Читать книгу Haarmann - Theodor Lessing - Страница 18

Zur Seelenkunde

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Wir ha­ben ge­hört, dass im Juni 1919 der han­no­ver­sche Ge­richts­arzt den Haar­mann für »zu­rech­nungs­fä­hig« und »ver­ant­wort­lich« er­klär­te. Die­ses Gut­ach­ten steht in merk­wür­di­gem Wi­der­spruch zu ei­nem an­de­ren, wel­ches der Ner­ven­arzt Dr. Bartsch am 18. De­zem­ber 1922 über Haar­mann an das Ver­sor­gungs­amt der Stadt Han­no­ver er­stat­te­te. Haar­mann war da­mals be­züg­lich Fort­be­zugs oder Er­hö­hung sei­ner In­va­li­den­ren­te vom Ver­sor­gungs­amt dem ge­nann­ten Arzt zur Un­ter­su­chung zu­ge­sandt wor­den, und die­ser stell­te fest (al­ler­dings nach ei­ner nur kur­z­en Un­ter­re­dung und In­tel­li­genz­prü­fung) einen »hoch­gra­di­gen Schwach­sinn«; ja, reg­te an, den Bru­der Haar­manns zu ver­an­las­sen, den Schwach­sin­ni­gen zu ent­mün­di­gen. Die Ge­richtssach­ver­stän­di­gen im spä­te­ren Pro­zess (die zwei han­no­ver­schen Ge­richt­särz­te und der Or­di­na­ri­us für Psych­ia­trie in Göt­tin­gen) ha­ben es wahr­schein­lich zu ma­chen ver­sucht, dass die Gut­ach­ten der Ir­ren­ärz­te in Hil­des­heim und Lan­gen­ha­gen von 1899, jene der Mi­li­tärärz­te von 1898 und 1902 und end­lich auch das Gut­ach­ten des Dr. Bartsch von 1922 auf Grund »hys­te­ri­scher Si­mu­la­tio­nen« zu­stan­de ge­kom­men sei­en, in­dem Haar­mann das ei­ne Mal das Be­stre­ben hat­te, vom Mi­li­tär­dienst los­zu­kom­men, das an­de­re Mal das Be­stre­ben, eine mög­lichst hohe Ren­te her­aus­zu­pres­sen. – Al­les Ge­fra­ge nach »Zu­rech­nungs­fä­hig­keit«, »Verant­wort­lich­keit«, »Irr­sinn« blei­be nun hier zu­nächst ganz da­hin­ge­stellt! Der Le­ser sei ge­warnt, ver­wi­ckel­te Din­ge so ein­fach, ein­fa­che sich so ver­wi­ckelt zu den­ken, wie das die auf Ein­glie­de­rung und »kli­ni­sche Bil­der« ver­ses­se­ne, mit sehr schwer be­stimm­ba­ren und oft schnell wie­der ver­al­ten­den grie­chisch-la­tei­ni­schen Ora­kel­wor­ten (schi­zo­phren, zi­klo­thym, hys­te­risch, he­be­phre­nisch usw.) ar­bei­ten­de me­di­zi­ni­sche Psy­cho­lo­gie un­ver­meid­lich tun muss. Die Tat­sa­che, dass alle Re­gun­gen des lo­gi­schen Ober­bau­es ta­del­los in Ord­nung sind, schließt nicht aus, dass die ge­sam­te see­li­sche Un­ter­welt ohne jede Zu­sam­men­hangs­mög­lich­keit mit Ver­nunft oder Ein­sicht ihr ei­ge­nes voll­kom­men kran­kes Le­ben führt. Er­kran­kun­gen sind nicht im­mer von po­si­ti­ver Na­tur. Sie kön­nen oft nur als »Aus­falls­er­schei­nun­gen« oder als »Ve­rein­ze­lun­gen« (Dis­so­zia­ti­on) er­spürt wer­den. Auch die Tat­sa­che, dass ein Mensch Irr­sinn oder Schwach­sinn si­mu­lier­t, oder sich in Krank­hei­ten hin­ein­flüch­tet, schließt nicht aus, dass er nicht zu­gleich doch wirk­lich irr­sin­nig oder schwach­sin­nig ist, und zwar kann eben­so­wohl (wie bei Ham­let) ein ge­spiel­ter Irr­sinn einen wirk­li­chen über­de­cken, wie auch just das Spie­len der Krank­heit ge­ra­de die wirk­li­che Krank­heit sein kann. Ja, die Ver­fil­zung und Über­schnei­dung wirk­li­cher und bloß ge­spiel­ter Er­leb­nis­rei­hen pflegt selbst im ein­fäl­tigs­ten Trieb­we­sen weit ver­wi­ckel­ter zu lie­gen, als wir das ah­nen. Um da­her das Fol­gen­de wirk­lich zu ver­ste­hen und so zu ver­ste­hen, dass es auch nach hun­dert Jah­ren (wo un­se­re ge­sam­te heu­ti­ge Psych­ia­trie und wis­sen­schaft­li­che Psy­cho­lo­gie ver­al­tet sein wird) noch ei­ni­ge Gül­tig­keit be­hält, müs­sen wir uns ver­ein­ba­ren, bloß See­le zu See­le, uns ein­zu­füh­len und »mit­zuah­men«, aber alle vor­zei­ti­gen For­mu­lie­run­gen und wis­sen­schaft­li­chen Er­klä­run­gen streng zu ver­mei­den. Dazu aber ist auch dies er­for­der­lich, dass wir kei­ne »Ana­lo­gi­en« und »Par­al­le­len« zu dem merk­wür­digs­ten Kri­mi­nal­fall un­se­rer Tage auf­su­chen. Vor al­lem mei­de man das un­er­träg­li­che »se­xu­al­pa­tho­lo­gi­sche« Ge­schwätz über »Sa­dis­mus«, »Ma­so­chis­mus« und dergl. Mit dem Kri­mi­nal­fall des Mar­quis de Sade (wel­cher eine wi­der­na­tür­li­che Lust am Quä­len zeig­te; von dem Blu­te grau­sam ge­mar­ter­ter Kin­der sich hei­ße Bä­der be­rei­ten ließ u. a. m.) hat der hoch­not­pein­li­che Fall des Haar­mann nicht die min­des­te Ver­wandt­schaft, da bei Haar­mann nicht die Macht­wut des an­de­requä­lens, son­dern schlecht­hin nur das Tö­ten im Ge­schlechts­rausch und schließ­lich die dunkle Heim­lich­keit des Zer­rei­ßens und Ver­schlin­gens über­haup­t zur über­wer­ti­gen Trieb­bal­lung ge­wor­den ist. An­de­res stär­ke­res Le­ben ver­nich­ten oder sich von an­de­rem stär­ke­ren Le­ben ver­nich­ten las­sen; sich sel­ber hin­zu­ge­ben an den Tod oder tö­tend das an­de­re sich ein­zu­ver­lei­ben, Fres­sen und Ge­fres­sen­wer­den, das sind die bei­den po­la­ren Ach­sen des ge­sam­ten kos­mi­schen Le­ben­spie­les, und es ist nicht viel da­mit er­klärt, wenn man im Schwen­gel­spiel ero­ti­scher Wil­lens­ge­wal­ten bald den einen, bald den an­de­ren Pol in ein­sei­ti­ger Über­stei­ge­rung ent­ar­tet fin­det. Will man aber durch­aus für das auf den fol­gen­den Blät­tern Nie­der­ge­leg­te eine vor­läu­fi­ge For­mel, so er­in­ne­re man sich an die ur­al­ten ger­ma­ni­schen My­then von dem in Wolfs­ge­stalt mensch­ge­wor­de­nen »Ur­bö­sen«; an die Sa­gen vom Wer­wolf (dem ro­man. loup­ga­ron, den an­gel­sächs. were­wolfes), dem »ku­gel­fes­ten«, nur ge­gen hei­li­ge Hän­de wehr­lo­sen Un­hold, der ver­flucht ist, Kin­dern die Keh­le durch­bei­ßen und sie zer­flei­schen zu müs­sen. An ver­ges­se­ne Mä­ren der Ur­zeit den­ke man, von El­sen, Al­pen, Lu­ren, von Dra­chen, Sau­ri­ern, Leo­par­den­menschen, von Wen­de­häu­tern, Suc­cu­bi und In­cu­bi. Man den­ke an den gei­len Blut­schink, der noch heu­te haust im Paz­nau­ner­tal, all­nächt­lich dem See ent­stei­gend und nach Op­fern su­chend, de­nen er das Blut aus­saugt. Man den­ke an den Nacht­mahr un­se­rer Wäl­der, die blut­dürs­ti­ge Lu­dak der Fin­nen und Lap­pen. Ly­kan­thro­pen nann­te die an­ti­ke Welt sol­che Mord­we­sen. Mit ei­nem sol­chen Fall von Ly­kan­thro­pie ha­ben wir im fol­gen­den uns zu be­fas­sen. Es ist sehr merk­wür­dig, dass in den­sel­ben Ta­gen, wo der Kri­mi­nal­fall Haar­mann ver­han­delt wur­de, noch ein zwei­ter Fall von An­thro­po­pha­gie (Trieb­kan­ni­ba­lis­mus) ans Ta­ges­licht kam. In ei­nem von meh­re­ren Par­tei­en be­wohn­ten Wohn­haus nahe der Stadt Müns­ter­berg, an der Stre­cke Bres­lau-Glatz in Schle­si­en, leb­te durch lan­ge Jah­re der Land­wirt Karl Den­ke, ein als frömms­ter Kir­chen­gän­ger des Spren­gels1 be­kann­ter und ge­ehr­ter Ein­sied­ler, 54 Jah­re alt. Am 20. De­zem­ber 1924 sprach ein vor­über­ge­hen­der Hand­werks­bur­sche, na­mens Vin­cenz Oli­ver, den Mann um eine Gabe an und wur­de ein­ge­la­den, ins Haus zu kom­men. Als er am Ti­sche Platz ge­nom­men hat­te, wur­de er plötz­lich von Den­ke mit ei­ner Spitz­ha­cke über­fal­len, doch ge­lang es ihm, zu ent­kom­men. Nun­mehr wur­de Den­ke in Schutz­haft ge­nom­men, er­häng­te sich aber im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis. Da­rauf nahm die Po­li­zei eine Haus­su­chung im Ge­höft des Den­ke vor. Man fand zahl­rei­che Pa­pie­re von ver­schwun­de­nen Hand­werks­bur­schen, so­wie in der Scheu­er Töp­fe mit gepö­kel­tem Fleisch, das von den Ge­richt­särz­ten ein­wand­frei als Men­schen­fleisch fest­ge­stellt wur­de. – Man konn­te fest­stel­len, dass der Mann seit min­des­tens 20 Jah­ren sehr vie­le Men­schen, Mäd­chen und Jüng­lin­ge, tö­te­te, aß, ver­schlang oder ihr Fleisch auf Märk­ten ver­kauf­te.

1 Wir­kungs­be­reich ei­nes Bi­schofs <<<

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