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Stellung zur Polizei

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Das Schau­er­ge­mäl­de der Jah­re 1918-1924 wird sich uns im Lau­fe des Pro­zes­ses ent­hül­len. Um aber das Un­ge­heu­er­li­che der äu­ße­ren Mög­lich­keit nach zu be­grei­fen, müs­sen wir uns vor­weg er­in­nern an jene Rechts- und Po­li­zei­zu­stän­de, die ge­gen Ende des fünf­jäh­ri­gen Völ­ker­mor­dens fast in ganz Eu­ro­pa herrsch­ten; in je­nen Ta­gen, wo mehr als eine Mil­li­on Men­schen un­ter den Au­gen der »Kul­tur­mensch­heit« glatt­weg ver­hun­ger­te. Deutsch­land hat­te kein Heer. Die pro­le­ta­ri­sche Ju­gend, auf­ge­regt, ver­wil­dert, und jah­re­lang aufs un­ver­ant­wort­lichs­te ir­re­ge­lei­tet und miss­braucht, ent­behr­te plötz­lich der Hem­mung und Füh­rung. Das ge­schla­ge­ne Volk schlug zu­rück. Der po­li­ti­sche Mord wur­de zur Ge­wohn­heit. Die durch den Ver­trag von Ver­sail­les be­schränk­te Po­li­zei­macht (Schutz-, Si­cher­heits- und Kri­mi­nal­po­li­zei) konn­te mit den aus lan­gem Kriegs­le­ben Zu­rück­keh­ren­den, der bür­ger­li­chen Seß­haf­tig­keit ent­wöhn­ten ver­bre­che­ri­schen Ele­men­ten nicht fer­tig wer­den. Die un­te­re Po­li­zei­mann­schaft, nach der 4. bis 7. Ge­halts­klas­se be­sol­det, Män­ner, die mehr­mals in der Wo­che die Näch­te bis früh 4 Uhr auf der Stra­ße zu­brin­gen und dann doch schon wie­der ge­gen 9 Uhr auf dem Büro sein müs­sen, war so jäm­mer­lich be­zahlt, dass sie für jede kleins­te Hil­fe und für je­des Ge­schenk, so­gar aus Ver­bre­cher­hän­den, im­mer emp­fäng­li­cher wur­de. Man ver­lang­te von die­sen mit Recht ver­bit­ter­ten, nur we­nig ge­bil­de­ten Su­bal­tern­be­am­ten Über­mensch­li­ches. Das ge­sam­te Un­zuchts­de­zer­nat der Kri­mi­nal­po­li­zei in Han­no­ver be­stand zu Haar­manns Zei­ten aus 12 Kri­mi­nal­be­am­ten und ei­nem Kom­missar, wel­che un­ge­fähr 4000 von Pro­sti­tu­ti­on le­ben­de Frau­en (wo­von nur 400 ein­ge­schrie­be­ne Dir­nen sind) und min­des­tens 300 männ­li­che Pro­sti­tu­en­ten zu über­wa­chen hat­ten. Für die Nach­for­schung und das Wie­der­er­mit­teln von »Ver­miss­ten« war (und ist) vom Staat eine so lä­cher­lich ge­rin­ge Geld­sum­me zur Ver­fü­gung ge­stellt, dass schon um der Kos­ten wil­len eine wirk­lich gründ­li­che Su­che nach ver­schwun­de­nen Per­so­nen nicht ein­set­zen konn­te. Dort, wo von Haar­manns Op­fern die Spu­ren ge­fun­den wur­den, ge­sch­ah das fast im­mer durch Pri­vat-De­tek­ti­ve oder durch die nach­for­schen­den An­ge­hö­ri­gen selbst. Die Schuld lag also zwei­fel­los am Sys­tem, nicht an den ein­zel­nen Be­am­ten. Es ist aber klar, dass ge­ra­de in sol­chen ver­wil­der­ten Ta­gen die Si­cher­heits-, Schutz- und Kri­mi­nal­be­hör­den auf die Mit­hil­fe des »Pub­li­kums« an­ge­wie­sen sind und dass sie, wenn kei­ner ih­nen hilft und je­der nur mit sich und dem ei­ge­nen Elend be­schäf­tigt ist, sich aus der Ver­bre­cher­welt sel­ber ihre Hel­fer her­an­zie­hen müs­sen. Man be­zeich­net sol­che Hel­fer als Spit­zel, Zu­trä­ger, Acht­gro­schen­jun­gen, Pro­vo­ka­teu­re und Vi­gi­lan­ten. Sie spie­len die Rol­le der Spio­ne im Krie­ge. Man be­nutzt sie und ver­ach­tet sie. Haar­mann nun wur­de von der Po­li­zei in den Jah­ren 1918 bis 1924 be­stän­dig zu Spit­zel­diens­ten her­an­ge­zo­gen und er­wies sich in vie­len schwie­ri­gen Fäl­len – (bei der Aus­he­bung ei­ner Ver­bre­cher­ban­de, die falsches Geld her­stell­te; bei der Auf­de­ckung ei­nes Dieb­stahl­es von Treib­rie­men; ja so­gar beim Auf­spü­ren von ver­miss­ten Per­so­nen) – als sehr ver­wend­bar und nütz­lich. Wir wer­den se­hen, wie die­ser Mann in bei­den Wel­ten da­heim war, bald ein­mal der Po­li­zei einen sei­ner Buhl­jun­gen oder Kum­pa­ne in die Hän­de spiel­te, bald ein­mal wie­der sei­ne Be­zie­hun­gen zu den Po­li­zei­or­ga­nen zu­guns­ten der Ver­bre­cher­welt und vor al­lem zu­guns­ten sei­ner ei­ge­nen, in tiefs­ter Heim­lich­keit wu­chern­den Mord­wol­lust be­nutz­te. Na­he­zu alle sei­ne Ver­bre­chen wur­den da­durch mög­lich, dass er für das nai­ve Volk (das in Deutsch­land den Po­li­zei­be­am­ten für eine Art rich­ter­li­che Per­son hält) und zu­mal für die un­er­fah­re­ne Ju­gend zwi­schen 14 und 18, die er zu ver­füh­ren pfleg­te, eine amt­li­che Ver­trau­ens­per­son war. Er durch­forsch­te fast Nacht um Nacht die War­te­sä­le des Bahn­hofs, die er (ganz gleich, ob nun dank ei­nes nicht-of­fi­zi­el­len oder (wie eine große Rei­he von Zeu­gen aus­sa­gen) dank ei­nes of­fi­zi­el­len Po­li­zei­aus­wei­ses) je­der­zeit be­tre­ten konn­te, ob­wohl sie sonst nur von Rei­sen­den, die eine Fahr­kar­te vor­wie­sen, zur Nacht­zeit be­sucht wer­den durf­ten. Er konn­te auch un­ge­hin­dert je­der­zeit durch die Bahn­sper­ren ge­hen, da die Be­am­ten ihn kann­ten und ihm Ehr­be­zeu­gun­gen er­wie­sen. Er mach­te sich an durch­rei­sen­de oder auf dem Bahn­hof sich um­her­trei­ben­de jun­ge Men­schen her­an, durch­mus­ter­te ihre Per­so­nal­aus­wei­se, be­frag­te sie nach dem Ziel der Rei­se, mach­te ge­le­gent­lich die auf dem Bahn­hof ein­ge­stell­te Be­hör­de (Bahn-, Si­cher­heits- und Kri­mi­nal­wa­chen) auf Ver­däch­ti­ges oder Ver­däch­ti­ge auf­merk­sam; ja, es ist vor­ge­kom­men, dass er sel­ber auf der Bahn­hofs­wa­che Te­le­fon­ge­sprä­che führ­te und Ver­hö­re auf­nahm. Sol­chen Jun­gen, die ihm wohl­ge­fie­len (Ob­dach­lo­sen, ent­lau­fe­nen Für­sor­ge­zög­lin­gen, Ar­beits­lo­sen) bot er ger­ne Es­sen, Ar­beit und Woh­nung an, be­hielt sie eine oder auch meh­re­re Näch­te bei sich, ver­führ­te sie zu Ge­schlechts­ver­ge­hen und tö­te­te die schöns­ten im nach­tum­grau­ten Sin­nen­rausch. Da er alle Be­reit­schaf­ten kann­te, das Fahn­dungs­blatt las, die Raz­zi­en vor­aus­wuss­te und über­haupt wie ein Zu­ge­hö­ri­ger zur Kri­mi­nal­po­li­zei ob­wal­te­te, so hat­te er es leicht, sol­che Lieb­lin­ge, die sel­ber ir­gen­det­was aus­ge­fres­sen hat­ten, in sei­nen Schutz zu neh­men und vor der Po­li­zei zu de­cken, wäh­rend um­ge­kehrt dort, wo er ge­reizt, ge­hän­selt oder nicht ernst ge­nom­men wur­de, er die Jüng­lin­ge dem Wei­bel in die Fin­ger spiel­te und »ver­schütt ge­hen« ließ. Die­ser Tat­be­stand, dass Haar­mann die Po­li­zei nutz­te, so wie er sel­ber zu oft recht bil­li­gen Lor­bee­ren von den klei­ne­ren Be­am­ten ge­nutzt wur­de, ist bei dem gan­zen Kri­mi­nal­fall mit still­schwei­gen­der Übe­rein­kunft al­ler Be­hör­den ver­schlei­ert wor­den; ähn­lich wie man das un­ge­heu­re Spio­na­ge- und Lü­gen­sys­tem der Kriegs­jah­re all­ge­mein ver­schlei­ert. Es ge­schieht gar nicht sel­ten, dass eine zum Hä­scher­dienst be­nutz­te Ver­bre­cher­per­sön­lich­keit je­dem ein­zel­nen Mit­glie­de der Be­hör­de recht gut be­kannt ist, dass aber, wenn der Mann sei­ne Be­zie­hun­gen miss­braucht, die In­sti­tu­ti­on von ihm ab­rückt und in der Öf­fent­lich­keit er­klärt: »Die Stel­lung des Man­nes war nicht amts­förm­lich; er be­zog kei­nen Sold; er führ­te kei­ne amt­li­chen Aus­wei­se«, kurz, die Be­hör­de kennt ihn gar nicht. Spit­zel, Auf­pas­ser, Zu­trä­ger, Vi­gi­lan­ten sind eben nie­mals »of­fi­zi­ell«. Und es gibt zahl­lo­se klei­ne Ge­fäl­lig­kei­ten zwi­schen Be­hör­den und Ver­bre­cher­welt, die viel ge­wag­ter und ge­fähr­li­cher sind, als ein ehr­li­cher Sold. Das Wort »Be­hör­de« ist eben nur ein Ge­dan­ken­wort; da­hin­ter ste­hen Men­schen und ihre Men­sch­lich­kei­ten. – Die Wahr­heit ist, dass das Trei­ben Haar­manns zwi­schen 1918 und 1924 ge­ra­de nur dar­um mög­lich war, weil er un­ter be­stän­di­ger Po­li­zei­auf­sicht stand und weil von ei­nem so all­ver­trau­ten, all­ge­mein be­lieb­ten und täg­lich mit al­len Po­li­zei­per­so­nen freund­schaft­lich ver­keh­ren­den Man­ne man zwar alle er­denk­li­chen sitt­li­chen Las­ter, ganz si­cher aber nie einen tief ver­bor­ge­nen Mord­wahn­sinn ver­mu­te­te. Woll­te auch ich die­sen Punkt hier ver­schlei­ern, so wäre es mir un­mög­lich, den Kri­mi­nal­fall auf­zu­klä­ren. Wir müs­sen ge­ra­de die­sen Um­stand: die Po­li­zei­funk­ti­on des Haar­mann, scharf her­aus­stel­len.

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