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Elternhaus und Jugend

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Am 25. De­zem­ber 1921 verstarb, 76 Jah­re alt, in Han­no­ver der »olle Haar­mann«. Man­che Han­no­ve­ra­ner er­in­nern sich noch an das ver­mi­cker­te, gnit­te­ri­sche, zän­ki­sche, im­mer übel­lau­ni­ge und übel­neh­me­ri­sche Männ­lein als an das Ur­bild ei­nes Kra­kee­lers und miss­wol­len­den Pfen­nig­fuch­sers. – – Hin­ter al­len »Schür­zen« war er her. Abend­lich aber ran­da­lier­te oder prahl­te er in den al­ten Pin­ten, Ka­bak­ken und Ka­buffs der Alt­stadt. Schon sein Va­ter war Que­ru­lant und Trin­ker ge­we­sen. Und in der Fa­mi­lie gab es eben­so viel Erb­be­las­te­te wie in Zo­las Fa­mi­lie Rou­gon-Mac­quart. Der »olle Haar­mann« war in sei­ner Ju­gend Lo­ko­mo­tiv­hei­zer; hat­te aber den Dienst, dar­in er für un­zu­ver­läs­sig galt, 1886 ver­las­sen, we­gen ei­nes an­geb­lich im Be­trieb er­lit­te­nen Un­falls, wo­bei sein Lo­ko­mo­tiv­füh­rer zu Tode kam. Er pro­zes­sier­te, ein ty­pi­scher Ren­ten­hys­te­ri­ker, mit der Ei­sen­bahn­di­rek­ti­on, ob­wohl er ei­gent­lich in ganz be­hag­li­chen Ver­hält­nis­sen le­ben konn­te. Denn durch eine Nutz­hei­rat mit ei­ner sie­ben Jah­re äl­te­ren Frau, sei­ner am 5. April 1901 ver­stor­be­nen Ehe­frau Jo­han­ne, geb. Clau­di­us, wa­ren ihm ein paar Häu­ser und ein klei­nes Ver­mö­gen in die Hän­de ge­kom­men, so­dass er in der »Grün­der­zeit« zum wohl­ha­ben­den Bür­ger ge­wor­den, fort­an aus­kömm­lich zu le­ben ver­moch­te. – Er war ein wüs­ter, zän­ki­scher, klein­li­cher, ver­schla­ge­ner Mensch, und sein un­zu­frie­de­nes We­sen wur­de un­leid­li­cher noch, als er, in rei­fen Jah­ren sy­phi­li­tisch ge­wor­den, sei­nen al­ten Frau­en­zim­mer­ge­schich­ten – (bald nach sei­ner Hei­rat schon nahm er mehr­fach Maitres­sen ins Haus) – nicht mehr nach­ge­hen konn­te … Die Mut­ter des Mör­ders war eine ein­fäl­ti­ge, et­was blö­de Per­son, früh ver­braucht, über­al­tert und seit der Ge­burt des sechs­ten Kin­des (eben des Trieb­ver­bre­chers) im­mer bett­lä­ge­rig da­hin­krän­kelnd. Von den sechs Kin­dern wur­de der äl­tes­te Sohn Adolf ein bra­ver klein­bür­ger­li­cher Werk­meis­ter auf der »Con­ti­nen­tal«, or­dent­li­cher Phi­lis­ter und Fa­mi­li­en­va­ter. Der zwei­te Sohn, Wil­helm, wur­de in jun­gen Jah­ren we­gen ei­nes Sitt­lich­keits­de­likts be­straft, be­gan­gen an dem 12­jäh­ri­gen Töch­ter­chen ei­nes be­nach­bar­ten Gast­wirts, und auch die drei Töch­ter, alle drei von ih­ren Män­nern früh ge­schie­den, er­wie­sen sich als leicht auf­ge­reg­te, trieb­be­las­te­te Na­tu­ren. Eine der Schwes­tern, Frau Rü­di­ger, verstarb in den Kriegs­jah­ren. Mit der zwei­ten, Frau Er­furdt, konn­te der Mör­der sich nie recht ver­tra­gen, und nur die Schwes­ter Emma, eine Frau Bur­schel, blieb stets mit ihm ver­bun­den, was aber doch nicht aus­schloss, dass auch die­se bei­den Ge­schwis­ter zwi­schen­durch mit­ein­an­der pro­zes­sier­ten, ja, dass der Bru­der ge­le­gent­lich in dem Zi­gar­ren­la­den der Schwes­ter Dieb­stäh­le und so­gar Ein­brü­che ver­an­stal­te­te, die er nach­her un­ter Trä­nen ab­leug­ne­te oder an­de­ren in die Schu­he schob. – Fried­rich (ge­nannt Fritz), Hein­rich, Karl Haar­mann wur­de am 25. Ok­to­ber 1879 als jüngs­tes Kind ge­bo­ren; die Mut­ter war da­mals 41 Jah­re alt. Aus der frü­he­s­ten Ju­gend wis­sen wir nur (aus Er­zäh­lun­gen der Ge­schwis­ter), dass die­ses Kind von der im­mer kränk­li­chen Mut­ter sehr ver­hät­schelt wur­de. – Für den See­len­for­scher ist es von Wich­tig­keit, dass schon der klei­ne Kna­be in dem Va­ter eine Art Ne­ben­buh­ler sah, wel­chen er hass­te und tot wünsch­te. Durch das gan­ze Le­ben zieht sich die­se Feind­schaft mit dem Va­ter. Die bei­den be­schul­di­gen und be­dro­hen ein­an­der. Der Va­ter droht, den Sohn ins Ir­ren­haus zu brin­gen, der Sohn will den Va­ter (we­gen ei­nes an­geb­li­chen Mor­des an sei­nem Lo­ko­mo­tiv­füh­rer) ins Zucht­haus set­zen. Es kommt im­mer wie­der zu Miss­hand­lun­gen und Schlä­ge­rei­en. Je­der be­haup­tet, dass der an­de­re ihm nach dem Le­ben trach­te, ihn ver­gif­ten wol­le, ihn be­ein­träch­ti­ge. Zwi­schen­durch ver­bin­den sie sich aber auch mal wie­der zu ge­mein­sa­men Be­trü­ge­rei­en oder ent­las­ten ein­an­der vor Ge­richt. Das Ver­hält­nis Haar­manns zur Mut­ter da­ge­gen ist von im­mer glei­cher Schwär­me­rei. Sie ist die ein­zi­ge, von der er Gü­ti­ges zu er­zäh­len weiß und stets mit sen­ti­men­ta­len Ge­füh­len spricht. Im Üb­ri­gen ist die Fa­mi­lie heil­los zer­rüt­tet. Die Ge­schwis­ter pro­zes­sie­ren un­auf­hör­lich. Erst um das Erb­teil der am 5. April 1901 ver­stor­be­nen Mut­ter; spä­ter­hin auch um das vä­ter­li­che Erbe. Aus den An­ek­do­ten, die wir aus den Kin­der­jah­ren Haar­manns er­fah­ren konn­ten, ent­neh­men wir zwei Züge: Ers­tens sei­ne weib­li­chen (»trans­ves­ti­ten«) Nei­gun­gen. Er spiel­te gern mit Pup­pen, mach­te auch weib­li­che Hand­ar­bei­ten und wur­de in Ge­sell­schaft von Kna­ben rot und ver­le­gen. Zwei­tens: sei­ne Nei­gung, Angst und Ent­set­zen in sei­ner Um­ge­bung zu er­re­gen, in­dem er die Schwes­tern fest­band, aus­ge­stopf­te Klei­der­pup­pen auf die Trep­pe leg­te, heim­lich nachts an die Fens­ter klopf­te und Ge­s­pens­ter­furcht er­weck­te. Os­tern 1886 kam er auf die Bür­ger­schu­le 4 am En­gel­bos­te­ler­damm. Die Leh­rer schil­dern das hüb­sche Kind als ver­wöhnt, ver­zär­telt, still, leicht lenk­sam, all­ge­mein be­liebt und ver­träumt. Sein Be­tra­gen war »mus­ter­haft«; aber alle Leis­tun­gen weit un­ter Durch­schnitt. Nach­dem er zwei­mal (1888 und 1890) in der sie­ben­stu­fi­gen Schu­le »sit­zen­ge­blie­ben« war, wur­de er 1894 als Schü­ler der 3. Klas­se in der Chris­tus­kir­che von Pas­tor Har­de­landt kon­fir­miert. Noch nach ei­nem Men­schen­al­ter be­klag­te er sich bit­ter dar­über, dass er bei die­ser Ge­le­gen­heit ein al­tes Ge­sang­buch ge­tra­gen habe, wäh­rend sei­ne Ge­schwis­ter ein neu­es be­kom­men hät­ten. Er soll­te nun Schlos­ser­lehr­ling wer­den, er­wies sich aber als un­brauch­bar, und so gab man ihn mit ei­nem Schub an­de­rer Ka­pi­tu­lan­ten auf die Un­ter­of­fi­zier-Vor­schu­le Neu-Brei­sach. Am 4. April 1895 kam er in Neu-Brei­sach im Breis­gau an: ein kör­per­lich gut ent­wi­ckel­ter, kräf­ti­ger, et­was zu Kor­pu­lenz nei­gen­der, 16­jäh­ri­ger, ge­sun­der Jun­ge mit hüb­schem, re­gel­mä­ßi­gem aber aus­drucks­lo­sem Ge­sicht. Er war ein gu­ter Tur­ner, ein folg­sa­mer Sol­dat; aber am 3. Sep­tem­ber wird er in das Gar­ni­son-La­za­rett über­führt, weil sich plötz­lich »An­zei­chen von geis­ti­ger Stö­rung« bei ihm be­merk­bar mach­ten. Es han­del­te sich um zeit­wei­se Be­wusst­seins­trü­bun­gen (Ab­sen­zen) oder um eine Angst­neu­ro­se. Man führ­te sie auf eine Ge­hirn­er­schüt­te­rung beim Reck­tur­nen zu­rück oder auf einen wäh­rend der Ma­nö­ver­übun­gen er­lit­te­nen Son­nen­stich. Nach 14 Ta­gen wur­de er als ge­sund ent­las­sen, weil nur vor­über­ge­hen­de Hal­lu­zi­na­tio­nen hat­ten fest­ge­stellt wer­den kön­nen. Aber schon am 11. Ok­to­ber muss­te er wie­der­um dem La­za­rett zu­ge­führt wer­den, weil sich bei ihm er­neut eine Stö­rung zeig­te, die im Kran­ken­jour­nal be­zeich­net wur­de als »Epi­lep­ti­sches Äqui­va­lent«. So wur­de er denn am 3. No­vem­ber 1895 als un­ge­heilt in die Hei­mat ent­las­sen, nach­dem er selbst um sei­ne Ent­las­sung ge­be­ten hat­te, »weil es ihm auf der Un­ter­of­fi­zier­schu­le nicht mehr ge­fal­le«. Sein Va­ter, der 1888 eine klei­ne Zi­gar­ren­fa­brik be­grün­det hat­te, woll­te ihn in die­ser be­schäf­ti­gen, aber da der Jun­ge nicht ar­bei­ten moch­te, so kam es nun täg­lich zu neu­en Zän­ke­rei­en zwi­schen Va­ter und Sohn. In­zwi­schen hat­te auch das Ge­schlechts­le­ben des Frü­h­ent­wi­ckel­ten mäch­tig ein­ge­setzt. Nach­dem (of­fen­bar schon im sie­ben­ten Le­bens­jahr) Ge­schlechts­ver­ge­hen auf der Schul­bank den Jun­gen früh ver­dor­ben hat­ten und ihn zum Ver­der­ber für an­de­re Kna­ben wer­den lie­ßen, scheint sei­ne ers­te »Lie­bes­er­fah­rung« die ge­we­sen zu sein, dass eine in der Nach­bar­schaft woh­nen­de 35­jäh­ri­ge mann­weib­li­che Frau­ens­per­son den 16­jäh­ri­gen dazu ver­führ­te, nachts über ein Dach hin­weg durchs Fens­ter bei ihr ein­zu­stei­gen; von da ab setz­ten dann ein: jene fort­wäh­ren­den Sitt­lich­keits­de­lik­te an klei­nen und grö­ße­ren Kin­dern, die durch das gan­ze Le­ben Haar­manns, man könn­te fast sa­gen Tag um Tag, hin­durch ge­hen (und es be­dau­er­lich ma­chen, dass man die­sen Trie­birr­sin­ni­gen nicht nach dem neun­ten oder zehn­ten Trieb­ver­ge­hen ru­hig ka­strier­t hat, wo­durch alle sei­ne spä­te­ren Mord­ta­ten wä­ren ver­hin­dert wor­den). Mit­te Juli 1896 wur­de ein ers­tes Straf­ge­richts­ver­fah­ren ge­gen den 17­jäh­ri­gen ein­ge­lei­tet, weil er in meh­re­ren Fäl­len klei­ne Kin­der in Haus­ein­gän­ge oder in Kel­ler ge­lockt und mit ih­nen un­züch­ti­ge Hand­lun­gen vor­ge­nom­men hat­te. Auf Ent­schluss der Straf­kam­mer wur­de am 6. Fe­bru­ar 1897 der Bur­sche zur Beo­b­ach­tung sei­nes Geis­tes­zu­stan­des in die Pro­vin­zi­al-Heil- und Pfle­gean­stalt Hil­des­heim über­führt. Hier wur­de bei ihm »Geis­tes­krank­heit« (an­ge­bo­re­ner Schwach­sinn) fest­ge­stellt. Er wur­de am 25. März 1897 in Hil­des­heim ent­las­sen und nun­mehr von der Po­li­zei als »ge­mein­ge­fähr­li­cher Geis­tes­kran­ker« dem städ­ti­schen Kran­ken­haus auf der Bult in Han­no­ver zu­ge­führt. Das Straf­ver­fah­ren wur­de auf Grund des § 51 StGB ein­ge­stellt. Im Bult­kran­ken­haus ver­blieb der Schwer­be­las­te­te bis zum 28. Mai 1897. An die­sem Tage wur­de er auf An­trag des Ma­gis­trats Han­no­ver wie­der in die Hil­des­hei­mer Ir­ren­an­stalt ge­bracht, nach­dem durch das Gut­ach­ten des Stadt­arz­tes Dr. Schmal­fuß (den ich als be­son­ne­nen und ge­wis­sen­haf­ten Arzt kann­te), un­heil­ba­rer Schwach­sinn fest­ge­stellt war. In der Ir­ren­an­stalt nun muss der jun­ge Mensch ein »psy­chi­sches Trau­ma«, d.h. eine See­len­ver­ängs­ti­gung er­lit­ten ha­ben, die für sein gan­zes wei­te­res Le­ben ent­schei­dend blieb. Ob­wohl ich Haar­mann als einen Erz­schau­spie­ler ge­kannt habe und nie ge­neigt war, ihm eine An­ga­be mehr als halb zu glau­ben, so glau­be ich ihm doch ohne wei­te­res jene im­mer wie­der­keh­ren­de Angst vor dem Ir­ren­hau­se, die ihn im­mer neu aus­ru­fen ließ: »Köpft mich; aber bringt mich nicht wie­der ins Ir­ren­haus.« – Der Kreis von Le­bens­schma­rot­zern, der in spä­te­ren Jah­ren den mo­no­ma­nen Trie­birr­sinn des Un­se­li­gen aus­nutz­te und gleich­sam auf den Spu­ren die­ses Wer­wolfs sein Le­ben fris­te­te wie Hyä­nen auf Spu­ren des Pan­thers, hat­te un­be­dingt Ge­walt über Haar­mann, so bald man ihn nur mit der Dro­hung ein­schüch­ter­te: »Wir brin­gen dich ins Ir­ren­haus.« Schon am 13. Ok­to­ber ge­lang es ihm, ge­le­gent­lich ei­ner Gar­ten­ar­beit aus dem Ir­ren­hau­se zu ent­wei­chen. Aber fünf Tage spä­ter wur­de er in sei­ner el­ter­li­chen Woh­nung er­grif­fen und nach Hil­des­heim zu­rück­ge­bracht. Aber von nun ab lau­er­te er nur auf Ge­le­gen­heit, wie­der aus­zu­bre­chen. Sie bot sich, als man ihn Weih­nach­ten nach der Idio­ten­an­stalt in Lan­gen­ha­gen ver­setz­te; zwei Tage spä­ter, am 25. De­zem­ber 1897 – wäh­rend der Lich­ter­baum brann­te – war er ent­wi­chen. Er flüch­te­te – an­schei­nend mit Hil­fe der El­tern – in die Schweiz, wo ein Ver­wand­ter der Mut­ter in der Nähe von Zü­rich als Kunst­ma­ler leb­te. Un­er­klär­lich frei­lich ist es, wie es ihm ge­lang, von der Po­li­zei ein Un­be­schol­ten­heits­zeug­nis zu er­hal­ten.

Von Mai 98 bis März 99 ar­bei­te­te er erst als Hand­lan­ger auf ei­ner Schiffs­werft, dann beim Apo­the­ker Dü­ren­ber­ger in Zü­rich. Im April 99 kehr­te er nach Han­no­ver zu­rück, wo in­zwi­schen sein Ent­wei­chen in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten war. Er war jetzt 20 Jah­re alt …

Wie­der be­gann das alte Lun­ger­le­ben. Der Va­ter ver­such­te, ihn in sei­ner Zi­gar­ren­fa­brik zu be­schäf­ti­gen. Der Sohn zeig­te sich ar­beits­scheu. Va­ter und Sohn schlu­gen sich; die schwa­che, vom Mann un­ter­drück­te Mut­ter trat ohne rech­ten Rück­halt für den Jun­gen ein. In ei­nem dem al­ten Haar­mann ge­hö­ri­gen Haus in der Burg­stra­ße wohn­te ein Ar­bei­ter na­mens Loe­wert. Sei­ne Toch­ter Erna, ein der­bes, blon­des Mäd­chen, grob und hübsch, wur­de Haar­manns »Braut«; Weih­nach­ten 1899 ver­lob­ten sie sich förm­lich, mit Ein­stim­mung der bei­den Fa­mi­li­en, die von die­ser fes­ten Bin­dung eine Hei­lung für das Her­um­strei­cher­tum des jun­gen Man­nes er­hoff­ten. Die­ses Lie­bes­ver­hält­nis dau­er­te drei Jah­re. Die Erna Loe­wert wur­de die nächs­te Freun­din der Schwes­tern Haar­mann. Sie wur­de im Jah­re 1901 von dem 23­jäh­ri­gen Bur­schen schwan­ger; aber das Kind wur­de durch eine Heb­am­me ab­ge­trie­ben. Im Ok­to­ber 1900 er­hielt Haar­mann einen Ge­stel­lungs­be­fehl. Er un­ter­brach sein ar­beits­scheu­es He­rum­trei­ber­le­ben, um aber­mals Sol­dat zu wer­den. Am 12. Ok­to­ber 1900 wur­de er als Er­satz­re­krut beim Jä­ger­ba­tail­lon 10 in Bitsch bei Col­mar ein­ge­stellt. Von die­ser Zeit sprach er stets als von der schöns­ten sei­nes Le­bens. Sei­ne Vor­ge­setz­ten wa­ren mit ihm zu­frie­den. Haupt­mann v. Gott­berg nahm ihn zum Bur­schen. Leut­nant Fi­scher lob­te ihn als »den bes­ten Schüt­zen in der Kom­pa­nie«. In die­se Mi­li­tär­dienst­zeit fiel der Tod sei­ner Mut­ter, zu de­ren Be­er­di­gung er Os­tern 1901 nach Han­no­ver in Ur­laub fuhr. Der Va­ter woll­te jetzt den Ver­kehr mit der Erna Loe­wert nicht mehr lei­den und schrieb, um das Ver­hält­nis zu hin­ter­trei­ben, an den Ba­tail­lons­kom­man­deur nach Bitsch; aber man hat­te kei­nen An­lass, den dienst­wil­li­gen Sol­da­ten zu ta­deln, bis im Ok­to­ber die Ma­nö­ver ka­men und bei ei­nem an­stren­gen­den Marsch Haar­mann zu­sam­men­brach, wo­nach Schwin­del­an­fäl­le und Schwä­che­zu­stän­de ein­tra­ten, in­fol­ge de­ren er am 4. De­zem­ber we­gen »Neu­r­asthe­nie« ans Gar­ni­son­la­za­rett in Bitsch über­wie­sen wur­de. Hier soll ein jun­ger Stabs­arzt sich für den hüb­schen Jun­gen un­ge­bühr­lich in­ter­es­siert ha­ben. Er blieb län­ger als vier Mo­na­te im La­za­rett. Da man aus sei­nem Lei­den nicht klug wer­den konn­te, so wur­de er am 14. Mai 1902 nach Straß­burg ins Gar­ni­son­la­za­rett I auf die Sta­ti­on für Ner­ven­kran­ke über­führt. Und dort wur­de Fol­gen­des fest­ge­stellt: »Es liegt ein schon lan­ge be­ste­hen­der In­tel­li­genz­de­fekt vor, der aber nur bei sys­te­ma­ti­scher Prü­fung zu Tage tritt, da im Üb­ri­gen Haar­mann durch­aus kei­nen schwach­sin­ni­gen Ein­druck macht. Mit höchs­ter Wahr­schein­lich­keit ist an­zu­neh­men, dass er im Jah­re 1895 an He­be­phre­nie (Ju­gen­dirr­sinn) er­krank­te, dass sich hieran ein er­heb­li­cher Schwach­sinn an­schloss, der eine an­ge­bo­re­ne Idio­tie vor­täusch­te, wor­auf all­mäh­lich wie­der eine ge­wis­se Bes­se­rung ein­trat. Haar­mann ist we­gen über­stan­de­ner Geis­tes­krank­heit, die einen ge­wis­sen Schwach­sinn hin­ter­las­sen hat, für dienstun­brauch­bar und teil­wei­se er­werbs­un­fä­hig zu be­trach­ten.« – Beim Ge­ne­ral­kom­man­do des 15. Ar­mee­korps in Straß­burg wur­de an­ge­nom­men, dass das frü­her bei Haar­mann be­ste­hen­de Lei­den durch den Mi­li­tär­dienst, ins­be­son­de­re durch die An­stren­gun­gen bei den Herb­st­übun­gen 1901 er­heb­lich ver­schlim­mert wor­den sei. Durch Ver­fü­gung vom 23. Juli 1902 wur­de er dem­ge­mäß »auf Grund in­ne­rer Dienst­be­schä­di­gung als dau­ernd gan­zin­va­li­de, zei­tig teil­wei­se er­werbs­un­fä­hig und dau­ernd un­taug­lich zur Ver­wen­dung im Zi­vil­dienst an­er­kannt«. Er wur­de so­dann am 28. Juli vom Jä­ger­ba­tail­lon in Bitsch ent­las­sen. In der Über­wei­sungs­na­tio­na­le ist sei­ne Füh­rung als »recht gut« be­zeich­net. – Er be­zog von nun an eine mi­li­tä­ri­sche Ren­te, die mo­nat­lich 21 Mark be­trug. Er zog nun­mehr zu sei­ner in Han­no­ver woh­nen­den Schwes­ter, Frau Bur­schel. Und wie­der be­gann der alte Kriegs­zu­stand mit dem Va­ter. Er ver­klag­te die­sen (1902) auf Ge­wäh­rung von Un­ter­halt, da er we­gen sei­nes Ner­ven- und Herz­lei­dens au­ßer­stan­de sei, re­gel­mä­ßig zu ar­bei­ten und von sei­ner mi­li­tä­ri­schen Ren­te nicht le­ben kön­ne. Der Va­ter wen­de­te ein, dass der Sohn sei­ne Krank­heit nur vor­ge­täuscht habe, um vom Mi­li­tär frei kom­men und sein Ver­hält­nis mit der Erna Loe­wert fort­set­zen zu kön­nen. Er sei ganz ge­sund und nur zu trä­ge, um re­gel­mä­ßig zu ar­bei­ten. Haar­mann wur­de denn auch mit sei­ner Kla­ge auf Un­ter­halt ab­ge­wie­sen. Aber nun­mehr wur­de das Ver­hält­nis zum Va­ter vollends un­er­träg­lich. Im Fe­bru­ar 1903 er­stat­te­te der Va­ter bei der Staats­an­walt­schaft An­zei­ge, dass Haar­mann ihn und sei­ne Ge­schwis­ter mit Tot­schlag be­droht, ihn der Er­mor­dung des Lo­ko­mo­tiv­füh­rers Schrö­der be­zich­tigt und von sei­nem Bru­der Adolf habe Geld er­pres­sen wol­len. Gleich­zei­tig be­an­trag­te er (ei­gent­lich im Wi­der­spruch zu der frü­he­ren An­ga­be, dass der Sohn sei­ne Krank­heit nur vor­täu­sche) den Haar­mann als ge­mein­ge­fähr­li­chen Geis­tes­kran­ken in eine Ir­ren­an­stalt un­ter­zu­brin­gen. Das Ver­fah­ren wur­de ein­ge­stellt, weil die An­ge­hö­ri­gen bei ih­rer po­li­zei­li­chen Ver­neh­mung die Be­haup­tun­gen des Va­ters nicht be­stä­tig­ten. Der Sohn dreh­te nun den Spieß um und ver­klag­te den Va­ter we­gen wis­sent­lich falscher An­schul­di­gung, wor­auf nun­mehr wie­der die Ge­schwis­ter bei ih­rer ge­richt­li­chen Ver­neh­mung die An­ga­ben des Va­ters be­stä­tig­ten, so­dass auch dies Ver­fah­ren er­geb­nis­los ein­ge­stellt wer­den muss­te. Auf Grund der in der An­zei­ge des Va­ters ent­hal­te­nen An­ga­ben über die Ge­mein­ge­fähr­lich­keit des Soh­nes ver­an­lass­te aber nun­mehr das Po­li­zei­prä­si­di­um in Han­no­ver eine Un­ter­su­chung durch den Kreis­arzt Dr. An­drae. Die­ser er­stat­te­te am 14. Mai 1903 sein Gut­ach­ten. Es kam dar­auf hin­aus, dass »Haar­mann zwar mo­ra­lisch min­der­wer­tig, we­nig in­tel­li­gent, trä­ge, roh, leicht reiz­bar, rach­süch­tig und gänz­lich egois­tisch, nicht aber im ei­gent­li­chen Sinn ›geis­tes­krank‹ sei, so­dass kein An­lass be­ste­he, ihn von Amts we­gen in eine Ir­ren­an­stalt un­ter­zu­brin­gen«. Dem­ge­mäß wur­de da­von Ab­stand ge­nom­men. So war denn der Wolf (24 Jah­re alt) auf die mensch­li­che Ge­sell­schaft los­ge­las­sen.

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