­ne of­fen, in wel­che sich die so­ge­nann­te Masch (oder Marsch) hin­ein­schiebt, ein was­ser­rei­ches, sump­fi­ges Flach­land, an des­sen Rand wie­der­um Wald­hü­gel, ge­nannt Deis­ter (von Dix­ter-Dicht­wald), die Stadt um­gren­zen. We­ni­ge eu­ro­päi­sche Städ­te ha­ben zwi­schen 1850 und 1900 so völ­lig ihr Ant­litz ver­än­dert. Bis 1866 war Han­no­ver die welt­fern-vor­neh­me Re­si­denz der al­ten eng­li­schen Wel­fen­kö­ni­ge. In dem grü­num­busch­ten Idyll der durch sechs­hun­dert Jah­re träu­men­den Nie­der­sach­sen­stadt schlu­gen die ers­ten Ler­chen der deut­schen Ly­rik: Höl­ty und Bür­ger, so­dann die Früh­nach­ti­gal­len der Ro­man­tik: die Brü­der Schle­gel; hier grü­bel­ten Lich­ten­berg und Lei­se­witz, Det­mold und Fe­der, und vor al­lem der wis­sens­reichs­te deut­sche Den­ker: Leib­niz. Mo­ritz und If­f­land sind hier ge­bo­ren, so­wie Hart­le­ben und Frank We­de­kind. Als Han­no­ver 1866 durch Bis­marck für Preu­ßen an­nek­tiert wur­de, hat­te die Stadt kaum 70.000 Ein­woh­ner. Aber in der Zeit nach dem sieg­rei­chen Krieg mit Frank­reich, zwi­schen 1870 und 1873, in der so­ge­nann­ten Grün­der­zeit, hielt die In­dus­trie macht­voll Ein­zug, so­dass die klei­nen lieb­li­chen Dör­fer der Um­ge­bung, Hain­holz, Döh­ren, Lim­mer, List bald zu ru­ßi­gen Fa­brik­vor­or­ten sich wan­del­ten. Eine Tech­ni­sche Hoch­schu­le wur­de ge­baut; die Deis­ter­koh­le ge­schürft, und vollends än­der­te sich das Stadt­bild, als der schiff­ba­re Rhein-We­ser-Lei­ne-Kanal an­ge­legt und in den großen »Mit­tel­land­ka­nal« über­führt wur­de, gleich­zei­tig aber die rie­si­gen Ka­lischät­ze des Bo­dens rund um Han­no­ver ab­ge­baut zu wer­den be­gan­nen. Eine ein­zi­ge Fa­brik­an­la­ge, die so­gen. »Con­ti­nen­tal«, wel­che sich mit dem Her­stel­len künst­li­chen Kaut­schuks be­schäf­tig­te, mach­te bin­nen we­ni­ger Jah­re aus dem klei­nen Vo­r­ort Vah­ren­wald ein fünf­zehn­tau­send­köp­fi­ges Pro­le­ta­ri­er­vier­tel. Braue­rei­en, Spin­ne­rei­en, Woll­wä­sche­rei­en, die Ma­schi­nen­fa­bri­ken von Gebr. Kör­ting und Ge­org Ege­storff und die so­gen. Han­o­mag, eine Wa­gen- und Wag­gon­fa­brik wan­del­ten das jen­seits der Ihme ge­le­ge­ne Dorf Lin­den in eine Fa­brik­vor­stadt von über hun­dert­tau­send Be­am­ten- und Pro­le­ta­ri­er­fa­mi­li­en. Im­mer­hin war die­se Ent­wick­lung zu Geld­herr­schaft und Wer­ker­tum, dar­un­ter die alte Adels- und Bau­ern­kul­tur Nie­der­sach­sens er­stick­te, kei­nes­wegs un­ge­wöhn­lich. Sie war das all­ge­mei­ne We­sens­ge­prä­ge des wil­hel­mi­ni­schen Deutsch­lands. Wah­res Höl­len­cha­os aber setz­te ein, als dies preu­ßi­sche Machtreich zer­brach und eine an Tö­ten und »Re­qui­rie­ren« ge­wöhn­te, im fünf­jäh­ri­gen Welt­krieg ver­wil­der­te Ju­gend, alle Zucht und Form ab­schüt­telnd, in die völ­lig arm­ge­wor­de­ne, aus­ge­zo­ge­ne Hei­mat zu­rück­kehr­te. 14 Mil­lio­nen Tote! Im Os­ten Hun­ger­s­nö­te, wel­che gan­ze Län­der­stri­che da­hin­raff­ten und schließ­lich da­hin führ­ten, dass El­tern ihre Kin­der, Kin­der ihre El­tern fra­ßen. Ent­ar­tung, Ver­ar­mung, Ver­wir­rung oh­ne­glei­chen. Das deut­sche Geld auf dem Welt­markt so ent­wer­tet, dass nur durch das im­mer neue Dru­cken und Hin­aus­schleu­dern im­mer neu­er wert­lo­ser Pa­pier­fet­zen ein trost­lo­ses Schein­le­ben von Tag zu Tag ge­fris­tet wur­de. In die­ser so­ge­nann­ten »In­fla­ti­ons­zeit«, an­he­bend mit dem Zu­sam­men­bruch der deut­schen Hee­re im Welt­krieg und den Stür­men der deut­schen Re­vo­lu­ti­on, be­gann die Be­deu­tung der Stadt Han­no­ver als ei­nes in­ter­na­tio­na­len Durch­gangs- und Schie­ber­mark­tes plötz­lich zu wach­sen. Die Stadt be­her­berg­te um 1918 etwa 450.000 Men­schen. Knapp vier Ei­sen­bahn­stun­den von Ber­lin, Deutsch­lands großem Was­ser­kopf ent­fernt, knapp acht Stun­den ent­fernt von Köln (wo da­mals Eng­län­der-, Fran­zo­sen- und Bel­gier­herr­schaft be­gann), war Han­no­ver der güns­tigs­te Mit­tel­punkt für das Tausch-, Schie­ber- und Trans­ak­ti­ons-Ge­schäft, wel­ches Tau­sen­de er­nähr­te. Alle Welt leb­te von Spe­ku­la­ti­on. Da Geld nichts mehr galt, und nur Sach­wer­te das Le­ben fris­ten konn­ten, so wur­de auf­ge­kauft, ge­tauscht und ge­stoh­len wie nie zu­vor. Und zwi­schen Ber­lin, in wel­ches der sla­wi­sche, wen­di­sche, pol­ni­sche, jü­di­sche Os­ten ein­ström­te, Ams­ter­dam, wo viel Reich­tum ab­floss nach Hol­land und Eng­land und end­lich Köln, wel­ches nach Bel­gi­en und Frank­reich die Brücke schlug, lag Han­no­ver aufs güns­tigs­te in der Mit­te, so­dass sich hier auf­zu­tun ver­moch­ten hun­dert neue Grün­dun­gen, hun­dert neue Ver­gnü­gungs- und Las­ter­stät­ten, die ein schlim­mes Händ­ler-, Schie­ber-, Pa­ra­si­ten- und Schma­rot­zer­volk ins Land brach­ten, lang­sam zer­fres­send die alte bür­ger­li­che Tüch­tig­keit und eh­ren­fes­ten So­li­di­tät der (wie ein großer Dich­ter sie nann­te) »fahls­ten un­se­rer Städ­te«.

An drei Stel­len der Stadt er­hob sich ein Gau­ner-, Heh­ler- und Pro­sti­tu­ti­ons­markt oh­ne­glei­chen, des­sen die Be­hör­den nicht mehr Herr wur­den. Zu­nächst im Bahn­hof und auf den ihn um­ge­ben­den Plät­zen. Hier wur­de in der schwe­ren Brot­mar­ken­zeit, wo man Brot, Fleisch und Milch nur in kleins­ten Ra­tio­nen ge­gen teu­res Geld und nach stun­den­lan­gem »Schlan­gen­stehn« er­hal­ten konn­te, un­ter der Hand ein schwung­haf­ter Han­del mit ge­stoh­le­nem und heim­lich ge­schlach­te­tem Nutz­vieh, auch mit Ka­nin­chen, Zie­gen, Hun­den und Kat­zen, mit Kar­tof­feln, Mehl und mit al­ler­hand ge­pasch­ter und ver­scho­be­ner Ware ge­trie­ben; vor al­lem aber mit Klei­dern, Wä­sche und Schu­hen. Hier ver­sam­mel­ten sich all­nächt­lich in den War­te­sä­len vie­le Ob­dach­lo­se, Ar­beits­lo­se, Hung­ri­ge und Ent­gleis­te.

Geht man vom Bahn­hof aus die brei­te Bau­mal­lee der Bahn­hofs­s­tra­ße ent­lang, so ge­langt man nach we­ni­gen Mi­nu­ten in die Ge­org­stra­ße, die Herzader der Stadt. Ein wei­ter Bou­le­vard, lin­den­über­blüht, vol­ler Bee­te, Gar­ten­an­la­gen, Pa­vil­lons und Denk­mä­ler. Und dort zwi­schen dem al­ten be­rühm­ten Hof­thea­ter und den schö­nen Gar­ten­an­la­gen des so­ge­nann­ten Café Kröp­cke be­fand sich um 1918 ein zwei­tes Zen­trum der Sit­ten­lo­sig­keit: der »Markt der männ­li­chen Pro­sti­tu­ier­ten«, de­ren 500 da­mals in den Po­li­zei­lis­ten ein­ge­schrie­ben stan­den, in­des der Kri­mi­nal­o­be­rin­spek­tor die Ge­samt­zahl der so­ge­nann­ten Ho­mo­se­xu­el­len in Han­no­ver auf na­he­zu 40.000 ver­an­schlag­te. Sie bil­de­ten eine ei­ge­ne klei­ne Welt. In ei­nem der schöns­ten Lo­ka­le der Ka­len­ber­ger Vor­stadt, dem so­gen. Neu­städ­ter Ge­sell­schafts­haus ver­an­stal­te­ten sie Ge­sell­schafts­aben­de und Bäl­le, bei de­nen Kna­ben und Jüng­lin­ge in weib­li­cher Ball­klei­dung den Da­men­flor ver­tra­ten. Ein zwei­ter min­der vor­neh­mer Treff­punkt war der alte Ball­hof, ein Barock­saal aus der Kö­nigs- und Kur­fürs­ten­zeit. Und für die al­ler­un­ters­te Schicht gab es in ei­ner der äl­tes­ten und ver­ru­fens­ten Stra­ßen der Alt­stadt, wel­che »Neue Stra­ße« heißt, ein klei­nes Tanz­lo­kal, ge­nannt »Zur schwu­len Gus­te«, wo nur auf ein be­stimm­tes Zei­chen hin zu­ge­las­sen, les­bi­sche Mäd­chen und gleich­ge­schlecht­lich ge­rich­te­te Män­ner nachts zu­sam­men­ka­men. Aber das drit­te Haupt­zen­trum al­les Lu­der- und Las­ter­le­bens war die ma­le­ri­sche Alt­stadt, dort wo der Fluss an dem so­ge­nann­ten Ho­hen Ufer ent­lang eine von vie­len Brücken über­quer­te, als »Klein-Ve­ne­dig« be­kann­te, ur­al­te In­sel­stadt bil­det: Ver­fal­le­ne Win­kel, Jahr­hun­der­te al­tes Ge­mäu­er, ein trot­zi­ger alt­säch­si­scher Be­gui­nen­turm und ein Ge­wirr von Gie­beln, Fach­werk und bau­fäl­li­gen, noch ans Mit­tel­al­ter mah­nen­den Gas­sen, aus de­ren Mit­te jene Kir­che ragt, in wel­cher Leib­niz be­gra­ben liegt, so­wie der auf dem »Ber­ge«, ei­ner plan­ge­mach­ten Ram­pe, er­bau­te mau­ri­sche Ju­den­tem­pel. Die­ser Stadt­teil, un­mit­tel­bar be­nach­bart dem vom Strom be­spül­ten mäch­ti­gen Schloss der Wel­fen, war einst der vor­nehms­te Stadt­teil, ist aber im Lauf der Zei­ten, ähn­lich der Um­ge­bung des Ber­li­ner Schlos­ses, zum ärms­ten Ka­schem­men- und Ver­bre­cher­vier­tel her­ab­ge­sun­ken. Gleich dem al­ten Hil­des­heim, Braun­schweig und Gos­lar das Ent­zücken für je­des schön­heits­u­chen­de Auge, wur­de die­ses äl­tes­te Han­no­ver die Brut­stät­te licht­lo­ser, ar­mut­gel­ber, in Ver­fall und Mo­der at­men­der, zum Un­glück ver­fluch­ter Ge­schlech­ter. –

Die »Neue Stra­ße« mit dem eins­ti­gen Wohn­haus des Her­zogs Fried­rich Wil­helm von Braun­schweig, dem spä­te­ren Ar­men­haus, zieht sich ent­lang der stei­len Ufer­hö­he des Flus­ses. Die Hin­ter­wän­de ih­rer drei­hun­dert­jäh­ri­gen Häu­ser, ihre Er­ker und Bal­ko­ne stür­zen jäh hin­ab in den Fluss, über des­sen Ufern die grü­num­busch­ten ar­men Höfe und rüh­rend be­schei­de­nen Gärt­chen schwe­ben. Nicht weit da­von, dem Ju­den­tem­pel ge­gen­über, liegt die so­ge­nann­te »Rote Rei­he«; eine Grup­pe mü­der, ein­an­der kaum noch stüt­zen­der mor­scher Häu­ser, in de­ren ei­nem (dem Mord­haus be­nach­bart) einst der Elek­tro­tech­ni­ker Rühm­korff die In­duk­ti­ons­elek­tri­zi­tät ent­deck­te. In die­sem schmut­zi­gen Häu­ser­ge­wirr, auf den seit Jahr­hun­der­ten aus­ge­tre­te­nen elen­den Holz­stie­gen, in Ver­schlä­gen, mehr Kä­fi­gen gleich, nur durch dün­ne Ta­pe­ten­wän­de oder Bret­ter­ver­schlä­ge von­ein­an­der ab­ge­trennt, haus­ten in Deutsch­lands Elends­zeit die Ärms­ten der Ar­men. Die aus dem großen Krie­ge üb­rig­ge­blie­be­ne Ju­gend hat­te die Leh­re be­grif­fen, dass man um ei­nes Rockes, um ei­nes Paar Stie­fel wil­len den Feind tö­ten darf. Und »Feind« ist je­der an­de­re. Auf der »In­sel« war Die­bes­bör­se und Heh­ler­markt. Hier wur­de (in der Spra­che die­ser Hin­ter­welt ge­re­det) all­abend­lich ge­kün­gelt und ge­küt­che­bücht. Hier wur­de Scho­res ge­scho­ben (d.h. Die­bes­wa­re ver­han­delt), wur­de Reb­bes ge­macht, wur­de man­che »hei­ße Sa­che ge­dreht«. Abends, wenn der Mond hing über den mor­schen Dä­chern und grau­en Schlo­ten und den ge­spens­ti­gen schwar­zen Fluss ver­sil­ber­te, kam die schwe­re, dür­re, zer­mürb­te, zer­ar­bei­te­te Lei­dens­mensch­heit aus ih­ren al­ten Käs­ten her­vor und hing und hock­te über der stin­ken­den La­gu­ne, auf der al­ten Brücke: arme, sor­gen­schwe­re, kin­der­rei­che Müt­ter, mü­de­ge­wor­de­ne, früh ver­stumpf­te Män­ner. Und da­zwi­schen wim­mel­te le­bens­gie­rig das jun­ge Volk; die Un­zahl der Gas­sen­dir­nen und ih­rer Zu­häl­ter, »Nep­per«, »St­re­zer«, »Scho­res­ma­cher«, die in der »Kreuz­klap­pe«, im »Klee­blatt«, im »Deut­schen Her­mann« man­che Mis­se­tat bal­do­wer­ten, wäh­rend die rät­sel­haf­ten Ster­ne glit­zer­ten im dunklen Was­ser des in sich selbst ver­sump­fen­den Stro­mes.

Haarmann

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